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Merken   Drucken   30.09.2012, 13:00 Schriftgröße: AAA

Fotograf Chris Arnade: New York City ganz unten

Tagsüber verschiebt Chris Arnade als Wall-Street-Händler Millionen. Nach der Arbeit erkundet er das andere New York: Mit seinen Fotos macht er die Schicksale von Obdachlosen, Prostituierten und Süchtigen bekannt. von Kim Bode, New York
Chris Arnade hat sich verkleidet. Ausgewaschene Jeans über Turnschuhen, T-Shirt, offenes Hemd. Der dunkelblaue Familienvan parkt hinter der Straßenecke. Ein einfaches Outfit hatte er angemahnt, und "keinen Schmuck". Trotzdem bleibt der Kontrast offensichtlich. Das merken auch die Passanten: "Zwei Weiße, das müssen Cops sein", sagt einer, ein Lächeln im Gesicht. Denn hier in der Bronx respektieren sie Arnade. Den Wall-Street-Banker.
Unbehelligt strebt er auf ein eingerüstetes Haus zu. Fenster und Tür sind zugemauert. Davor eine Frau im neonpinken Top inmitten eines Gepäckhaufens. "Pepsi, wie geht es dir? Lass dich drücken", ruft Arnade, umarmt sie und gibt ihr eine Zigarette. Zwei Tage zuvor hatte er Pepsi unter der Treppe zum ehemaligen Hauseingang kauernd gefunden, aufgelöst und verzweifelt. Die Polizei hatte das besetzte Haus geräumt und sie samt ihren Mitbewohnern auf die Straße gesetzt.
Takeesha war die erste Prostituierte, die Vertrauen zu Chris Arnade ...   Takeesha war die erste Prostituierte, die Vertrauen zu Chris Arnade fasste und ihm ihre Geschichte erzählte: mit elf von der Mutter auf den Strich geschickt, mit 13 vergewaltigt, drogenabhängig
Beide Leben könnten unterschiedlicher nicht sein. Und unter normalen Umständen hätten sie sich auch nie gekreuzt. Pepsi ist heroinabhängig. Ihre kurze Schlafanzughose mit dem rosa Muster entblößt verkrustete Hautekzeme, Beine und Arme sind übersät mit Einstichen. Zur Finanzierung ihrer Sucht geht sie auf den Strich, im Industriegebiet von Hunts Point, New Yorks Stadtbezirk mit der höchsten Kriminalitätsrate.
Arnade ist Devisenhändler bei der Citigroup , seit fast zwei Jahrzehnten, wohlgenährt. Der 47-Jährige lebt mit Frau und drei Teeenietöchtern in Brooklyn Heights, einer der besten Wohngegenden der Stadt. Gegenüber des Finanzviertels, Blick auf die Freiheitsstatue. Doch mehrmals pro Woche fährt er in die Bronx. Und fotografiert das Leben und die Menschen im ärmsten Viertel der Stadt. Darunter viele drogenabhängige Prostituierte. "Ich bin einfach am glücklichsten an den Orten, wo ich eigentlich nicht sein sollte." Arnade ist neugierig, aber er ist auch enttäuscht. Von der Politik, die die Verwahrlosung ganzer Stadtteile zulässt. Seine Fotos sollen Aufmerksamkeit schaffen.
"Du siehst heute wirklich viel besser aus", sagt Arnade, während er ein Porträt von Pepsi schießt. Kokett wehrt sie ab: "Ich sehe schrecklich aus, wenn ich auf Drogen bin." Dann kommen ihr die Tränen. "Ich schäme mich vor meinen Kindern. Wenn die mich so sehen könnten. Ich möchte wirklich clean werden. Ich bin doch intelligent und weiß es besser. Aber ich habe Angst vor der Veränderung - was wirklich dumm ist, weil Veränderung eigentlich gut ist." Arnade nickt. "Hunts Point zu verlassen bedeutet, eine Familie zu verlassen, die die eigene ersetzt hat." Aus vielen Gesprächen weiß der Hobbyfotograf von der traumatischen Kindheit und Jugend der Süchtigen. "Nichts würde mich glücklicher machen, als dich gesund und glücklich fort von hier zu sehen", sagt Arnade zu Pepsi. Bevor er weiterzieht, drückt er ihr eine Kippe und einen 20-Dollar-Schein in die Hand.
Fotograf Chris Arnade   Fotograf Chris Arnade
Arnade gibt nicht viel auf die Wall-Street-Lebensgestaltung. Golfklubs und Segeltrips, Wochenenden in den Hamptons, Partys und Dinners. "Damit kann ich einfach nichts anfangen." Und die Drogen erst. Da sehe man, wie kaputt das System sei, sagt Arnade, die Rassentrennung bestehe weiter, subtiler. An der Wall Street wird eingeworfen und geschnupft, nie würde jemand dafür drankommen. "In Hunts Point aber halten Polizisten die Jugendlichen an und filzen sie. Wenn sie nur ein bisschen Gras finden, hat das schwerwiegende Konsequenzen." Junge Menschen würden in die Kriminalität getrieben. "Sie sind davon umgeben, Prostitution ist für junge Frauen normale Arbeit. Einige sind sogar stolz, wenn sie endlich anfangen zu ,arbeiten‘ und damit selbstständig werden."
