FTD.de » Politik » Europa » Europas Zukunft liegt im Süden
Merken   Drucken   30.09.2012, 10:00 Schriftgröße: AAA

Essay: Europas Zukunft liegt im Süden

Seit Beginn der Euro-Krise gilt die Mittelmeerregion vielen nur noch als Krisenherd. Dabei liegt hier nicht nur der Ursprung Europas, sondern auch die Zukunft des Kontinents.
© Bild: 2012 DPA/Orestis Panagiotou
Kommentar Seit Beginn der Euro-Krise gilt die Mittelmeerregion vielen nur noch als Krisenherd. Dabei liegt hier nicht nur der Ursprung Europas, sondern auch die Zukunft des Kontinents. von Claus Leggewie
Claus Leggewie ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Im Oktober erscheint sein Buch "Zukunft im Süden: Wie die Mittelmeerunion Europa wiederbeleben kann" in der Edition Körber-Stiftung.

"Wenn wir von menschlicher Vervollkommnung träumen, vom Stolz und Glück der Humanität, dann wendet sich unser Blick dem Mittelmeer zu", hat der französische Historiker Georges Duby einmal gesagt. Das war einmal. Inzwischen möchten viele die Pigs, wie Portugal, Italien, Griechenland und Spanien despektierlich genannt werden, lieber heute als morgen loswerden. Im Süden gärt die entsprechende "Los von Brüssel"-Stimmung.
Die europäische Peripherie von Portugal über die nordafrikanischen Staaten bis nach Griechenland gilt als Bedrohungszone, fast wie der Ostblock im Kalten Krieg. Im Süden, einst eine politische Himmelsrichtung, die heitere Assoziationen weckte, orten Politiker und öffentliche Meinung heute die größten Sicherheitsrisiken: islamistischen Terror, Euro-Crash und Flüchtlingswellen.
Die Herausforderungen, die der potenzielle Staatsbankrott von EU-Staaten, die Machtübernahme von Islamisten im Nahen Osten und der Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer darstellen, sollen nicht verharmlost werden. Doch Angst ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber. Hilfreicher wäre eine sachliche Bestandsaufnahme der Lage im Mittelmeerraum, die auch Chancen in sich birgt.
Wenn man mal vergessen sollte, wie wichtig der Mittelmeerraum für ...   Wenn man mal vergessen sollte, wie wichtig der Mittelmeerraum für Europa ist: einfach mal umsehen! Z.B. in Berlin
"Mare nostrum" nannten die Römer auf dem Höhepunkt ihrer imperialen Ausdehnung an allen Küsten des Mittelmeers "ihr" damit entstandenes "Binnenmeer", das sie als Seemacht kontrollierten und wirtschaftlich ausbeuteten. "Unser Meer" hieße heute, den Süden ohne imperiale Attitüden und ohne eine von Kurzfristdenken beherrschte Nutzungsambition als historischen Kern Europas zu rehabilitieren. Und dort ein ebenso zeitgemäßes wie zukunftsfähiges Friedens- und Entwicklungsprojekt aufzulegen.
Vier Politikbereiche und Aufgabenfelder scheinen mir vorrangig und gut zu verbinden zu sein: Das beginnt mit einer Nordwesteuropa, den Mittelmeerraum und Afrika südlich der Sahara verbindenden Energieunion, einer Art "Montanunion" der heutigen Zeit, die analoge Integrationswirkungen für die gesamte Region auslösen mag wie die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS alias Montanunion) in den 1950er Jahren für die Vergemeinschaftung Kerneuropas. Die Oligopole der Energieerzeugung im Norden werden damit ebenso obsolet wie die Rentenregime im Süden.
Inhumane Abschreckung Dazu bedarf es einer Revision der ökonomischen Arbeitsteilung und demografischen Bewegungen zwischen Norden und Süden: Über Jahrzehnte dominierte der Handelsaustausch von agrarischen und mineralischen Rohstoffen aus dem Süden gegen langlebige Konsumprodukte und teure Investitionsgüter aus dem Norden. Flankiert wurde dies durch eine transnationale Migrationsbewegung, bei der sich die Wege der Arbeit suchenden "Gastarbeiter" und Schutz begehrenden Flüchtlinge aus dem Süden mit denen der sonnenhungrigen Touristen, Frühpensionäre und Geschäftsleute kreuzen.
Fairer Handel, würdige Arbeit für alle und soziale Gerechtigkeit über die nationalen Grenzen hinweg müssen an die Stelle dieser schleichenden Enteignung des Südens treten, von der am Ende nur sehr wenige profitiert haben. Beginnen muss dies mit einer grundlegenden Revision der inhumanen Flüchtlingspolitik des Frontex-Abschreckungsregimes, dem jährlich Hunderte von Boatpeople und illegalen Grenzüberschreitern zum Opfer fallen. Der Norden Europas benötigt Immigration und sollte sie willkommen heißen. Die Mauer in Berlin ist 1989 nicht gefallen, damit sie in der Mittelmeerregion wieder aufgebaut wird.
Da der Tourismus als Monokultur fast die gesamte Mittelmeerregion prägt, schließt die Infragestellung der herkömmlichen Arbeitsteilung auch diesen Bereich ein, der die bedenklichsten Formen des "Ballermann-Billigtourismus" bis zu avancierten Formen eines "sanften Tourismus" umfasst. Möglich ist der Übergang zu einem wirtschaftlich nachhaltigen und sozial- wie umweltverträglichen Massentourismus, der sich vom bewusstlosen Sonnenbad in eine respektvolle interkulturelle Begegnung verwandeln soll.
Griechenland ohne Euro wäre ...

