Chinas Staats- und Parteichef Hu Jintao (r) und Premier Wen Jiabao
Womit der Fahrradfahrer normalerweise hätte rechnen müssen, zeigen zahlreiche andere Schockmeldungen. Vergangenes Jahr etwa ging ein Video von einem kleinen Mädchen um die Welt, das gleich zweimal von einem Lieferwagen überfahren wird und an dem Minuten lang Passanten ungerührt vorbeigehen. Dazu kommt nahezu jeden Tag ein neuer Lebensmittel- oder Umweltskandal, verursacht durch Korruption und Vetternwirtschaft. Für immer mehr Chinesen hat das Land bei seiner ökonomischen Aufholjagd irgendwo den moralischen Kompass verloren. Jeder misstraut jedem, mit Geld und Einfluss lässt sich alles kaufen. Hu Jintaos Konzept einer "harmonischen Gesellschaft" dient Bloggern inzwischen regelmäßig als Steilvorlage für schwarzen Humor im Internet.
To-do-Liste für die neue Führung
Doch nicht nur im Internet taucht Kritik auf, sondern inzwischen auch von Vertretern des Systems. "Die während der Revolution entwickelte Ideologie ist bankrott", heißt es in einem bemerkenswerten Essay, das kürzlich erschien. "Die Gesellschaft hat keine leitenden Prinzipien mehr." Der moralische Verfall sei eins der "zehn schwerwiegenden Problemen Chinas". Verfasst hat diese Fundamentalkritik Deng Yuwen, Mitherausgeber der Wochenzeitung "Study Times". Die Zeitschrift ist eine Publikation der Zentralen Parteischule in Peking, der Eliteschule der KP Chinas. Deren aktueller Präsident ist immerhin
Xi Jinping, die künftige neue Nummer eins Chinas: Auf dem Parteitag im November dürfte er Generalsekretär der KP werden, das höchste Amt der Partei, und im März dürfte er Staatspräsident Hu Jintao ablösen. Da es keine Hinweise darauf gibt, dass Deng lebensmüde war, als er seine Moralkritik verfasste, muss man davon ausgehen, dass er sie mit Xis Rückendeckung veröffentlichte. Womöglich ist er sogar eine Art Sprachrohr für dominierende Teile der neuen Parteiführung - selbst wenn der Essay nur auf der Webseite des Wirtschaftsmagazins "Caijing" erschien und kurze Zeit später zensiert wurde. Sehen wir Dengs Analyse der "zehn schwerwiegenden Probleme" des Landes daher mal als eine Art "To-do-Liste" für die neue Führung.
Da ist zum Beispiel die Einkindpolitik, die trotz zahlreicher Ausnahmen und Verwässerungen weiterhin in China gilt. Es ist schwer begreiflich, dass Peking die staatliche Familienplanung aufrechterhält, obwohl selbst Wissenschaftler im eigenen Land vor einer kommenden Vergreisung warnen, weil zu wenige Kinder geboren werden. Wäre es eine Blamage für die Partei, die Einkindpolitik abzuschaffen? Nein. Denn sie war ausdrücklich nur für 30 Jahre angelegt, diese Frist ist vor zwei Jahren abgelaufen. Möglicherweise will die abtretende Führung ihren Nachfolgern aber auch nur ein Problem überlassen, bei dem diese leicht und rasch eine dramatische Reform angehen können.