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Rentenalter 60: «Leben wie Gott in Frankreich» auch in der Schweiz?

Viviane Bühr
Freitag, 8. Juni 2012, 10:29 Uhr

Frankreich ist das einzige Land Europas, das sein Renteneintrittsalter senkt. Wie finanziert das der Staat, wenn die Lebenserwartung immer mehr ansteigt? Und wäre ein tieferes Renteneintrittsalter auch in der Schweiz möglich? «SF Online» fragte beim Bundesamt für Sozialversicherungen nach.

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Lebenserwartungen in der Schweiz und in Frankreich (mittlere Szenarien) im Vergleich zum Renteneintrittsalter Quelle: bfs/diverse statistiken frankreich

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Tatsache ist: Wir werden immer älter, doch das Renteneintrittsalter stagniert. So müssen immer weniger Berufstätige für immer mehr Rentner aufkommen: 2008 waren es 3,7 Arbeitende pro Rentner, 2050 werden es nur noch 2 Arbeitende pro Rentner sein.

In der Schweiz und in zahlreichen weiteren Ländern wird das Rentenalter erhöht, oder es ist bereits erhöht worden. Nicht so in Frankreich.

«Leben wie Gott in Frankreich» – Franzosen können neu bereits mit 60 Jahren in den Ruhestand. Das hat die Regierung des neuen sozialistischen Präsidenten François Hollande beschlossen. Einen Monat nach seiner Wahl hat er damit eines seiner Versprechen eingelöst, das Rentenalter von 62 auf 60 zu reduzieren. Jährlich kommen allerdings nur etwa 110'000 in den Genuss der Reduktion. Denn nur wer 41,5 Jahre Beiträge eingezahlt hat, darf sich in den Ruhestand begeben. Alle anderen müssen bis 62 weiterschuften.

Bild Senioren springen am Strand in die Luft und jubeln
Ein tiefes Rentenalter und eine hohe Lebenserwartung: Ob auch in Zukunft noch darüber gejubelt werden kann? colourbox/symbolbild

Die Rente in Frankreich liegt durchschnittlich bei 1400 Euro im Monat. Eine grobe Rechnung zeigt: Erhalten 110'000 60jährige und 110'000 61jährige je 1400 Euro pro Monat, ergibt dies eine Jahressumme von 3,7 Mrd. Euro, die dem Staat neu blüht. Diese Gruppe fehlt zudem als Beitragszahler.

Finanzieren will Hollande diesen Luxus mit höheren Sozialabgaben für Arbeitnehmer und Unternehmer: Die Abgaben sollen bis 2017 um 0,25 Prozentpunkte steigen. Die defizitäre Rentenkasse soll durch die neuen Belastungen von 1,1 Milliarden Euro im kommenden Jahr dank moderater Beitragserhöhungen kaum belastet werden. Bis zum Jahr 2017 sollen die jährlichen Kosten dann auf bis 3 Milliarden steigen.

Wäre eine Senkung des Renteneintrittalters auch in der Schweiz möglich? «SF Online» sprach mit Harald Sohns, Pressesprecher des Bundesamtes für Sozialversicherungen.

SF Online: Wie kann Frankreich es sich leisten, ein Rentenalter von 60 Jahren einzuführen, während in anderen Ländern Rentenerhöhungen bevorstehen oder bereits umgesetzt wurden?

Harald Sohns: Wie Frankreich das finanziert, ist Sache von Frankreich – das kann ich nicht kommentieren. Ohnehin kann unser 3-Säulen-System mit AHV, Pensionskasse und freiwilligem Vorsorgesparen nicht direkt mit dem System in Frankreich verglichen werden.  

Trotzdem – es klingt verlockend. Sollten sich die Schweizer nicht auch stark machen für ein tieferes Rentenalter?

Ich denke, in der Schweiz ist das Bewusstsein verankert, dass Renten von jemandem bezahlt werden müssen. Wenn man das Rentenalter senken will, so muss das finanziert werden. Wir als Versicherte müssten als Beitrags- und Steuerzahlende deutlich mehr zahlen oder uns mit tieferen Renten zufrieden geben oder eine Mischung von beidem. Dieses Bewusstsein ist vielleicht in anderen Ländern weniger verankert, und vor Wahlen ist das Versprechen einer Rentenalterssenkung natürlich attraktiv.

Will Frankreich mit der Senkung des Rentenalters die Jungendarbeitslosigkeit senken?

Die Zusammenhänge sind sehr komplex. Nicht jede durch Pensionierung frei werdende Stelle wird einfach mit einer jungen Person besetzt. Wenn die Wirtschaft nicht gut läuft und der Kündigungsschutz hoch ist, so ist der Arbeitgeber vielleicht einfach froh, bei einer Pensionierung eine Stelle streichen zu können.

Frankreich erhöht zur Deckung der Renten die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Welche weiteren Massnahmen zur Finanzierung sind generell möglich?

