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Merken   Drucken   29.11.2012, 16:27 Schriftgröße: AAA

Agenda: Spanien - Nächte des Zorns

Spanien erlebt eine Welle der Gewalt. Die Wut der Demonstranten richtet sich gegen Sparpolitik und Staat – und gefährdet sogar die Euro-Rettung. Ein Bericht aus dem Inneren der Rebellion.
© Bild: 2012 AFP/DOMINIQUE FAGET
Spanien erlebt eine Welle der Gewalt. Die Wut der Demonstranten richtet sich gegen Sparpolitik und Staat – und gefährdet sogar die Euro-Rettung. Ein Bericht aus dem Inneren der Rebellion.
von Madrid

Wie friedlich der Spielplatz an diesem Nachmittag wirkt. Wie friedlich Fernando noch wirkt. Er steht am Zaun und beobachtet seine vierjährige Tochter Carla. Sie steigt gerade auf ein Klettergerüst, kraxelt von einer Stange zur nächsten, Fernando plaudert mit anderen Eltern über die Geburtstagsfeier, die er für seine Tochter organisieren will. Carla trägt ein schwarzes Heavy-Metal-T-Shirt und eine verwaschene, schwarze Jeans, so wie ihr Vater. Kurz darauf ziehen die beiden ab. Fernando hat am Abend noch etwas vor.

Was, das ist am nächsten Tag im Fernsehen zu sehen: Krawalle auf den Straßen von Lavapies, dem Stadtteil von Madrid, nur ein paar Straßen vom Spielplatz entfernt. Demonstranten mit Steinen, Polizisten mit Schlagstöcken, blutig geschlagene Köpfe, Verletzte auf dem Asphalt. Fernando ist ein linker Anarchist, der zu Demos geht, um zu provozieren. "Heute gibt's auf jeden Fall Krawalle", hat er noch gesagt, bevor er den Spielplatz verließ. "Die Polizei kommt mit mehr als tausend Leuten. Und dann schlage ich zurück."

Spanien erlebt in diesen Tagen eine Welle der Gewalt. Die Proteste gegen den Sparkurs der Regierung flammen wieder auf, mit neuer Wucht, mit der Wut der gewachsenen Verzweiflung. Als Reaktion auf Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Milliarden für die Bankenrettung und immer neue Sparbeschlüsse. Die konservative Regierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy ist hilflos, betet den Bürgern die Sparvorgaben aus Brüssel vor. Und die Polizei reagiert mit brachialer Härte. Nach Griechenland wird jetzt auch die viertgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone zum sozialen Brandherd. Und zur Gefahr für die Euro-Rettung, sollte die Regierung unter dem Druck der Straße ihren Kurs verlassen, wie Harvard-Ökonom Dani Rodrik warnt.

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Der Protest gegen die Krisenpolitik hatte in Spanien schon 2011 begonnen, am 15. Mai, als Tausende Jugendliche im Zentrum Madrids campierten. So friedlich, dass die Weltpresse von Hippies mit Yoga-Zelten, Massageworkshops und Kindergärten schrieb. Zwar ist das Gros der "15 M Bewegung" bis heute friedlich. Aber linke Randgruppen gewinnen immer mehr Anhänger. Der Staat ist in Alarmbereitschaft, spätestens seit im Juli Bergarbeiter mit Unterstützung linker Aktivisten und mit Gewalt gegen Subventionskürzungen protestierten. Jede Demonstration kann zu neuen Krawallen führen. Wie am vergangenen Dienstag.

18.30 Uhr. Hinter den Absperrgittern vor dem Kongress stehen Tausende Demonstranten, einige halten die Hände in die Höhe als Zeichen des Friedens. Polizisten stehen ihnen gegenüber, einer neben dem anderen, mit Schlagstöcken, Helmen und Schusswaffen. Da taucht vor ihnen ein schwarz-rotes Banner auf, dahinter Anarchisten, vermummt. Sie bauen eine Front gegen die Polizisten auf, rücken näher. "Die erste Linie darf nicht durchbrochen werden", ruft einer von hinten.

