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Merken   Drucken   07.09.2012, 14:15 Schriftgröße: AAA

Schulreform in Baden-Württemberg: Gemeinschaftsschulen sind zum Gelingen verdammt

In der kommenden Woche starten in Baden-Württemberg die ersten Gemeinschaftsschulen. Es ist ein Prestigeprojekt der grün-roten Landesregierung - und eine Standortfrage für viele Kommunen.
© Bild: 2012 FTD.de/Sebastian Berger
In der kommenden Woche starten in Baden-Württemberg die ersten Gemeinschaftsschulen. Es ist ein Prestigeprojekt der grün-roten Landesregierung - und eine Standortfrage für viele Kommunen.
von Oberkochen

In den Fluren stapeln sich Stühle und Tische, alte Computer, Overheadprojektoren, Bücherregale. Alles muss raus. Raus aus den Klassenzimmern, die jetzt Lernatelier heißen oder Input-Raum. Rein kommen Schreibtische mit Laptopanschluss und Flipcharts. Die Stühle fehlen noch, sie konnten erst im Juli bestellt werden. Der Hausmeister der Dreißentalschule in Oberkochen hofft, dass sie am Montag da sein werden. Denn Montag ist ein besonderer Tag: Das neue Schuljahr beginnt in Baden-Württemberg und damit starten auch die ersten 42 Gemeinschaftsschulen im Land. Die Dreißentalschule im Ostalbkreis ist eine von ihnen.

"Es ist ein Experiment", sagt der Bürgermeister von Oberkochen, Peter Traub. Für seine Stadt, die Schule, aber auch für die grün-rote Landesregierung. Die Einführung der neuen Schulform, an der alle Bildungsabschlüsse bis hin zum Abitur möglich sein sollen, gehört zu den wichtigsten Reformvorhaben der Koalition. Es könnte die Bildungslandschaft von Grund auf verändern. "Das Land hat in seiner Schulpolitik etwas aufzuholen", sagt Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD).

Bürgermeister Peter Traub (o. l.) und Schulleiter Martin ...   Bürgermeister Peter Traub (o. l.) und Schulleiter Martin Latosinszky (o. r.) sind seit Monaten mit dem Projekt Gemeinschaftsschule beschäftigt

Nirgendwo sonst, außer in Bayern, ist die Tradition des dreigliedrigen Schulsystems so tief verankert wie in Baden-Württemberg. Die vor eineinhalb Jahren abgewählte CDU hatte sich lange geweigert, daran zu rütteln, auch wenn Hauptschulklassen in vielen Regionen immer leerer wurden. Weil die Schülerzahlen insgesamt sinken, und weil immer weniger Eltern ihr Kind auf einer Hauptschule anmelden wollen.

Auch an der Dreißentalschule, einer ehemaligen Grund- und Werkrealschule, hat sich die Zahl der Fünftklässler seit den 90er-Jahren halbiert, zuletzt gab es nur noch 24 Anmeldungen. "Wenn wir alles so lassen würden, dann hätte bald nur noch jede dritte Gemeinde eine weiterführende Schule", sagt Norbert Zeller, Leiter der Stabsstelle Gemeinschaftsschule im Kultusministerium. "Das, was wir jetzt machen, ist ein Paradigmenwechsel."

Die CDU schimpft zwar über die "Einheitsschule", aber auf dem Lande gibt es nicht wenige CDU-Bürgermeister, die lieber auf genau diese Schule setzen statt auf eine ausblutende Hauptschule. Die Reform geht bislang vergleichsweise geräuschlos voran. Auch in Oberkochen waren Gemeinderatsmitglieder der CDU zunächst gegen die neue Schulform. Doch letztlich haben sie die Umwandlung mitgetragen - aus standortpolitischen Gründen.

Oberkochen ist ein starker Wirtschaftsstandort, das Optikunternehmen Carl Zeiss und der Werkzeughersteller Leitz haben hier ihren Hauptsitz, es gibt so viele Arbeitsplätze wie Einwohner. "Die Unternehmen wollen ihre Fachkräfte vor Ort rekrutieren, sie sind auf eine gut ausgebaute Schulinfrastruktur angewiesen", sagt der parteilose Bürgermeister Traub. Die Gemeinschaftsschule, die von Klasse eins bis zehn gehen wird, bedeutet "eine enorme Aufwertung für Oberkochen", so Traub. Mit dem Gymnasium zusammen können nun alle Bildungsabschlüsse vor Ort angeboten werden.