Generell kann man in unserer Altersvorsorge an drei Schrauben drehen, wenn sie unterfinanziert ist: Entweder fliesst mehr Geld in die Versicherungen – durch höhere Beiträge oder durch eine andere Geldquelle wie zum Beispiel Steuern. Die Renten werden gekürzt oder das Rentenalter wird erhöht. Denkbar ist natürlich eine Mischung aus diesen Massnahmen.

Viele arbeiten freiwillig länger...

Das stimmt. Die einen, damit es reicht oder damit sie ihre gewohnte Lebensweise beibehalten können, die anderen, weil Arbeit ein wichtiger Teil ihres Lebens ist. Die politische Absicht ist, eine längere Arbeitszeit attraktiver zu machen. Es wurden bereits Hürden abgebaut. Die Massnahmen haben auch einen weiteren wirtschaftlichen Hintergrund, nämlich der künftig erwartete Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in der Schweiz.

In welche Richtung gehen die Massnahmen in der Schweiz?

Das wird sich in der nächsten Zeit noch weisen müssen, da grössere Reformen zur finanziellen Sicherung der Altersvorsorge anstehen. Grob gesagt sind in der Politik Rentensenkungen in der AHV eher kein Thema. Beitragserhöhungen wie in Frankreich würden bekämpft, weil sie die Wirtschaft belasten. Die Erhöhung des Rentenalters der Frau auf 65 war aufgegleist, ist aber mit der letzten AHV-Revision stecken geblieben. Die Frage, ob das Rentenalter generell weiter heraufgesetzt werden soll, ist sehr stark umstritten. Ein Mehrwertsteuer-Prozent und Einnahmen aus der allgemeinen Bundessteuer fliessen heute in die AHV. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer oder die Erschliessung anderer Steuereinnahmen sind auch in Diskussion, aber ebenfalls umstritten.

Wie lange geht es der AHV noch gut?

Zwar haben wir momentan einen Überschuss, aber in absehbarer Zeit wird sich das ändern. Gemäss den aktuellen Annahmen werden die Reserven der AHV zwischen 2020 und 2027, je nach Szenario, unter 50% der jährlichen AHV-Ausgaben sinken, was als kritischer Wert gilt. In Diskussion ist ein Automatismus, der den Bund zum Handeln zwingt, wenn die Reserven unter einen bestimmten Mindestwert fallen.

Was, wenn die finanzielle Sicherung der AHV scheitert?

Das darf nicht passieren. Bei der Invalidenversicherung wurde nicht rechtzeitig eingegriffen, um Ausgaben und Einnahmen ins Gleichgewicht zu bringen. Die IV ist mit 15 Milliarden verschuldet. Sie bezahlt Schuldzinsen von rund 800'000 Franken pro Tag. Damit werden die Schulden aber noch nicht abgebaut. Die AHV darf nicht auch zum Sanierungsfall werden.

Rentenalter 68?

Bis 2030 wird die Finanzierungslücke der AHV laut BSV aus heutiger Sicht 8,9 Mrd. Franken pro Jahr betragen. Das entspricht dem Ertragspotential von 2 Lohnprozenten oder 2.5 Mehrwertsteuerprozenten. Wollte man diese Finanzierungslücke ohne höhere Einnahmen vermeiden, müsste das heutige Rentenalter um drei Jahre heraufgesetzt werden.

Hans-Ulrich Doerig gilt als Verfechter der Erhöhung des Rentenalters auf 68. Der ehemalige Präsident des Verwaltungsrates der Credit Suisse schreibt in seinem Buch «So gewinnt die Schweiz: 12 Erfolgsfaktoren und 12 Fitnessprogramme»:

«Weder ein Anstieg der Schulden noch höhere Steuern und Zwangsabgaben noch zusätzliche Einwanderung noch tiefere Leistungen sind pragmatische, nachhaltige Lösungen der Altersvorsorge. Eine Pensionierung mit 68 verkleinert das künftige AHV-Finanzierungs-Loch, reduziert die Gesundheitskosten sowie den Einwanderungsdruck, erhöht den Selbstwert, verlängert das soziale Eingebundensein sowie die Tagesstrukturen und limitiert die Risiken für Beitragserhöhungen und Leistungskürzungen: Letztlich ist sie fairer und solidarischer gegenüber den Jungen.»

Kommentare aktiv...

A. Planta, Chur
(plal Mann)
Verfasst am: 9.6.2012 9:43

Rentenalter 68?

"Letztlich ist sie fairer und solidarischer... mehr

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T. Duran, New York
(Openyoureyes Mann)
Verfasst am: 9.6.2012 9:32

Wer mit 50 einen Job sucht...

weiss, dass er kein Chance mehr hat. Es sei denn,... mehr

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R. Keller, Zürich
(richard.keller Mann)
Verfasst am: 8.6.2012 13:50

Wieder eine grausam undifferenzierte Position, die wir da lesen.

Mit einem gerechteren Steuersystem ist kann ein... [1]  mehr

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