Die Polizei habe gleich zugeschlagen, sagt Fernando vom Kinderspielplatz, danach. Er ist 40 Jahre alt, ein Mann mit buschigen Augenbrauen und Piercing, der schon oft Ärger mit der Polizei hatte und nicht will, dass sein richtiger Name in der Zeitung steht. In seiner Hosentasche steckt ein schwarzes Tuch, damit er sich vermummen kann, wenn es brenzlig wird.

An jenem Abend beobachtet er alles, ist diesmal nicht in vorderster Front dabei. Steine und Flaschen fliegen durch die Luft, ein Polizist wird angesprungen, ein Demonstrant tritt nach ihm, als er am Boden liegt. Mit Schlagstöcken rennt die Polizei hinter einen Mann her, prügelt auf alle anderen ein, die um ihn herumstehen. Es sieht aus wie im Bürgerkrieg. Die Zeitung "Publico" berichtet später: "Das Zentrum von Madrid verwandelte sich in eine Mausefalle." Demonstranten stürmten auf der Flucht in Hotels und Geschäfte.

Wer ist schuld an diesen Exzessen? Innenminister Jorge Fernández Díaz spricht von "extremer Gewalt". 260 Kilo Steine seien beschlagnahmt worden. 64 Personen sind laut offiziellen Angaben verletzt worden, 35 Menschen verhaftet. Die Opposition kritisiert das Polizeiauftreten als "repressiv und unverhältnismäßig". Eine Regierungssprecherin versucht zu beschwichtigen: Man müsse unterscheiden "zwischen Menschen, die demonstrieren, und denen, die gekommen sind, um Krawall zu machen".

Zusammenstöße zwischen Protestierenden und der Polizei in Madrid   Zusammenstöße zwischen Protestierenden und der Polizei in Madrid

Fernando ist einer, der Krawalle anheizt, ein Antisistema, der gegen Politik und Polizei kämpft. Der Treffpunkt des losen Zusammenschlusses der Antisistemas ist die verrauchte, dunkle Kneipe "Parrondo", direkt an der Puerta del Sol, dem Platz der Massenproteste. Linke Flugblätter mit Aufrufen zu Demos liegen auf der Theke, es gibt Tapas zum Bier und die selbst gedruckte Zeitung "Nosotros", "Wir". Da ist zu lesen, was viele hier denken: "Immer mehr Leute von uns sind in einer schwierigen Lebenssituation ohne Zukunft. Die Politik unternimmt nichts dagegen, sondern verteidigt nur die herrschende Klasse. Wir haben es satt. Das muss sich ändern." Wie sich das ändern soll, steht da nicht.

Fernando sagt, wegen der Sparprogramme würden noch mehr junge Spanier ihren Job und ihre Zukunft verlieren, er sei gegen die Rettungsmilliarden für Banken, und überhaupt gegen das etablierte System. Zu den Protesten ziehen sie in kleinen Grüppchen von zwei, drei Leuten. "Wir sind nicht organisiert", sagt er. Per SMS schicken sie sich Nachrichten, manchmal filmen sie, damit andere Antisistemas per Livestream wissen, wo gerade etwas los ist. Gerät einer von ihnen in die Mangel der Polizei, kommen die anderen, mit Steinen bewaffnet.

Im ganzen Land gründen sich gerade kleine Gruppen linker Rebellen. Sie nennen sich "Auf die Barrikaden" oder "Gefangene auf die Straße". Und mit jedem Monat, in dem die Krise die Arbeitslosenzahlen auf neue Rekordhöhen steigen lässt, wächst die Zahl jener, die sich ihnen anschließen.