Davon profitieren Unternehmen wie Zeiss. Ausbildungsleiter Volker Thumm kooperiert schon seit vielen Jahren mit der Dreißentalschule, sie liegt nur 100 Meter entfernt vom Firmensitz. Er hat sich für den Umbau der Schule starkgemacht. "Das neue pädagogische Konzept kommt der beruflichen Bildung sehr entgegen", sagt er, "weil es auf selbstständiges Lernen setzt." Er verspricht sich davon nicht nur ein breiteres Fachkräfteangebot, sondern auch eine bessere Bildung.

Denn an der Dreißentalschule werden derzeit nicht nur die Möbel ausgetauscht, sondern auch die Lernmethoden. Künftig bekommen die Schüler von ihren Lernbegleitern, früher Lehrern, Input und ziehen sich dann als Lerngruppen in die Lernateliers zurück, wo sie sich selbstständig Wissen erarbeiten, unterstützt und gecoacht von ihren Lernbegleitern. Das Konzept hat sich das Schulkollegium abgeschaut bei dem Schweizer Pädagogen Peter Fratton und der von der Unternehmerin Bettina Würth gegründeten Freien Schule Anne-Sophie in Künzelsau. Im Vordergrund stehen vier Leitprinzipien: Respekt, autonomes Lernen, eine neu gestaltete Lernumgebung und das Motto "Ins Gelingen verliebt sein". "Auch Schulen stehen im Wettbewerb und müssen sich am Bildungsmarkt behaupten", sagt Schulleiter Martin Latosinszky. Die Dreißentalschule will er zu einer Marke machen, mit einer eigenen Corporate Identity. Dafür wirbt er bereits im Kindergarten. Für ihn und seine Lehrer ist das auch ein Kampf gegen die Schließung der Schule.

Die Gemeinde unterstützt die Reform in diesem Jahr mit 130.000 Euro. Vom Land bekommt die Schule eine zusätzliche Lehrerstelle für den Ganztagsbetrieb. Viel ist das nicht. Der baden-württembergische Städtetag hat kritisiert, dass die Landesregierung keine Aussagen mache, wie der Umbau des Schulsystems finanziert werden soll. Bislang sind im Haushalt lediglich 60 zusätzliche Lehrer für 42 Schulen vorgesehen.

Trotz der unklaren Finanzierung geht Norbert Zeller im Ministerium davon aus, dass im nächsten Jahr "mindestens weitere 100 Gemeinschaftsschulen dazukommen werden". Schon für den ersten Durchlauf habe es "irrsinnig viele Anfragen" gegeben. Genehmigt wurden letztlich aber nur diejenigen, die ein schlüssiges pädagogisches Konzept vorlegten. "Wir wollen nicht, dass da einfach nur der Name über der Schule ausgetauscht wird", sagt Zeller, "es soll eine neue Lernkultur gelebt werden."

Offiziell ist die Gemeinschaftsschule ein zusätzliches Bildungsangebot. Das neue Modell werde niemandem aufgezwungen, sagt Warminski-Leitheußer, wohlwissend, dass man als Kultusministerin nur scheitern kann, wenn man Eltern und Lehrern etwas von oben aufdrückt. Letztlich ist aber allen Beteiligten klar, dass es eine Abstimmung mit den Füßen geben wird und mittelfristig alle Haupt- und Realschulen im Land schließen werden. "In zehn Jahren", sagt Schulleiter Latosinszky, "wird es in Baden-Württemberg nur noch Gemeinschaftsschulen und Gymnasien geben."

Neue Schulformen
Baden-Württemberg Zum Schulbeginn starten 42 Gemeinschaftsschulen, in denen Schüler mit einer Empfehlung für die Haupt- oder Realschule gemeinsam unterrichtet werden, teilweise mit Grundschule. Das Konzept umfasst gebundenen Ganztagsbetrieb und Berufsorientierung. Gibt es genügend Schüler, kann eine gymnasiale Oberstufe angeboten werden. Unter den 42 Starterschulen sind 40 ehemalige Haupt- oder Werkrealschulen sowie zwei Realschulen, eine davon mit gymnasialem Zweig.
Nordrhein-Westfalen Hier sind seit August 42 Sekundarschulen am Start. In dieser neuen Schulart werden zumindest in den Klassen fünf und sechs alle Kinder gemeinsam unterrichtet. Zwölf Schulen machen dies auch weiter ab Klasse sieben.
Saarland Hier gibt es seit diesem Schuljahr nur noch Gymnasien und Gemeinschaftsschulen. Letztere gehen aus der Verschmelzung von Realschulen und Gesamtschulen hervor. Die Hauptschule wurde bereits 1996 abgeschafft.
  • FTD.de, 07.09.2012
    © 2012 Financial Times Deutschland
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