Das zu dokumentieren ergab sich für Arnade ganz natürlich. Die Neugier auf andere Menschen liegt in der Familie, Vater Arnade war Geschichtsprofessor und Bürgerrechtler, die Familie zog häufig um, Afrika, Nepal, UdSSR. Auch von Schicksalsschlägen blieb sie nicht verschont: In Berlin liegen drei Stolpersteine, die an in Auschwitz ermordete Arnades erinnern.
Sooft er konnte, war der Banker am Wochenende stundenlang durch ungewöhnliche Gegenden spaziert. Vor ein paar Jahren nahm er dann seine Kamera mit. Seitdem hat sich das Hobby deutlich ausgeweitet: Bis zu fünfmal in der Woche setzt Arnade sich ins Auto, die Kamera dabei und postergroße Abzüge seiner Fotos, die er den Porträtierten schenkt. Die Aufnahmen seien ein guter Weg, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, sagt Arnade. Zuerst hatte er in Hunts Point einst das Vertrauen der Prostituierten Takeesha gewonnen, bald waren immer mehr Menschen bereit, mit ihm zu reden. Heute kennt ihn fast jeder.
Der süchtige Michael floh vor seinem prügelnden Vater. "Auf ...   Der süchtige Michael floh vor seinem prügelnden Vater. "Auf der Straße bekomme ich die Aufmerksamkeit, die ich zu Hause nie hatte"
Michael etwa, den Pepsi ihren "Bruder" nennt. Mit 15 rannte er von zu Hause weg. "Mein Vater war ständig drauf und hat mich verprügelt." Als Kind wurde er missbraucht. "Meine Eltern meinten: ,Wenn du nicht schwul wärst, wär das nicht passiert.‘" Heute lebt er auf der Straße, in einem Innenhof unter einer Autobahnbrücke, erreichbar nur durch einen Tunnel, so niedrig, dass man hindurchkriechen muss. Mit Blumen hat er ein wenig Fröhlichkeit dekoriert, die gebrauchten Spritzen entsorgt. Als Shelley geht Michael auf den Straßenstrich und sagt: "Wenn mein Vater stirbt, werde ich auf die Beerdigung gehen, um sich sicher zu sein, dass er wirklich tot ist." Und: "Seit mehr als 20 Jahren bin ich hier. Das ist die Kultur von Hunts Point. Dieser Ort ist die Hölle."
Ein paar Straßen von Pepsis Lager entfernt hat sich eine Mädchengruppe um ein parkendes Auto versammelt. Eines klettert gerade auf die Motorhaube, sie biegt sich unter ihrem Gewicht. Aber das stört hier niemanden. Von oben schaut sie zu, wie einem anderen Mädchen der wirre Afro zu Cornrows geflochten wird. Arnade fotografiert die Szene. Ob er schon die junge Hure mit den zwei gebrochenen Armen gesehen habe, fragen die Teenager. Sie sei von ihrem Zuhälter verprügelt worden. "Wie soll sie denn jetzt arbeiten?" Gelächter.
Gewalt ist allgegenwärtig in Hunts Point. Arnade wurde bereits zweimal mit dem Messer bedroht, einmal von einem Zuhälter. "Und der andere war einfach völlig verrückt." Sorgt sich seine Familie da nicht? "Meine Frau unterstützt mich sehr und lässt mich einfach machen", sagt Arnade. "Als sie mich geheiratet hat, wusste sie ja, dass ich ein bisschen komisch bin."
Einige Hundert Dollar kostet ihn sein Hobby jeden Monat, das Benzin, die gelegentlichen Geldgeschenke, die Entwicklung der Aufnahmen. "Na und?", Arnade zuckt mir den Schultern, "andere Leute spenden." Sein Gehalt ist hoch genug, und aufgeben will er seinen Job für das Hobby nicht. "Ich liebe die Wall Street einfach", sagt er. Und selbst wenn er deren Freizeitgestaltung nicht teilt, schwärmt er doch von der Zusammenarbeit mit seinen intelligenten Kollegen. Sogar für die Belange der Armen kann er sie interessieren, die Charity-Kultur ist unter Bankern so verbreitet wie Partyexzesse. Mit raus nach Hunts Point fährt deshalb aber noch längst keiner.
Immer öfter nimmt Arnade eine Autorin mit auf seine Touren, sie soll die Schicksale der Bewohner dokumentieren, ein Buch ist geplant. Arnade selbst postet Bilder und ungefilterte Erzählungen bei Facebook und Flickr, er bloggt, auch eine Ausstellung gab es schon. "Regelmäßig hierher zu kommen macht mich immer politischer", sagt er. "Das sind Menschen, die sonst keine Möglichkeit haben, ihre Geschichte zu erzählen."
  • FTD.de, 30.09.2012
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