Es sind vor allem junge Spanier. Jahrzehntelang hat sich die Politik nicht um sie gekümmert. Hat zugelassen, dass sich die Zweiteilung des Arbeitsmarktes zementiert hat: hier die alten, festen Arbeitsplätze, durch mächtige Gewerkschaften geschützt - und da die Zeitarbeit, in die die Jugendlichen gedrängt wurden. Sie waren die ersten, die in der Krise ihre Jobs verloren. 52,9 Prozent der unter 25-Jährigen sind arbeitslos, innerhalb der EU ist es nur in Griechenland noch schlimmer. Viele fühlen sich heute als Verlierer der Krisenpolitik: Die beschließt Kürzungen bei den Sozialleistungen, während die Banken gestützt werden. Familien werden per Hausräumung auf die Straße gesetzt, während Tausende Häuser und Wohnungen leer stehen.

Die Ideen der Systemfeinde kommen aus Barcelona. Dort wohnt auch Enric Duran, einer der Vordenker. Die Antisistemas nennen ihn den Robin Hood Spaniens. Er hat gegen das System rebelliert, als andere noch daran glaubten.

Er sitzt auf einem Klappstuhl in einem ehemaligen Wellnesscenter im Stadtzentrum, hinter ihm eine weiße Tafel. "Disobedienca economica" steht da zum Beispiel drauf, wirtschaftlicher Ungehorsam, das ist seine Expertise. Inmitten von Spaniens Immobilienboom, als Banken ohne viele Fragen Kredite vergaben, zog er von einer Bank zur anderen und nahm selbst Kredite auf. Nach zwei Monaten hatte er eine halbe Million Euro zusammen, ohne Sicherheiten. "Ich bin sicher nicht der einzige, der das gemacht hat", sagt er. "Aber ich bin der einzige, der es publik gemacht hat." Duran wollte mit der Aktion den Irrwitz des Systems offenlegen. Das hat ihn zum Star der Szene gemacht, zum Theoretiker und Ideologen der Antisistemas.

Er predigt auch Anderen wirtschaftlichen Ungehorsam. Sie sollen keine Steuern mehr zahlen, ihm ihr Geld geben. Er will eine alternative Kommune mitten in Barcelona schaffen, in eben diesem Wellness-Center: Für 1,2 Mio. Euro will er es den Banken abkaufen. Eine Schule darin gründen, Selbstversorgung vom Biobauernhof, Gesundheitszentrum, Basisdemokratie. Eine Welt nach eigenen Regeln.

Wie viele Antisistemas träumt Duran den Traum der 60er Jahre, von einer Gesellschaft ohne Hierarchien, in der jeder das machen kann, was er will. Einen Traum, den die Spanier in der Franco-Diktatur nicht austräumen konnten. Danach war die extreme Linke jahrelang zersplittert. Nur im Baskenland ging die ETA im nationalistisch-linken Kampf für baskische Unabhängigkeit gegen den Staat vor.

Buenaventura Garcia, 63, zieht heute wieder mit auf Demos. Er ist einer der alten Kämpfer, hat 16 Jahre im Gefängnis gesessen, weil er 1985 in einem Finanzamt eine Bombe deponiert hatte. Aus Protest gegen die Rückkehr zur Monarchie, weil er nach der Diktatur eine Republik wollte.

Sein Gesicht ist reglos, er bereue nichts, sagt er. Er hat sich in Lavapies ein Atelier eingerichtet, er malt, etwa Porträts der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin. Und er wartet immer noch auf die Revolution. "Irgendwann werden Bombenanschläge kommen", sagt er. Er sei dafür aber mittlerweile zu alt. Und überhaupt sei der Widerstand in Spanien dafür noch zu schlecht organisiert. "In Griechenland sind sie viel weiter."

Am Tag nach den Krawallen ist Carla wieder auf dem Spielplatz. Diesmal steht ihre Mutter am Zaun. Sie ist am Abend zuvor zu Hause geblieben. "Diese Kämpfe mit der Polizei habe ich hinter mir", sagt sie. "Ich gehe lieber zum Heavy-Metal-Konzert." Aber Fernando, der fiebere schon der nächsten Demo entgegen.

  • Aus der FTD vom 30.11.2012
    © 2012 Financial Times Deutschland
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