 

Zum Ergebnis Alle Umfragen

Der Zielpunkt des Massentourismus sind die Mittelmeerküste und das unmittelbare Hinterland. Zwar ist die Wasserqualität des Mittelmeers relativ gut, aber der Schutz des Meeres, etwa bei der Vermeidung weiterer Überfischung, ist auch hier geboten. Das Mittelmeer ist, wie die meisten Ozeane und Meeresregionen der Welt, zum Brunnen und zur Rinne (oder Kloake) degradiert worden. Und das wiederholt sich auch bei der symbolischen Ausplünderung des Mythos Mittelmeer, der als Projektionsfläche für alle möglichen individuellen Ambitionen und Nostalgien dient, aber als kollektive Identität stiftendes Europa-Narrativ an Glanz verloren und ausgedient hat. Die Méditerranée ist nur noch ein Flair, eine Marke, ein App.
Die europäische Öffentlichkeit, darunter die professionelle Außen- und Europapolitik, Denkfabriken und Beratungseinrichtungen, auch die meisten Unternehmen, Universitäten und Interessenverbände, haben solche Perspektiven bisher weitgehend ignoriert und entwickeln kaum Szenarien jenseits von Grexit, der Ausstiegsoption für Griechenland oder für die anderen "Pigs". Das Zerrbild der Mittelmeerregion als Sorgenkind, Gefahrenzone und Austrittskandidatin hat sich verfestigt. Auch der Arabische Frühling von 2011 war im Norden weder gewollt, noch wurde er tatkräftig unterstützt. Wenn daraus in Tunesien, Libyen und Ägypten islamistische Regierungen hervorgegangen sind, sieht man sich in der europäischen Wagenburg, ähnlich wie im Staat Israel, in der Einschätzung des Arabischen Herbstes als Sicherheitsrisiko bestätigt. Stabilität geht immer noch vor Freiheit.
Das Krisenmanagement von Bundeskanzlerin Merkel und Staatspräsident Hollande für den Süden inszeniert die Scheinalternative Totsparen oder Kaputtwachsen. Die Schuldenbremse allein stranguliert jede Initiative, die Wachstumspakete lassen jede sozialökologische Perspektive auf Nachhaltigkeit vermissen. Die oben exemplarisch genannten Bereiche Energieunion, fairer Handel, sanfter Tourismus und interkulturelle Lerngemeinschaft (weitere sind denkbar) können sich dagegen zu einem alternativen Entwicklungspfad vereinen, der dem Norden ebenfalls gut anstünde.
Vitale PeripherienEin solcher "Herkules-Plan" muss einhergehen mit der Verfassungsentwicklung der gesamten EU. Nicht nur die "Problemländer" verlieren an nationaler Souveränität, auch Deutschland wird künftig ein Land des vereinten Europa sein, wie jetzt das Saarland, Nordrhein-Westfalen und der Freistaat Bayern Länder der Bundesrepublik sind. Deutschland kann auch nicht mehr, im Bunde mit Frankreich oder nicht, der Hegemon sein.
Solche Erwägungen sind nicht nur in Paris und Berlin (oder analog in London und Warschau) schwer auszuhalten, würde man nur die Nationalstaaten und die an sie gebundene Volkssouveränität relativieren und nicht gleichzeitig für eine Struktur sorgen, die ihnen in einem subsidiär und föderal aufgelockerten Bundesstaat neuen Typs Raum gibt. Zu einem vereinten Europa gehören starke Kerne ebenso wie vitale Peripherien, verbunden durch subregionale föderale Zusammenschlüsse.
Keime solcher Zusammenschlüsse sind die informelle Ostseeunion mit den baltischen und skandinavischen Staaten, Polen und Deutschland, oder die Alpen-Adria-Union (mit Österreich, Italien, Slowenien), auch die Balkanunion und die privilegierte Partnerschaft der EU mit Russland und der Türkei.
Und eben die erneuerte Mittelmeerunion, die das Muster einer föderativen und subregionalen Ordnung in Europa und über die Grenzen der heutigen EU hinaus sein kann. Das "Europa der Regionen" war bisher ein Terminus für die sprachlich-kulturelle Vielfalt des Kontinents und die Rechte der ethnischen Minderheiten in den verschiedenen Nationalstaaten, die sich in regionaler Autonomie niederschlagen sollte. Heute sollte ein "Europa der Regionen" weniger provinziell angelegt sein, eher als eine locker gefügte Verbindung subregionaler Verbünde, die neben den Parlamenten und Assoziationen der Zivilgesellschaft einem in Brüssel etablierten "Superstaat" Paroli bieten und supranationalen Entscheidungen demokratische Legitimation verschaffen kann.
Allein auf diesem emergenten Wege, im Tumult der Krise also, können eine diversifizierte europäische Gesellschaft und Öffentlichkeit, eine echte EU-Bürgerschaft und ein supranationaler Souverän entstehen, der sich auch als globaler Akteur zurückmeldet. Ein Europa, das eine politische Alternative bietet zum Rohstoffimperialismus der chinesischen Autokratie, zur ideologischen Selbstzerstörung der im Abstieg befindlichen Supermächte USA und Russland, zur desaströsen Dominanz aus dem Ruder gelaufener Finanzakteure und zur wachsenden Bedrohung durch politische Gewaltunternehmer aus gescheiterten Staaten.
  • FTD.de, 30.09.2012
    © 2012 Financial Times Deutschland,
Jetzt bewerten
Bookmarken   Drucken   Senden   Leserbrief schreiben   Fehler melden  
Kommentare
  • 30.09.2012 21:27:04 Uhr   Peter Lyssy: Historischer Bezug ?

