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Merken   Drucken   26.10.2012, 12:01 Schriftgröße: AAA

Neuwahl des Politbüros: Chinas moralischer Verfall

Kommentar Manch westlicher Manager überschlägt sich vor Begeisterung über die vermeintlich gut geölte Planmaschinerie Chinas. Für die Bevölkerung ist es dagegen eine Sensation, wenn einem Unfallopfer geholfen wird. Deshalb beginnt in höchsten KP-Kreisen eine Diskussion über Moral - mit ungewohnt offenen Worten. Ein Essay von Ruth Fend 
Vor Kurzem füllte eine chinesische Regionalzeitung ihre Titelseite mit einem Ereignis, das offenbar eine kleine Sensation war. Ein Mann fiel vom Fahrrad, holte sich eine blutige Nase - und fremde Leute halfen ihm doch tatsächlich auf und brachten ihn danach sogar ins Krankenhaus. Die Öffentlichkeit kam in den Genuss dieser Information, weil zufällig Journalisten anwesend waren und die stolzen Bewohner ihnen eifrig Rede und Antwort standen: "Wenn jemand woanders in China auf der Straße stürzt, wird ihm niemand helfen!", sagte ihnen ein Einheimischer stolz.
Warum soll uns heute interessieren, dass in der chinesischen Provinz ein Mann mit einem Fahrrad umfällt - wo doch früher ein in China umfallender Sack Reis der Inbegriff für Bedeutungslosigkeit war? Die chinesische Wahrnehmung dieser Samariter verrät einiges über den Zustand eines Riesenreichs, das in den nächsten Tagen vor einem monumentalen Führungswechsel steht.
Am 8. November soll der Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KP) ein neues Politbüro bestimmen, den Machtzirkel der Partei. Anders als früher allerdings hat die Welt dieses Jahr - dank hollywoodreifer Skandale mit Mord, Sex und Geld rund um den Sturz des Politstars Bo Xilai - eine Ahnung erhalten, was hinter den Kulissen passiert. Und doch bleibt das System immer noch eine Blackbox: Wer die kleine Schar an neuen Männern mit schwarz nachgefärbten Haaren sind, was sie wollen, wofür sie stehen, darüber lässt sich von außen nur spekulieren. Ein Essay in einer Parteizeitschrift lässt nun jedoch erahnen, wohin die neue Führung das Milliardenreich in den nächsten zehn Jahren steuern könnte. Vor allem in der Art, wie es den Zustand des Landes beschreibt und die vergangenen zehn Jahre unter Staatsoberhaupt und Parteichef Hu Jintao und Premier Wen Jiabao bewertet.
Es ist ein Problem, wenn es in China als außergewöhnliche Sensation wahrgenommen wird, dass einem Verletzten mal auf der Straße geholfen wird. Nicht für westliche Manager, die sich vor Begeisterung über Pekings vermeintlich gut geölte Planmaschinerie überschlagen, weil sie bis vor Kurzem zuverlässig zweistellige Wachstumsraten produzierte. Sondern für viele Chinesen selbst - auch solche in hohen politischen Funktionen. Die Episode ist ein Sinnbild für einen moralischen Verfall des Landes.
Chinas Staats- und Parteichef Hu Jintao (r) und Premier Wen Jiabao   Chinas Staats- und Parteichef Hu Jintao (r) und Premier Wen Jiabao
Womit der Fahrradfahrer normalerweise hätte rechnen müssen, zeigen zahlreiche andere Schockmeldungen. Vergangenes Jahr etwa ging ein Video von einem kleinen Mädchen um die Welt, das gleich zweimal von einem Lieferwagen überfahren wird und an dem Minuten lang Passanten ungerührt vorbeigehen. Dazu kommt nahezu jeden Tag ein neuer Lebensmittel- oder Umweltskandal, verursacht durch Korruption und Vetternwirtschaft. Für immer mehr Chinesen hat das Land bei seiner ökonomischen Aufholjagd irgendwo den moralischen Kompass verloren. Jeder misstraut jedem, mit Geld und Einfluss lässt sich alles kaufen. Hu Jintaos Konzept einer "harmonischen Gesellschaft" dient Bloggern inzwischen regelmäßig als Steilvorlage für schwarzen Humor im Internet.
