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  FTD-Serie: Die Top-Ökonomen

Es gibt kaum eine heiße wirtschaftspolitische Debatte oder kluge ökonomische Analyse, in der ihr Name nicht fällt: Joseph Stiglitz, Kenneth Rogoff und Jagdish Bhagwati bilden mit einem guten Dutzend weiterer Top-Ökonomen einen einzigartigen Think Tank. So konträr ihre Ansichten auch sein mögen: Sie schreiben für eine exklusive Serie, die die FTD in Zusammenarbeit mit der internationalen Public-Benefit-Organisation 'Project Syndicate' veröffentlicht.

Merken   Drucken   01.11.2012, 10:53 Schriftgröße: AAA

Top-Ökonomen: Jeffrey Sachs - Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher

Zu Unrecht gelten die USA als Land der unbegrenzten Möglichkeiten für alle. Tatsächlich sorgt die dortige Politik dafür, dass Arme auch arm bleiben - anders als in vielen anderen Industriestaaten.
© Bild: 2012 Reuters/ERIC THAYER
Kommentar Zu Unrecht gelten die USA als Land der unbegrenzten Möglichkeiten für alle. Tatsächlich sorgt die dortige Politik dafür, dass Arme auch arm bleiben - anders als in vielen anderen Industriestaaten. von Jeffrey Sachs
Jeffrey Sachs ist Ökonom an der Columbia University in New York und Sonderberater von Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon

