Bundestag | Bildquelle: AFP

Abstimmung im Bundestag über Tarifeinheitsgesetz Angriff oder Notwendigkeit?

Stand: 22.05.2015 09:13 Uhr

Am Gesetz zur Tarifeinheit scheiden sich die Geister: unverhältnismäßiger Eingriff in das Streikrecht oder notwendige Maßnahme, damit kleine Spartengewerkschaften mit Streiks nicht das Land lahmlegen können? Heute entscheidet der Bundestag.

Von Sabine Müller, HR, ARD-Hauptstadtstudio

Ausgerechnet die SPD, hört man immer wieder. Warum macht ausgerechnet eine sozialdemokratische Arbeitsministerin ein Gesetz zur Tarifeinheit, das nach Meinung vieler Experten das Streikrecht mindestens indirekt einschränkt. So überraschend ist es aber nun auch wieder nicht, dass Andrea Nahles dieses Gesetz nun durchzieht. Denn als 2010 der jahrzehntelang geltende Grundsatz „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag“ vor Gericht gekippt wurde, da war es nicht nur die damalige CDU-Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, die die schwierige Aufgabe angehen wollte, ein verfassungsgemäßes Tarifeinheitsgesetz zu formulieren: "Es ist jetzt für die Politik eine Übung am Hochreck", so von der Leyen damals.

Auch die SPD wollte mitturnen. Unter anderem deshalb, weil nicht nur die Arbeitgeber mächtig Druck machten für ein Tarifeinheitsgesetz, sondern auch viele Gewerkschaften. Sozialdemokratische Spitzenpolitiker argumentierten, es gebe ein volkswirtschaftliches Interesse daran, dass Spartengewerkschaften keine Dauerkonflikte auslösen könnten, um ihre Partikularinteressen durchzusetzen. Auch ein Zerreiben der Gewerkschaften untereinander wurde befürchtet – und nur starke, einige Gewerkschaften seien gute Gewerkschaften.

Bundestag stimmt über Gesetz zur Tarifeinheit ab
tagesschau 09:00 Uhr, 22.05.2015, Nadine Gassner, ARD Berlin

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Kein Problem in schwarz-rotem Koalitionsvertrag

Bei den schwarz-roten Koalitionsverhandlungen 2013 gehörte das Tarifeinheitsgesetz nicht zu den strittigen Themen und landete problemlos im Koalitionsvertrag. Im vergangenen Herbst waren abwechselnde Streiks von Lokführern und Piloten die perfekte Kulisse für Arbeitsministerin Nahles, um für das Gesetz zu werben: "Dass einige Spartengewerkschaften für ihre Partikularinteressen vitale Funktionen unseres gesamten Landes lahm legen, ist nicht in Ordnung.“

Andrea Nahles | Bildquelle: AFP
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Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles

Die Regierung will Schluss damit machen, dass in einem Betrieb für die gleiche Berufsgruppe unterschiedliche Tarifverträge von konkurrierenden Gewerkschaften gelten können. In Zukunft soll es so sein, dass diese konkurrierenden Gewerkschaften versuchen müssen, eine gemeinsame Linie zu finden - das könnten zum Beispiel separate, aber inhaltsgleiche Tarifverträge sein. Gelingt diese Einigung nicht, greift das Mehrheitsprinzip: Es gilt der Tarifvertrag jener Gewerkschaft, die in einem Betrieb die meisten Arbeitgeber einer Berufsgruppe vertritt.

Spartengewerkschaften fürchten um ihre Rechte

Spartengewerkschaften von Lokführern, Piloten oder Ärzten fürchten nun um ihre Rechte. Denn als Minderheitsgewerkschaft in einem Betrieb wäre es ihnen nicht erlaubt, einen kollidierenden Tarifvertrag abzuschließen. Ein Aufruf zum Streik könnte vor Gericht deshalb als unverhältnismäßig und damit rechtswidrig eingestuft werden. Die Spartengewerkschaften sehen das als faktisches Streikverbot und wollen vor dem Bundesverfassungsgericht klagen.

Das Tarifeinheitsgesetz – Wieso, weshalb, warum?
S. Müller, ARD Berlin
22.05.2015 09:09 Uhr

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Auswirkung des Gesetzes auf Bahn-Tarifstreit

Die Gemengelage an sich ist also schon brisant genug – der laufende Tarifkonflikt bei der Bahn hat sie noch brisanter gemacht. Zwar betont die SPD-Arbeitsmarktexpertin Katja Mast: "Das Tarifeinheitsgesetz ist ja kein "Lex-Bahn"-Gesetz." Aber im Bahn-Tarifstreit steht das geplante Gesetz doch die ganze Zeit wie der sprichwörtliche weiße Elefant im Raum. Viele vermuten, dass die Sparten-Gewerkschaft der Lokführer und ihr Chef Klaus Weselsky auch deshalb so die Muskeln spielen lassen, weil sie unbedingt einen guten Abschluss wollen, bevor das neue Gesetz Anfang Juli in Kraft tritt. Andere wiederum warfen der Bahn vor, auf Zeit zu spielen, um den Tarifkonflikt über die Marke Anfang Juli zu ziehen und der GDL damit ihre Verhandlungsmacht zu nehmen.

Jetzt, wo eine Schlichtung kommt, ist das wahrscheinlichste Szenario, dass es vor Anfang Juli einen Tarif-Abschluss gibt. Und der hätte dann Bestandsschutz. Denn alle Abschlüsse, die vor Inkrafttreten des Gesetzes gemacht werden, werden für die Dauer ihrer Laufzeit nicht angetastet. Erst in  der nächsten Tarifrunde bei der Bahn dürfte sich dann zeigen, wie sich das Tarifeinheitsgesetz konkret auswirkt. Wenn es denn Bestand hat und nicht vor Gericht gekippt wird.

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