To-do-Liste für die neue Führung
Doch nicht nur im Internet taucht Kritik auf, sondern inzwischen auch von Vertretern des Systems. "Die während der Revolution entwickelte Ideologie ist bankrott", heißt es in einem bemerkenswerten Essay, das kürzlich erschien. "Die Gesellschaft hat keine leitenden Prinzipien mehr." Der moralische Verfall sei eins der "zehn schwerwiegenden Problemen Chinas". Verfasst hat diese Fundamentalkritik Deng Yuwen, Mitherausgeber der Wochenzeitung "Study Times". Die Zeitschrift ist eine Publikation der Zentralen Parteischule in Peking, der Eliteschule der KP Chinas. Deren aktueller Präsident ist immerhin Xi Jinping, die künftige neue Nummer eins Chinas: Auf dem Parteitag im November dürfte er Generalsekretär der KP werden, das höchste Amt der Partei, und im März dürfte er Staatspräsident Hu Jintao ablösen. Da es keine Hinweise darauf gibt, dass Deng lebensmüde war, als er seine Moralkritik verfasste, muss man davon ausgehen, dass er sie mit Xis Rückendeckung veröffentlichte. Womöglich ist er sogar eine Art Sprachrohr für dominierende Teile der neuen Parteiführung - selbst wenn der Essay nur auf der Webseite des Wirtschaftsmagazins "Caijing" erschien und kurze Zeit später zensiert wurde. Sehen wir Dengs Analyse der "zehn schwerwiegenden Probleme" des Landes daher mal als eine Art "To-do-Liste" für die neue Führung.
Da ist zum Beispiel die Einkindpolitik, die trotz zahlreicher Ausnahmen und Verwässerungen weiterhin in China gilt. Es ist schwer begreiflich, dass Peking die staatliche Familienplanung aufrechterhält, obwohl selbst Wissenschaftler im eigenen Land vor einer kommenden Vergreisung warnen, weil zu wenige Kinder geboren werden. Wäre es eine Blamage für die Partei, die Einkindpolitik abzuschaffen? Nein. Denn sie war ausdrücklich nur für 30 Jahre angelegt, diese Frist ist vor zwei Jahren abgelaufen. Möglicherweise will die abtretende Führung ihren Nachfolgern aber auch nur ein Problem überlassen, bei dem diese leicht und rasch eine dramatische Reform angehen können.
Xi Jinping   Xi Jinping
Ob es die moralische Krise ist, die Einkindpolitik oder die Verkrustungen im staatslastigen Wirtschaftssystem: Dengs Urteil ist so vernichtend wie eindeutig: "Das Land hat mehr Probleme als Errungenschaften erlebt. Diese Probleme resultieren ausnahmslos aus dem Widerwillen, politische Reformen auf den Weg zu bringen." Das ist die Beschreibung eines verlorenen Jahrzehnts. Anstatt wie üblich die spektakulären Wachstumszahlen der chinesischen Wirtschaft zu preisen, wird die strukturelle Stagnation des Landes angeprangert.
Reformen spielen für die Chinesen aber eine andere Rolle, als es im Westen wahrgenommen wird: Europäer und Amerikaner sehen in politischer Öffnung und Liberalisierung so etwas wie eine Beruhigungspille, die Chinas Diktatoren dem Volk verabreichen werden, wenn die Bürger sich irgendwann nicht länger mit materiellem Wohlstand abspeisen lassen. Für die Kritiker im Land dagegen sind Reformen existenziell, um den Aufschwung überhaupt noch zu ermöglichen und die Gesellschaft zusammenzuhalten. Reformen machen Wachstum erst möglich - nicht umgekehrt.
