Günter Grass | Bildquelle: dpa

Nachruf auf Günter Grass Die Stimme der Nachkriegszeit

Stand: 13.04.2015 12:00 Uhr

Seine tiefe, dröhnende Stimme prägte die junge Bundesrepublik. Kaum ein anderer Autor hat nach dem Ende der NS-Diktatur so viel Einfluss gesucht und ausgeübt wie Günter Grass. Nun ist seine Stimme für immer verstummt.

Von Alexander Solloch, NDR

Es sei da in einer Zeitung so eine Besprechung erschienen, erzählte Günter Grass vor einigen Jahren, durchaus wohlwollend habe sie über sein neues Buch geurteilt - aber dann kam diese komische Formulierung: "Am Ende eines arbeitsreichen Lebens legt der Autor uns ein Buch vor." Er finde diese vorweggenommenen Nachrufe "einerseits lustig", sagte Grass, andererseits bitte er doch, "noch ein wenig Geduld zu haben".

Mit allen Sinnen und jeder Faser hat Grass sein langes Leben aufgesogen und genossen, die Merkwürdigkeiten und Frivolitäten des Lebens überhaupt, und daraus ein gewaltiges dichterisches, zeichnerisches und bildhauerisches Werk geschaffen, auf das man noch in ferner Zukunft zurückgreifen wird, wenn man wissen will, wie im schrecklich-schönen 20. Jahrhundert gelacht und geweint, geliebt und verachtet, gezeugt und gemordet worden ist. Ein Jahrhundertwerk, ohne Zweifel.

Günter Grass stirbt im Alter von 87 Jahren
tagesthemen 23:05 Uhr, 13.04.2015, Jan Peter Gehrckens, NDR

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Ein junger Autor rüttelt am Verdrängen

Sein erster Roman, "Die Blechtrommel", 1959 erschienen, öffnete Grass das Tor zum Ruhm. Gerade als die junge Bundesrepublik sich anschickte, es sich im frischen Wohlstand behaglich einzurichten, rüttelte der 32-jährige geborene Danziger, der noch als Jüngling die Schrecken des Krieges miterlebt hatte, an ihrer Geschichtsvergessenheit: mit einem Schelmenroman über eben jene düstere Zeit, die man gerade so gemütlich hatte verdrängen wollen. Und auf einmal traute sich wieder jemand, tief - tiefstmöglich - ins Füllhorn der deutschen Sprache zu greifen.

Die älteren Autoren wie Günter Eich und Heinrich Böll hätten nach dem Krieg eine durch die Zeit des Nationalsozialismus "beschädigte deutsche Sprache vorgefunden" und sich deshalb einer sehr kargen, eingeengten Sprache bedient, sagte Grass einmal. "Und bei mir war es sehr deutlich, dass man die Sprache, nur weil sie missbraucht worden ist, nicht bestrafen darf, dass es mein Bedürfnis war, dass ich dann auch alle Register ziehen kann."

Diese barocke, prachtvolle, reiche, bisweilen vielleicht überreiche Sprache gibt allen seinen knapp 20 Prosawerken das Gepräge, von "Katz und Maus" bis "Ein weites Feld", von "Der Butt" bis "Im Krebsgang".

Politiker und Kulturschaffende gedenken Grass
tagesthemen 23:05 Uhr, 13.04.2015, Robin Lautenbach, ARD Berlin

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Auch eine Stimme der Sozialdemokratie

Einer, der so über das Wort verfügte, wurde schnell für die Politik interessant, und die Politik reizte auch ihn. Als Weggefährte Willy Brandts zog er wahlkämpfend über die Marktplätze und durch die Bierhallen der Republik, warb für seine Sozialdemokratie, verdammte den konservativen Gegner.

Seit Anfang der 70er-Jahre lebte Grass in Schleswig-Holstein, erst in Wewelsfleth am Elbufer, dann, mit seiner zweiten Frau Ute, am Waldesrand bei Lübeck, im beschaulichen Behlendorf. Hier überraschte ihn im Oktober 1999 die Nachricht, er sei der neue Literaturnobelpreisträger.

"Ein Schock war es nicht", sagte er damals. "Es war Freude, auch ein gewisser Stolz und eine Genugtuung, denn ich habe ja in meinem schwierigen Vaterland nicht nur Lobpreisungen erfahren, mehr im Ausland. Und ich möchte die Gelegenheit auch wahrnehmen, all meinen Gegnern, die gelegentlich sich wie Feinde aufspielen im Umgang mit mir - möchte sie dazu ermuntern, nicht jetzt an den Nägeln zu knabbern, sondern sich mit mir zu freuen."

Spätes Geständnis

Sieben Jahre später fiel ein großer Schatten auf ihn, als er in seinem Erinnerungsbuch "Beim Häuten der Zwiebel" bekannte, er sei als Heranwachsender Mitglied der Waffen-SS gewesen. Eine entsetzte Öffentlichkeit fragte sich: Wie hatte gerade der, der immer wieder den moralisch unanfechtbaren Mahner gegeben und andere an den Pranger gestellt hatte, diese Geschichte von der eigenen Verführbarkeit so lange verschweigen können?

Grass' Erklärung: "Ich war erst jetzt in der Lage, das so zu machen, und wer richten will, mag richten. Nur: Was ich jetzt zur Zeit erlebe, das führt zu einem Aburteilen, als wollte man mich zu einer Unperson machen und all das im nachhinein in Frage stellen, was mein späteres Leben ausgemacht hat."

Vielleicht hat Grass seine Rolle als Mahner und Belehrer allzusehr ausgereizt; in seinen letzten Jahren fiel es denen, die ihm noch zuhörten, zunehmend schwerer, seine immergleichen Belehrungen über die Fehler beim Prozess der deutschen Einheit, seine undifferenzierten israelkritischen Bemerkungen, seine Predigten über das Gute und das Böse, noch zum Nennwert zu nehmen. Wer das Glück hatte, ihn kennenzulernen, wusste ohnehin: dieser Mann spielte nur den grantelnden Besserwisser; tatsächlich war er ein charmanter, liebenswürdiger, zuhörender Gesprächspartner, der unter seinem gewaltigen Schnurrbart ein verschmitztes, bezauberndes Lächeln versteckte.

Reaktionen zum Tod von Günter Grass
D. Riemer, ARD Berlin
13.04.2015 13:55 Uhr

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