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Merken   Drucken   18.09.2012, 15:18 Schriftgröße: AAA

Euro-Zone: Weg mit den Nationalstaaten!

In der Schuldenkrise zeigt sich: Kleinere Gebiete kann man besser verwalten als große Nationen. Deshalb sollten sie autonomer werden - unter dem Dach der Europäischen Union.
© Bild: 2012 Getty Images/Paul & Lindamarie Ambrose
Kommentar In der Schuldenkrise zeigt sich: Kleinere Gebiete kann man besser verwalten als große Nationen. Deshalb sollten sie autonomer werden - unter dem Dach der Europäischen Union. von Roland Benedikter
Roland Benedikter ist Politikprofessor in Stanford, Kalifornien

Seit Jahrzehnten haben Europas Staats- und Regierungschefs nur davon gesprochen. Aber nun, im Zuge der Schuldenkrise, wird es ernst: Das Urteil des Karlsruher Verfassungsgerichtshofs vom 12. September, der Euro-Rettungsschirm ESM sei unter Auflagen mit dem Grundgesetz vereinbar, bedeutet die Einschränkung des Budgetrechts der Parlamentarier zugunsten Europas. Bereits seit Monaten führt die faktische Freigabe des Aufkaufs von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank zu verdeckter gemeinsamer Schuldenhaftung. Das formelle Antragsverfahren macht dies nurmehr zur offenen Praxis.
Roland Benedikter ist Politikprofessor in Stanford   Roland Benedikter ist Politikprofessor in Stanford
Der Weg zu Krisenbewältigung und Euro-Rettung führt über die anvisierte Bankenunion, mit zentralem Weisungs- und sogar Schließungsrecht der EZB für alle 6000 europäischen Banken; über Pläne für eine echte Steuerunion; und über die Stärkung der gemeinsamen politischen Ebene mittels eines neu auszuhandelnden EU-Vertrags. Dass außerdem führende Politiker in den Euro-Südstaaten Italien, Spanien und Portugal seit Monaten ernsthaft dafür plädieren, vorerst einseitig Außen-, Verteidigungs- und Finanzpolitiken ausschließlich in europäische Hände zu legen, kommt einer Revolution gleich.
Erstmals steht damit eine Entwicklung im Raum, die in vergleichsweise kurzer Zeit zu einem "echten" Europa in mehreren Aufbauschritten führen könnte: zunächst eine "leichte" Einheit in ausgewählten Bereichen unmittelbarer Krisenbewältigung ("Europe light"); dann die Zusammenführung auch grundlegender nationaler Agenden in langfristiger Perspektive ("Europe strong") - mit Ausnahmen, die weiterhin nationalen Entscheidungsträgern vorbehalten bleiben.
Man braucht kein Visionär zu sein, um zu sehen, dass damit Historisches geschieht. Offenbar ist EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso noch nicht auf der Höhe des Geschehens, wenn er am 12. September in Reaktion auf das Karlsruher Urteil - deutlich in vorauseilender Beschwichtigung der zahlreichen Kritiker vor allem in Deutschland - von einem möglichen Europa als "Staatenbund der Nationalstaaten" spricht. In Wirklichkeit kommt das Zeitalter der europäischen Nationalstaaten, das erst im 18. Jahrhundert begann, nun an sein Ende. Und diese Entwicklung ist gut.
Die Spaltung der Euro-Zone   Die Spaltung der Euro-Zone
Der klassische Nationalstaat zeichnete sich aus durch äußere Abgrenzung zum Zweck innerer Einheit. Er wollte die Einheit des Staates in einem von ihm geschützten monolithischen Wirtschaftsraum, mit eigenständiger Währung, nach innen uniformer Sprache, Kultur, historischer Erinnerung, kollektiver Identität und Volkszugehörigkeit schaffen. Dazu aus einem heroisch-militärischen Gründungsmythos, gewonnen aus der Konfrontation gegen andere Nationalstaaten meist im umliegenden Raum. Insgesamt zeichnete sich der moderne Nationalstaat ganz grundlegend also mittels Abgrenzung nach außen und - wenn nötig - erzwungener Assimilation nach innen aus.