Seit zehn Jahren versprochen
Der anstehende Führungswechsel ist nur einer von zwei Gründen, warum Reformaufrufe gerade Hochkonjunktur haben. Der zweite ist, dass die Wirtschaft immer weniger wächst: Die alte Führungsmannschaft konnte es sich dank des Booms leisten, wirtschaftliche wie politische Reformen aufzuschieben. Zwar verkündeten Hu und Wen regelmäßig, Chinas Wirtschaft so umzubauen, dass sie sich mehr auf heimischen Konsum und höherwertige Produktion stützen würde. Doch zehn Jahre lang sorgten vor allem staatliche Großinvestitionen in die Infrastruktur und Exporte von Billigwaren für ein Turbowachstum. Nichts von dem erfolgte, was Wirtschaftsexperten seit Jahren empfehlen: den Staatskonzernen ihre Macht zu nehmen oder das Finanzsystem zu liberalisieren, um so die Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung zu steigern. Aber warum sollte sich die Führung in Peking dazu auch aufraffen, wenn das Wachstum auch so zu haben war?
Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo die Folgen des so rasanten wie unausgeglichenen Wachstums ohne politischen Wandel für alle sichtbar werden: Die Kluft zwischen Arm und Reich ist obszön, die Umweltschäden unerträglich. Aufgeblähte Häuserpreise verwehren jungen Mittelschichtsfamilien ihr ersehntes Eigenheim. Und wegen der Wachstumskrise müssen Hochschulabgänger sich erstmals ernsthaft Sorgen machen, keinen Job zu finden.
Die neue Parteiführung und Denker wie Deng schüren das Krisenbewusstsein sogar ganz unverhohlen. Denn sonst dürfte es ihr schwerfallen, umstrittene und riskante politische Reformen anzupacken und intern durchzusetzen. Und wenn es etwas gibt, das dieses Bewusstsein schaffen dürfte, dann ist es der Mix aus enttäuschten Wohlstandserwartungen und einem gefühlten Wertevakuum - ein Mix, der für Chinas Einparteienstaat brandgefährlich werden kann. Die Medizin, die der Parteischulsoldat Deng fordert, erscheint zunächst radikal: "Die Lösung all dieser Probleme liegt in der Reform des politischen Systems. Die Regierung sollte daher mutig sein und kühne Schritte unternehmen, Chinas politische Reform und Demokratie zu realisieren."
So kühn solche Rhetorik in westlichen Ohren allerdings klingen mag: Auch der Autor stellt damit noch nicht das Einparteiensystem als solches infrage. Freie Wahlen propagiert er zunächst nur auf Kreisebene - so wie es auch Hu Jintao und Wen Jiabao zu Beginn ihrer Amtszeit taten. Aber die Marschrichtung ist klar. Und nur knapp einen Monat vor dem Machtwechsel solch harsche Kritik zu üben ist in China mindestens so sensationell, wie einem gestürzten Fremden aufzuhelfen.
  • Aus der FTD vom 26.10.2012
    © 2012 Financial Times Deutschland
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Kommentare
  • 27.10.2012 18:29:20 Uhr   Oma Wetterwachs: Glashaus

    Wer im Glashaus sitzt sollte möglichst nicht mit Steinen werfen. Ich bin mit Sicherheit keiner der Chinafreundlich gestimmt ist aber man sollte die Kirche doch bitteschön im Dorf lassen. Der Moralische Werteverfall der in den letzten zwei Jahrzehnten in unserem Land stattgefunden hat, steht dem in China doch überhaupt nicht nach. Die Vermögensunterschiede hierzulande kann man doch auch als nur noch öbszön bezeichnen. Mehrparteiensysteme wie das unsere verhalten sich doch auch immer mehr wie eine Einheitspartei, zum Nachteil der Bevölkerung und zum Vorteil des eigenen Machterhalts. Wieso werden sonst Politiker in unserer Gesellschaft als amoralische Individuen, denen die eigenen Pfründe näher sind als das Wohl des gesamten Staatswesens, gesehen. China ist weit weg und deswegen lässt sich auch hervorragend darüber schreiben also vielleicht erst mal über die Zustände im eigenen Land anprangern, auch wenn es unbequemer ist. Auch hier ist es übrigens mit der Hilfsbereitschaft meist nicht so gut bestellt. Aber die guten Sitten verrohen weltweit doch wohl auch weil wir so hervorragende Vorbilder in allen Etagen der Macht sitzen haben.

  • 26.10.2012 13:32:01 Uhr   herbert_f: Moralischer Werteverfall
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