Die Vereinigten Staaten lassen es in grausamer Weise zu, dass ihre ärmsten Kinder leiden. Arme Menschen leben in armen Gegenden mit schlechten Schulen. Die Eltern sind oftmals arbeitslos, krank, geschieden oder gar inhaftiert. Trotz des allgemeinen Wohlstands der Gesellschaft geraten die Kinder in einen generationenübergreifenden Teufelskreis: Allzu oft werden aus Kindern, die in Armut aufwachsen, auch arme Erwachsene.
Jeffrey Sachs   Jeffrey Sachs
Ein bemerkenswerter neuer Dokumentarfilm mit dem Titel "The House I Live In" zeigt, dass die Situation in Amerika aufgrund desaströser politischer Strategien noch trauriger ist. Vor etwa 40 Jahren erklärten US-Politiker den "Krieg gegen Drogen", vorgeblich um den Konsum von Suchtmitteln wie Kokain zu bekämpfen. Tatsächlich führte der Krieg gegen Drogen zur massenhaften Inhaftierung armer junger Männer aus Minderheiten. Heute sitzen in den USA zu jedem Zeitpunkt etwa 2,3 Millionen Menschen im Gefängnis. Bei einer beträchtlichen Anzahl dieser Häftlinge handelt es sich um Einkommensschwache, die wegen des Verkaufs von Drogen einsitzen, mit dem sie ihre eigene Sucht finanzieren.
Aus diesem Grund weisen die USA die höchste Inhaftierungsrate weltweit auf - 743 Personen pro 100.000 Einwohner. Der Film beschreibt eine albtraumhafte Welt, in der die Armut von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, wobei der kostspielige und ineffiziente "Krieg gegen Drogen" den ganzen Prozess noch fördert: Arme Menschen, vielfach Afroamerikaner, finden keine Arbeit oder werden ohne Qualifizierung aus dem Militärdienst entlassen. Sie rutschen in die Armut ab und greifen zu Drogen.
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Statt jedoch ihnen sozialen Beistand und medizinische Versorgung zukommen zu lassen, werden sie eingesperrt und zu Verbrechern gestempelt. Sie haben wenige Chancen, jemals einen legalen Job anzunehmen, der es ihnen ermöglicht, der Armut zu entkommen. Ihre Kinder wachsen mit nur einem Elternteil und ohne Hoffnung auf. Aus den Kindern drogensüchtiger Eltern werden oft selbst Drogenkonsumenten. Auch sie landen oftmals im Gefängnis oder erleiden Gewalt oder einen frühen Tod.
Das Verrückte daran ist, dass die USA seit 40 Jahren offenkundig nicht verstehen, worum es geht. Um den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen, muss ein Land in die Zukunft seiner Kinder investieren und nicht in die Inhaftierung von jährlich 2,3 Millionen Menschen - wobei viele wegen Delikten einsitzen, die als Symptome der Armut zu begreifen sind. Viele Politiker sind willige Komplizen dieses Wahnsinns. Sie spielen mit den Ängsten der Mittelschicht, ihren Ängsten gegenüber Minderheiten, um die fehlgeleiteten sozialen Bemühungen und Staatsausgaben endlos fortzusetzen.
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Der Staat spielt eine einzigartige Rolle, wenn es darum geht, sicherzustellen, dass alle jungen Mitglieder einer Generation - arme Kinder ebenso wie reiche - eine Chance haben. Ohne wirksame staatliche Programme zur Förderung qualitativ hochwertiger Bildung sowie guter Gesundheitsversorgung und Ernährung kann sich ein armes Kind nicht aus der Armut seiner Eltern befreien.
Jeder Mensch verdient eine Chance, und die Gesellschaft muss jedem helfen, diese Chance zu wahren. Von größter Bedeutung ist, dass Familien Hilfe brauchen, um gesunde, gut ernährte und gebildete Kinder heranzuziehen. Die sozialen Investitionen sind hoch und werden durch hohe Steuern finanziert. Diese werden von reichen Menschen bezahlt, die sich auch nicht davor drücken. Das ist der wahre Geist der "Sozialdemokratie", einer Philosophie, bei deren Umsetzung Skandinavien eine Vorreiterrolle spielte, die aber auch in vielen Entwicklungsländern, wie etwa Costa Rica, ihre Anwendung findet.
In Schweden wird ein armes Kind von Anfang an unterstützt. Die Eltern haben Anspruch auf Elternzeit, um sich dem Baby widmen zu können. Dann stellt der Staat qualitativ hochwertige Kinderbetreuung zu Verfügung, die es der Mutter ermöglicht, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren - im Bewusstsein, dass ihr Kind in der Betreuungseinrichtung gut aufgehoben ist. Der Staat stellt sicher, dass jedes Kind einen Kindergartenplatz bekommt und so im Alter von sechs Jahren auf die Schule vorbereitet ist. Und die Gesundheitsversorgung ist allumfassend, sodass die Kinder gesund aufwachsen.
Ein Vergleich zwischen den USA und Schweden ist deshalb aufschlussreich. Aus Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geht hervor, dass die USA mit 17,3 Prozent eine Armutsrate aufweisen, die etwa doppelt so hoch liegt wie der schwedische Wert von 8,4 Prozent. Und die Inhaftierungsrate ist in den USA zehnmal höher als in Schweden, wo nur 70 Personen pro 100.000 Einwohner im Gefängnis sitzen. Im Durchschnitt sind die Vereinigten Staaten reicher als Schweden, aber die Einkommensschere zwischen Reichsten und den Ärmsten klafft in den USA viel weiter auseinander. Und die Amerikaner gehen mit ihren Armen nicht unterstützend, sondern bestrafend um. Amerika weist unter den Ländern mit hohen Einkommen heute den beinahe niedrigsten Grad an sozialer Mobilität auf. Kinder, die arm geboren werden, bleiben auch arm, während aus Kindern, die im Wohlstand aufwachsen, auch wohlhabende Erwachsene werden.
Diese generationenübergreifende Einbahnstraße kommt einer massiven Verschwendung menschlichen Talents gleich. Ändert Amerika seinen Kurs nicht, wird es langfristig den Preis dafür bezahlen. Investitionen in Kinder und junge Menschen bringen sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht die höchste Rendite, die eine Gesellschaft bekommen kann.
  • FTD.de, 01.11.2012
    © 2012 Financial Times Deutschland
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Kommentare
  • 01.11.2012 10:24:32 Uhr   Duane: Richtig!

    Wie in Deutschland in den 30er Jahren gibt es in den USA eine schwerwiegende Differenz zwischen der Demokratie auf staatlich-juristischer und auf gesellschaftlicher Ebene. Eine demokratische Gesellschaft verträgt keine "Klassen". Es bleibt nur abzuwarten, bis man sich in den USA die Augen gegenseitig aussticht. Auch in Deutschland macht man im Übrigen den Fehler, den Mittelstand zu zerstören, der das ganze System trägt. Was helfen uns untüchtige Funktionäre, korrupte Banker und Millionäre und eine weitgehend zugewanderte, überwiegend ungebildete Unterschicht?

  • 31.10.2012 23:10:05 Uhr   Dr. Rolf Froböse: Ihr Kommentar: Vom Tellerwäscher zum Tellerw...
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