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Merken   Drucken   13.10.2012, 11:00 Schriftgröße: AAA

Blinde Aktivisten: Schützt die Natur vor den Naturschützern!

Umweltaktivisten handeln oft irrational: statt mit ihren Forderungen Tiere und Pflanzen zu beschützen, nehmen sie ihnen mit blinden Forderungen Lebensräume. Ein Essay
© Bild: 2012 DPA/Patrick Seeger
Kommentar Umweltaktivisten handeln oft irrational: statt mit ihren Forderungen Tiere und Pflanzen zu beschützen, nehmen sie ihnen mit blinden Forderungen Lebensräume. Ein Essay von Josef Reichholf
 
Josef Reichholf ist Ökologe und Buchautor. Er lehrte 30 Jahre lang Naturschutz an der Technischen Universität München und war in nationalen und internationalen Organisationen tätig.

Die öffentliche Wertschätzung des Naturschutzes geht seit den 1990er-Jahren drastisch zurück, ohne dass nennenswert gegengesteuert wird. Das hat Gründe: Industrie, Baumaßnahmen und Verkehr, die alten, für das Selbstverständnis fundamentalistischer Naturschützer unentbehrlichen Feinde, werden weiterhin mit allen Mitteln bekämpft. Auch mit solchen, für die keiner mehr Verständnis aufbringen kann. Wie geschehen beim Kampf gegen Stuttgart 21 mit dem Juchtenkäfer, der dort peinlicherweise in Platanen sein Überleben gesichert bekommen sollte, obwohl diese zu den fremden Pflanzenarten zählen, die nach Naturschützermeinung "nicht hierher gehören". Längst reicht eine der Tausenden, häufig nur von Spezialisten zu erkennenden "Rote-Liste-Arten", um Großprojekte zu verzögern.
Josef Reichholf   Josef Reichholf
Eines der vielen Beispiele ist der Weiterbau der Autobahn 94 durch das - alles andere als naturnahe - bayerische Isental mit seinen mit Gülle überdüngten Wiesen, den riesigen Maisfeldern und weithin sichtbaren Solaranlagen in Südhanglage. Für die Naturschützer, die sich gegen den Bau dieses Autobahnverbindungsstücks jahrzehntelang erfolgreich zur Wehr gesetzt hatten, zählen nicht einmal die Verkehrstoten, die das alte Bundesstraßenstück in den Jahrzehnten der Bauverzögerung gekostet hat. Ob solche Straßen- und Grabenkämpfe den zu schützenden Tieren und Pflanzen genützt haben, spielt keine Rolle. Der Nachweis des Nutzens unterbleibt. Das gilt auch für kostspielige Ausgleichsmaßnahmen, ohne die es keine Baugenehmigung geben würde.
Liegt Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler also richtig, wenn er Hemmnisse dieser Art wenigstens für den beschleunigten Ausbau von Hochspannungsnetzwerken, Windkraftanlagen und Solarenergie beseitigen möchte, um die Energiewende voranzutreiben? Sein Ansinnen stellt die logische Folge der Dresdner Elbbrückendiskussion, von Stuttgart 21, diversen Autobahn- und anderen Straßenbauverzögerungen oder der Privilegierung von Wanzen- oder Hamstervorkommen bei städtischen Baumaßnahmen dar.
Ein kurzer Blick auf die wirklichen Gründe für den Artenrückgang und den Verlust naturnaher Lebensräume (Biotope) für Tiere und Pflanzen in unserem Land: Die entsprechenden Analysen liegen seit Ende des letzten Jahrhunderts vor, werden aber nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Hauptverursacher ist mit weitem Abstand die Landwirtschaft. Je nach Region sind ihr 75 bis 90 Prozent der Rückgänge anzulasten. Die Agrarlandschaft unserer Zeit ist eine Artenwüste.
Berlin, Hauptstadt der Nachtigallen
Im Vergleich dazu bilden die Städte Zentren blühenden Lebens; je größer, desto vielfältiger. In Berlin leben mehrere Millionen Vögel von rund zwei Dritteln aller Arten, die es in Deutschland gibt. Berlin darf sich mit über 1000 singenden Vogelkehlen dieser Art die Hauptstadt der Nachtigallen nennen. Auf dem Gelände des Münchner Großflughafens gibt es mehr Lerchen als an jedem anderen Ort vergleichbarer Flächengröße in ganz Bayern. Feldhasen hoppeln vielerorts bald mehr im Siedlungsbereich der Menschen als draußen auf der offenen Flur. Über 600 verschiedene Arten von Schmetterlingen sind im Münchner Stadtgebiet nachgewiesen. In anderen Städten gibt es ähnlich viele oder vielleicht noch mehr, wenn nur intensiv genug nachgeforscht würde. Auf jeden Stadtbewohner kommt durchschnittlich ein Vogelpaar mit seinem Nachwuchs.
Die bebaute, vom Menschen von Grund auf umgestaltete Welt der Städte, Industriegebiete und großen Verkehrstrassen ist bei all ihrer Naturferne für den Großteil der bei uns frei lebenden Tier- und wild wachsenden Pflanzenarten viel attraktiver als das "grüne" Land. Die Natur meidet die agroindustriellen Monokulturen. Sogar Großflughäfen stehen besser da als das landwirtschaftlich genutzte Land, auf dem sie erbaut wurden. Dem Münchner Großflughafen bringt es jedoch anscheinend nichts, dass er in der Artenbilanz den vorherigen Ausgangszustand bei Weitem übertrifft. Die dritte Start-und-Lande-Bahn, die von Anfang an geplant gewesen war, gilt erneut als schwerwiegender Eingriff. Dass die Reaktionen der Tier- und Pflanzenarten Anderes besagt, zählt im Genehmigungsverfahren nicht.
