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Merken   Drucken   28.09.2012, 17:00 Schriftgröße: AAA

Vatileaks-Prozess: Perestroika bei den Katholiken

Am Samstag beginnt der "Vatileaks"-Prozess. Es ist eine Chance für die Kirche, sich offener zu zeigen.
© Bild: 2012 Getty Images/Buena Vista Images
Kommentar Am Samstag beginnt der "Vatileaks"-Prozess. Es ist eine Chance für die Kirche, sich offener zu zeigen. von Tobias Bayer 
Da sage doch noch einer, die katholische Kirche erreiche nicht mehr die Menschen. Stundenlang standen die Mailänder Anfang September in Schlangen vor dem Dom, um dem verstorbenen ehemaligen Erzbischof der lombardischen Metropole und Kardinal Carlo Maria Martini die letzte Ehre zu erweisen. Der Jesuit, gebürtig aus Turin, war beliebt im Volk, nicht zuletzt wegen seiner liberalen Einstellungen. Der Kirche gab Martini in einem posthum erschienen Interview eine deftige Ohrfeige mit. Sie hinke 200 Jahre hinterher, so Martini.
Papst Benedikt XVI.   Papst Benedikt XVI.
Ob die Kirche aufwacht, zeigt sich ein Stück weit ab dieser Woche. Es beginnt der Strafprozess gegen den Kammerdiener des Papstes, Paolo Gabriele, der Dutzende Privatbriefe an die Presse weitergeleitet haben soll. Der Journalist Gianluigi Nuzzi veröffentlichte die brisanten Dokumente in dem Buch "Sua Santità". Er löste den Skandal "Vatileaks" aus, der den Heiligen Stuhl als ein Hort der Eitelkeiten und Machtspiele erscheinen lässt. Mittendrin tappt Papst Benedikt XVI. umher, als hilfloses Opfer einer hinterhältigen Kamarilla.
Viel ist darüber gemutmaßt worden, ob Gabriele allein gehandelt hat oder Teil einer großen Verschwörung ist. Viel ist darüber gemutmaßt worden, wer im Vatikan welches Interesse hat, dem Papst zu schaden. All die Geschichten und Spekulationen lesen sich wie eine Mischung aus Dan Browns Bestseller "Sakrileg" und "Cluedo". Es ist höchst unwahrscheinlich, dass der Prozess gegen Gabriele Aufschluss darüber gibt, ob es sich um Fakten oder Fantasien handelt. Entscheidend ist etwas anderes: Wie geht die Kirche damit um? Welche Lehren zieht sie aus Vatileaks?
Kardinal Carlo Maria Martini   Kardinal Carlo Maria Martini
Die Frage berührt ein grundsätzliches Thema. Es geht um das Verhältnis zwischen Kirche und Staat und um das Verständnis der Kirche von Weltlichkeit. Die Kurie, also den Verwaltungsapparat des Papstes, gibt es seit dem elften Jahrhundert. Sie verfügt über ein eigenes Rechtssystem, das sich aus den katholischen Glaubensregeln herleitet. In einem gewissen Sinn grenzt sich die Kirche ab vom Rest der Gesellschaft. Sie ist ein Sondersystem oder - laut einer Idee zu Zeiten der Gegenreformation - eine "Societas perfecta", die ihren Bestand aus sich selbst heraus garantiere, wie es der Theologe Gregor Maria Hoff in einem Kommentar ausgedrückt hat.
Skandale und Skandälchen wurden immer intern geregelt. Transparenz, Rechenschaft gegenüber der Öffentlichkeit? Fehlanzeige. In den 60er-Jahren während des Zweiten Vatikanischen Konzils wagte die Kirche eine Öffnung. Doch seitdem geht es wieder in die andere Richtung. Benedikt XVI. ist sicherlich nicht der Richtige für "Glasnost und Perestroika", wie sie der Tübinger Theologe Hans Küng einfordert. Der deutsche Papst sieht in der Weltlichkeit eher eine Sünde als einen Segen. Er sperrt die Moderne aus, die er für relativistisch hält.
Doch ist das noch möglich in Zeiten von Facebook und Twitter, wo sich Gerüchte in Sekunden über den Globus verbreiten? Vatileaks berührt genau diesen Punkt: Weil die Kirche alles zur Privatsache erklärt, wird jedes Gerücht, jedes Schreiben zur öffentlichen Sensation. Die Deutungshoheit überlässt der Heilige Stuhl all den anderen. Er rückt nichts in den Kontext, er erklärt sich nicht.
Dass selbst der Heilige Stuhl lernfähig ist, zeigt sich überraschenderweise in Finanzfragen. Mit dem schnöden Mammon tat sich die Kirche schon immer schwer. Durch die Cluniazensische Reform im Hochmittelalter erhielt sie direkten Zugriff auf diverse Klöster und dadurch auch auf hübsche Einnahmen. Ab diesem Zeitpunkt fragte sie sich in regelmäßigen Abständen, wie sie das Geld vermehrt. Ende des 19. Jahrhunderts setzte Papst Leo XIII. die Kommission "ad pias causas" ein. Er machte so den Weg frei für Spekulationen an den Börsen in London, Paris und Berlin.
Richtig gut beherrschte die Kirche das Finanzgeschäft nie. 1942 ging aus der Kommission die Bank IOR hervor. Schnell haftete ihr der Ruf an, in schmutzige Geschäfte verwickelt zu sein. Sie zog Gestalten an wie Paul Marcinkus, genannt "der Gorilla", ehemaliger Leibwächter des Papstes und später Bankchef, Michele Sindona, genannt "der Hai", Mafia-Bankier und Berater von Marcinkus, sowie Roberto Calvi, Chef der Banco Ambrosiano, die 1982 unter Milliardenverlusten zusammenbrach. Calvi wurde unter der Blackfriars-Brücke in London erhängt aufgefunden.
In Bewegung geriet alles 2009. Enthüllungsjournalist Nuzzi veröffentlichte das Buch "Vaticano S.p.A.", in dem er Einblicke in die Welt des IOR gibt. Der Schmöker wurde zum Verkaufsschlager - und der Papst handelte. Der alte Bankchef Angelo Caloia wurde in Pension geschickt, es folgte der ehemalige Santander-Banker Ettore Gotti Tedeschi. Ende 2010 gab Benedikt XVI. bekannt, die Regeln im Kampf gegen Geldwäsche einhalten zu wollen. Er setzte eine neue Aufsichtsbehörde ein und beantragte eine Untersuchung durch Moneyval, die Anti-Geldwäsche-Einheit des Europarats. Das Zwischenergebnis: Nach allerhand Rückschlägen veröffentlichte Moneyval im Juli den ersten Bericht - und lobte die Forschritte.
Man kann nur hoffen, dass die Kirche durch Vatileaks zu einer ähnlichen Anstrengung genötigt wird. Wenn sie über die Welt sprechen will, kann sie sich ihr nicht mehr gänzlich verschließen. Es wäre schade, wenn Gabriele als ein Einzelgänger abgeurteilt wird - und alles beim Alten bleibt. Martinis Appell ist Ansporn genug.
  • FTD.de, 28.09.2012
    © 2012 Financial Times Deutschland,
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