Wenn uns die Finanzkrise und die Schuldenkrise etwas gelehrt haben, dann dass es diesen "Nationalstaat" nicht lange gegeben hat. Dass er eine Erfindung der Romantik ist, entstanden mit den primitiven Frühformen des modernen Kapitalismus aus einem durch Gruppen- statt wie heute Einzelidentitäten definierten Humanismus; und dass der Nationalstaat in seiner kurzen Geschichte eher zu Kriegen als zu Frieden geführt hat. Die Erfahrung lehrt aber auch, dass die Krise Europas weniger als von manchen gedacht den globalen Machtübergang vom Westen in den aufstrebenden Osten markiert.
Die Krise markiert vielmehr den Übergang in neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zwischen "übergreifend" und "lokal", bei weitgehender Ausschaltung der "nationalen" Zwischenebene. Was die Politik nicht erreichte, erreicht nun die Schulden- und Euro-Krise: wirkliche, nicht mehr nur scheinbare Einheit. Die beiden anderen globalen Großmächte, die USA und China, dagegen versuchen, das Bestehende krampfhaft zu erhalten.
In Wirklichkeit aber ist die Ära der Nationalstaaten nicht nur in Europa zu Ende, sie ist auch in den USA und China, ja in der ganzen Welt im Umbruch - zu sehen am Arabischen Frühling oder den Zusammenschlüssen größerer geopolitischer Räume in Lateinamerika oder Afrika. Die Einsicht setzt sich transnational durch: Kleinere, über Grenzen fließende Gebiete kann man besser verwalten. Sie sind, wie die Statistiken der vergangenen Jahrzehnte international zeigen, wirtschaftlich und politisch erfolgreicher. Oder wie es der verstorbene Südtiroler Ökologe Hans Glauber einst propagierte: Kleiner ist besser, langsamer, schöner - in seinem Fall bezogen auf Südtirol und die Landeshauptstadt Bozen. Daher werden mittelfristig die europäischen Regionen autonomer werden und die Nationen zurücktreten.
Die neue Führungsmacht Deutschland ist gut beraten, dass damit entstehende neue europäische Bewusstsein nicht nur passiv, sondern aktiv mit hervorzubringen. Denn während bisher die Euro-Gewinnerstaaten sich verständlicherweise gegen Entnationalisierung und gemeinsame Haftung wehrten, erkennen sie nun aufgrund des sich dramatisch verlangsamenden Wachstums - nicht zuletzt wegen der Nachfrageausfälle in den Verliererstaaten -, dass Europa unausweichlich ist. Auch und gerade für die Gewinner!
Die Bundesregierung greift diese Entwicklung aus guten Gründen immer stärker aktiv auf. Der Gesamtprozess bietet Deutschland und Europa die Chance, ganz vorn in der globalgesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung dran zu sein - und zu bleiben. Europa, einschließlich Deutschland, kann nur noch eins sein - oder es wird gegenüber dem Aufstieg anderer großer geopolitischer Räume ins zweite oder dritte Glied zurückfallen.
  • FTD.de, 18.09.2012
    © 2012 Financial Times Deutschland,
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Kommentare
  • 19.09.2012 09:34:16 Uhr   Lloretta: Vergessen?

    Roland Benedikter scheint nur eines zu vergessen: die Menschen. Letztlich ist nur wichtig, was die europäische Bevölkerung will. Aus rein wirtschaftlichen Gründen mag das ja eine Alternative sein, aber ist es auch eine gewollte politische Alternative? Das kann in einer Demokratie nur einer entscheiden: das Volk. Und das ist ja derzeit, wenn man den Umfragen glauben schenken darf, in keinem EU-Land erpicht darauf, Souveränität nach Brüssel abzugeben.

  • 19.09.2012 09:20:17 Uhr   MSG: Interessant, aber realitätsfern
  • 19.09.2012 07:31:24 Uhr   Kofinas: Weg mit den Nationalstaaten...
  • 19.09.2012 05:44:01 Uhr   puk03: Einfach nein!
  • 19.09.2012 03:21:44 Uhr   Nutria: Nein zur EU
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