Neue Musik: Veröffentlichungen der Woche

Fantastisch! Obwohl das einzig Verbindende auf diesem Album die Heterogenität ist, reißt es einen sofort vom Hocker: Dieser Parforceritt durch Jazz, Blues, Pop, Elektro, Beat, Soul - und was weiß ich noch alles - lässt Musikconnaisseure auch nach dem 20. Durchhören noch Aufregendes und Neues entdecken. Nachdem sich Sängerin Lisa Bassenge in den letzten sieben Jahren hauptsächlich einem Jazztrio widmete, war dieses Album mit ihrer Ex-Band lange überfällig. Auf "Wish I Was Here" korrespondieren nicht nur elektronische Beats und Surfgitarren mit Bassenges charismatischer Stimme - da werden auch Streicher und widerspenstige Rhythmusmaschinen eingespielt. Sogar an ein Julie-Driscoll-Cover ("Save Me") hat sich die Band gewagt - von Billie Holiday über Madonna bis zu den Beatles wird fast alles zitiert, was gute Musik zeitlos macht. Mitproduziert hat der Tindersticks-Sänger Stuart Staples, am Schlagzeug sitzt der Air-Drummer Earl Harvin. Dass diese Platte live in einem Neuköllner Hinterhofstudio eingespielt wurde, will man kaum glauben. Damit jedoch bewahrheitet sich erneut eine uralte Weisheit: Anspruchsvolle, stilvolle und trotzdem mitreißende Musik hat nichts mit finanziell überbordenden Produktionsbedingungen zu tun.

Von Johannes Ockeghem und Pierre de La Rue stammen die ältesten - bislang bekannten - mehrstimmigen Requiemvertonungen. Keinesfalls sollten die noch nicht kanonisierten Totenmessen durch prachtvolle Entfaltung ihrer Tonkunst von den traurigen Anlässen ablenken, für die sie gedacht waren. Die beiden Großmeister brachen dieses Tabu sehr vorsichtig: Trotz ihrer Mehrstimmigkeit sind die Stücke sehr streng und zurückhaltend ausgeführt. Sie müssen schon zu ihrer Entstehungszeit archaisch gewirkt haben - zum Glück für die Nachwelt, die so einen Blick in die Frühzeit des Genres erhält. Mit nahezu unfehlbarer Intonation und Phrasierung meistert die Cappella Pratensis die Tücken dieser rätselhaften Messen und entwickelt sich immer mehr zur Referenz für vokale Polyfonie des 15. und 16. Jahrhunderts.

"Schönheit durch Konfusion, Wahrheit durch Kollision." Im Booklet seines Albums greift Michael Wollny diesen Satz Daniel Richters auf, um darüber zu sinnieren. Und den Hörer sodann gemeinsam mit den beiden Kollegen seines Klaviertrios in ihren Stücken und Bearbeitungen zum Grübeln zu bringen: Denn ist es schön, wenn der Trauermarsch aus Mahlers 5. Sinfonie verjazzt wird? Oder Punkelemente in ein Schubert-Lied eindringen? Tatsächlich sind es aber gerade diese bekannten Themen, die dem Album eine fast vertrauliche Zugänglichkeit verschaffen. Wobei das Trio dann doch noch genügend aufgeladene Intensität in seinem Spiel mit sich bringt, um ein melodienseliges Dahinträumen zu verhindern. Schließlich geht es dem Trio ja um eine wahrhaftige Auseinandersetzung.

Das Traurigste an den Tindersticks, Großbritanniens Gralshütern der Traurigkeit, war die Zeit, als sie meinten, schwofen zu müssen. Das zuletzt Beste an den Tindersticks ist, dass sie nicht nur diese unpassenden Seventies-Soul-Anleihen, sondern die Zuckerwattestreicher gleich mit entsorgt haben. Und so liegt mit "Something Rain" wieder die geschundene Seele dieser großen Band sauber seziert vor uns. Nun war Stuart Staples dunkel-runde Honigwaffelstimme ja nie weg, aber sie wird jetzt wieder auf diesen Zugezogene-Vorhänge-Sound gebettet, mit dem die Tindersticks bekannt wurden. Einem Sound der mit vollen Orgeln, samtenem Bass und gelegentlich sogar speienden Saxofonen souverän zwischen Jamsession und Struktur pendelt - und so unglaubliche Songs wie "Frozen" ausheckt.