Der Artenschutz wird dabei lediglich vorgeschoben und für andere Interessen instrumentalisiert. Kein Wunder, dass der Naturschutz in weiten Kreisen der Bevölkerung längst ähnlich unbeliebt ist wie Atomkraftwerke bei Naturschützern. Was Baumaßnahmen nachweisbar in der Tier- und Pflanzenwelt verändern, ist mengenmäßig so geringfügig im Vergleich zur Landwirtschaft, dass es für den Fortbestand der Arten nicht ins Gewicht fällt. Bei kritischer Sichtung der Befunde lässt sich bei uns kaum ein Fall finden, in dem Baumaßnahmen, Siedlungstätigkeit und Verkehr nachhaltig negative Auswirkungen auf seltene Arten hatten.
Wohl aber schadete der Natur- und Landschaftsschutz vielen Arten. So verloren Frösche, Kröten, Molche, Libellen, Kleinfische und viele andere Wassertiere ihre Lebensräume, weil vom Naturschutz örtliche Abgrabungen von Kies und Sand als "Eingriffe" verhindert wurden. Sie galten als "Wunden in der Landschaft", die nicht gerissen werden durften, obgleich ein wesentlicher Teil der heute als gefährdet eingestuften Artenvielfalt jahrhundertelang davon profitiert hatte. Wenn schon Abbau, weil der Rohstoffbedarf gegeben war, dann nur noch im Großen nach entsprechenden Regionalplanungen. Die Becken eignen sich nach Abschluss des Abbaus als Naherholungsgebiete. Oder die Abbauflächen mussten mit hohem finanziellem Aufwand wieder rekultiviert werden. Denn als "Eingriffe" störten sie das Auge mancher Zeitgenossen.
Dieser Bepflanzungs- und Gestaltungswahn, gefördert von der Haltung des Naturschutzes zu den "Eingriffen in den Naturhaushalt", hat viel mehr Arten geschadet und sie auf die Roten Listen gebracht als die üblichen Baumaßnahmen. In unseren ansonsten so intensiv genutzten Landschaften sind es gerade die Eingriffe, die Neuland schaffen. Es sollte möglichst sich selbst überlassen bleiben. Der Artenschutz würde davon profitieren. Stattdessen wird nach wie vor gegen alles und jedes mit dem Phantom des Naturhaushalts argumentiert, den es so gar nicht gibt. Im Gegenteil: Der Zustand, der nicht verändert werden soll und, wenn doch, der Ausgleichsregelung unterzogen werden müsse, ist bereits ein von Menschen gemachter Zustand.
Nichts besagt, dass dieser der beste aller möglichen Zustände ist. Ausgeglichen wird daher allenfalls ein vorübergehender Zustand mit etwas, das gleichfalls nicht von Dauer ist. Schon gar nicht in einer Kulturlandschaft. Frühere Eingriffe gelten heute als höchst erhaltenswerte Zustände, wie etwa Streuobstwiesen oder alte Mühlenteiche. Heftig bekämpfte Stauseen wurden Naturschutzgebiete von internationalem Rang.
Der Naturschutz hält die Menschen fern
Soll also der Naturschutz außer Kraft gesetzt werden? Ganz gewiss nicht, denn die Erhaltung schöner Landschaften, naturnaher Biotope und einer vielfältigen Tier- und Pflanzenwelt ist vielen Menschen ein Anliegen. Das muss gefördert werden. Nur, der Naturschutz hat leider weithin das Gegenteil bewirkt. Er hält die Menschen von der Natur fern, erschwert ihnen oder unterbindet den Zugang zum Erlebnis Natur durch den Aussperrnaturschutz in Schutzgebieten oder durch die Einschränkungen des Artenschutzes. Doch was man nicht erleben darf, wird man auch nicht schützen wollen. Der Naturschutz braucht dringend ein Umdenken: weg von Verboten und Verhinderungen und hin zu verstärkter Zuwendung der Menschen zur Natur, angefangen bei Kindern und Jugendlichen. Wenn sich der Naturschutz gegen Baumaßnahmen wendet, muss die Begründung nachvollziehbar sein und anschließend der Nachweis erbracht werden, dass die Gegen- oder Ausgleichsmaßnahme erfolgreich war.
Viel zu viel Geld, das wirkungsvoller für den Naturschutz eingesetzt werden könnte, wird gegenwärtig weitgehend nutzlos ausgegeben. Die Erfolgskontrolle muss öffentlich gemacht werden. Artenschutz darf nicht länger als Instrument zur Vertretung von Privat- oder Gruppeninteressen verwendet werden. Verwaltungsgerichte sollten die Verfahrensverschleppung nicht weiter akzeptieren oder gar fördern. Ein von der Allgemeinheit breit getragener Naturschutz gerät nicht in die Gefahr, dass er als von der Öffentlichkeit geschätztes Gut kurzfristigen Partikularinteressen geopfert wird. Eine Windkraftstromleitung wird man nicht durch den Kölner Dom bauen und mit Maisfeldern für Biodiesel auch keine Stadtparks ersetzen wollen. Dass den Naturschutzgebieten jetzt solche Gefahren drohen, liegt am Naturschutz selbst. Zu sehr hat er den Menschen als den großen Feind und Zerstörer abgestempelt und bei dieser menschenverachtenden Haltung zu wenig Freunde gefunden.
  • Aus der FTD vom 13.10.2012
    © 2012 Financial Times Deutschland
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