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Merken   Drucken   25.10.2012, 14:48 Schriftgröße: AAA

Wahlen in der Ukraine: Europas Reifetest in Kiew

Kommentar Die EU muss sich bei der Wahl in der Ukraine entscheiden, ob sie das Land an Russland verlieren will. von Nils Kreimeier 
Demonstranten tragen am 30. Juli die ukrainische Flagge vor dem ...   Demonstranten tragen am 30. Juli die ukrainische Flagge vor dem Parlament in Kiew
Es gibt Orte, an denen die Europäische Union noch Fans hat. Da gilt sie nicht als zerstrittener, verlogener, überschuldeter Haufen von Ländern, als der sie derzeit in Deutschland gern dargestellt wird - sondern als ein Garant für Demokratie, Freiheit und vor allem Rechtssicherheit.
Die Rede ist nicht vom Nobelpreiskomitee in Oslo, sondern von den Nachbarn der EU im Osten. In Moldawien, Weißrussland oder der Ukraine gilt das europäische Projekt nach wie vor als attraktiv, es dominiert die Sehnsüchte vieler Menschen, und es wirkt als Anreiz für Reformen. Hier hat die EU tatsächlich Macht. Die Frage aber ist, ob sie sich dieser Macht bewusst ist. Seit die USA unter Präsident Barack Obama ihr Engagement in Europa zurückgefahren haben, ist die Union der einzige Akteur in der Region, der noch Einfluss nehmen kann. Sie hat mehr Spielraum, aber sie ist damit auch auf sich allein gestellt.
Das ukrainische Parlament mit einem überdimensionalem Poster der ...   Das ukrainische Parlament mit einem überdimensionalem Poster der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko
In der Ukraine, wo am Sonntag ein neues Parlament gewählt wird, hat die herausragende Stellung der Union zu einer merkwürdigen Situation geführt. Das eigentliche Wahlergebnis verspricht kaum Überraschungen, und ein Regierungswechsel ist unwahrscheinlich. Wirkliche Sprengkraft aber birgt der Tag nach der Wahl, an dem die Beobachter aus EU, Europarat und OSZE ihr Urteil über den Verlauf der Abstimmung fällen.
Dabei spielt nicht nur die Frage eine Rolle, ob es zu Manipulationen oder Einschüchterungen bei der Wahl selbst kam. Interessant ist vor allem, welche Bedeutung der Haftstrafe von Julia Timoschenko beigemessen wird. Die Oppositionsführerin war unter dubiosen Umständen verurteilt worden und konnte den Wahlkampf daher nur aus dem Gefängnis verfolgen. Wie stark dieser Umstand aus Sicht der Beobachter die Wahl beeinflusst hat, kann den Ausschlag für die Bewertung geben.
Selten zuvor aber hatte ein derartiges Urteil eine solche Bedeutung. Bezeichnet die EU die Wahl als weitgehend demokratisch und fair, kommt sie kaum umhin, ein bereits fertiges Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zu unterzeichnen und auf den Weg zu bringen. Ratspräsident Herman Van Rompuy hatte die Abstimmung lange zuvor als "Lackmustest" für das Land bezeichnet. Kommen die Europäer aber zu einem negativen Ergebnis, dann kann es auf absehbare Zeit kein Abkommen geben - und damit auch keinen erweiterten Freihandel mit der EU.
Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch gestikuliert bei ...   Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch gestikuliert bei einer Pressekonferenz in Kiew
Das hätte für die Ukraine gravierende Folgen. Da das Land sich eine wirtschaftliche Isolation kaum leisten kann, wäre es vermutlich dazu gezwungen, sich dem russischen Projekt einer Zollunion anzuschließen. Dies käme angesichts des zunehmend autoritären Auftretens der russischen Führung einem Abschied von Europa und seinen Rechtsnormen gleich. Wer behauptet, hier finde kein Tauziehen statt, der hat die Spielregeln noch nicht verstanden: Moskau hat der Ukraine bereits niedrigere Gaspreise als Belohnung für einen Beitritt zur Zollunion angeboten.
Die EU steht also vor einer Entscheidung von gewaltiger Tragweite. Entlässt sie ein Land mit knapp 45 Millionen Einwohnern und strategischer Bedeutung dauerhaft aus ihrem Einflussbereich? Oder versucht sie, die Ukraine enger an sich zu binden, und setzt damit das zivilisatorische Projekt fort, das mit der Aufnahme Polens, Tschechiens und anderer Staaten des früheren Ostblocks vor acht Jahren begonnen hat?
Die Antwort hat erstaunlicherweise die inhaftierte Timoschenko selbst gegeben. Schon als das Verfahren gegen sie begonnen hatte, rief die Oppositionsführerin dazu auf, das Abkommen zwischen Ukraine und EU voranzutreiben - obwohl bereits klar war, dass sich die Bürgerrechtslage unter der amtierenden Regierung deutlich verschlechtert hatte. Diesen Appell sollte die EU sich zu Herzen nehmen, auch wenn er vielleicht dem Versuch Timoschenkos entsprang, sich ihren Landsleuten als selbstlose Politikerin zu präsentieren.
Der Vertrag mit der Ukraine bietet eine große Chance, Einfluss auf die Entwicklung im Land zu nehmen. Das damit verknüpfte Freihandelsabkommen geht weit über das hinaus, was die EU anderen Nachbarstaaten in der Vergangenheit angeboten hat. Aber es verpflichtet die Ukraine auch, sich den Normen der Gemeinschaft anzupassen, vor allem, was den Marktzugang und die Rechtssicherheit für Unternehmen angeht.
Dies sind - so viel ist klar - noch keine Kriterien für eine funktionierende Demokratie. Aber sie können immerhin einen Hebel dafür liefern, den ukrainischen Rechtsstaat zu stärken. Und genau das ist es, was für viele Bürger der früheren Sowjetunion die Anziehungskraft der EU ausmacht: das Versprechen, sein Recht durchsetzen zu können und nicht der Willkür einer Behörde ausgeliefert zu sein. Es ist der erste Schritt zu einer echten Bürgergesellschaft, die in Osteuropa auf solch große Hindernisse trifft.
Allerdings muss den Vertretern der Europäischen Union auch klar sein, dass eine Entscheidung für ein Abkommen großes Fingerspitzengefühl erfordert. Kommission und Rat müssen so weit wie möglich vermeiden, dass die Regierung in Kiew einen solchen Vertrag als Anerkennung ihrer Reformleistung interpretiert - denn das kann sie beim besten Willen nicht sein. Genau besehen ist es ein Aufruf, mit den Reformen überhaupt erst zu beginnen. Diese Botschaft muss Europa vermitteln. Denn es ist niemand da, der es sonst tun würde.
  • Aus der FTD vom 26.10.2012
    © 2012 Financial Times Deutschland
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