    Ein Blick in die Geschichte of Big Brother USA würde genügen. Wollen wir hierzulande auch einen Sezessionskrieg ?

  • 30.09.2012 20:06:19 Uhr   Pragmatix: Diese Immigration
  • 30.09.2012 16:16:48 Uhr   Pinin: Elite-Parasiten
  • 30.09.2012 14:35:26 Uhr   VerySeriousSam: Viele Worte
  • 30.09.2012 12:19:40 Uhr   Joachim Paris: Eurogeschwafel
Kommentar schreiben Pflichtfelder*





Den Parameter für die jeweilige Rubrik anpassen: @videoList
  • Arbeitslosigkeit: Europa braucht die zweite Rettung

    In Europa sind 18 Millionen Menschen ohne Job - eine monströse Zahl. Die Massenarbeitslosigkeit könnte zu einem Schaden führen, der Jahre, ja Jahrzehnte anhält. Die Jugend darf nicht kaputtgespart werden. mehr

  •  
  • blättern
Tweets von FTD.de Politik-News

Weitere Tweets von FTD.de

  12.09. Wissenstest zum Euro E wie kompliziert?

Das Bundesverfassungsgericht urteilt über den ESM, in Brüssel tagt die Euro-Gruppe, Bundespräsident Gauck fordert von Kanzlerin Merkel Klartext zur Euro-Rettung. Blicken Sie noch durch? Testen Sie Ihr Euro-Wissen.

Wie hoch soll das Stammkapital des Europäischen Stabilisierungsmechanismus ESM sein?

Wissenstest zum Euro: E wie kompliziert?

Alle Tests

FTD-Wirtschaftswunder Weitere FTD-Blogs

alle FTD-Blogs

Newsletter:   Newsletter: Eilmeldungen Politik

Ob Regierungsauflösung oder Umfragehoch für die Linkspartei - erfahren Sie wichtige Politik-Nachrichten, sobald sie uns erreichen.

Beispiel   |   Datenschutz
 



DEUTSCHLAND

mehr Deutschland

EUROPA

mehr Europa

INTERNATIONAL

mehr International

KONJUNKTUR

mehr Konjunktur

© 1999 - 2012 Financial Times Deutschland
Aktuelle Nachrichten über Wirtschaft, Politik, Finanzen und Börsen

Börsen- und Finanzmarktdaten:
Bereitstellung der Kurs- und Marktinformationen erfolgt durch die Interactive Data Managed Solutions AG. Es wird keine Haftung für die Richtigkeit der Angaben übernommen!

Impressum | Datenschutz | Nutzungsbasierte Online Werbung | Disclaimer | Mediadaten | E-Mail an FTD | Sitemap | Hilfe | Archiv
Mit ICRA gekennzeichnet

VW | Siemens | Apple | Gold | MBA | Business English | IQ-Test | Gehaltsrechner | Festgeld-Vergleich | Erbschaftssteuer