Die Ritter-Saga


Es gibt Bücher, die man ein einziges Mal liest und dann nicht mehr vergessen kann. "Eine Frau erlebt die Polarnacht" von Christian Ritter gehört dazu.

Zwei Jahrzehnte später, bei den Vorbereitungen unser langen Hundeschlittenexpedition nach Spitzbergen, treten dieses Buch und die Personen wieder in das Licht der Ereignisse. Zeitzeugen, Tagebücher, die Literatur der Jäger und Expeditionsteilnehmer vor und während des zweiten Weltkrieges lassen die Geschichte wieder lebendig werden.

Björn Klauer im Gespräch mit Karin Ritter
Björn Klauer im Gespräch mit Karin Ritter

Zu Besuch bei Karin Ritter in Wien

"Ich erwartete, meine Mutter in dicken Robbenfellen eingehüllt wiederzusehen! Nach einem ganzen Überwinterungsjahr in einer kleinen Hütte auf Spitzbergen, den Briefen und Erzählungen konnte ich mir das mit meinen fünf Jahren damals ja gar nicht anders vorstellen! Als ich sie dann sah, trug sie nur ein leichtes weißes Leinenkostüm. Was für eine Enttäuschung!"

Wenn Karin Ritter von ihrer heute 102 Jahre alten Mutter Christiane Ritter spricht, dann hat es den Anschein, als seien keine 65 Jahre seit der Rückkehr ihrer Mutter vergangen. Nicht dass ihr die Arktis oder Spitzbergen naheliegen würde – die nördlichen Gefilde sind ihre Sache nicht. Doch dieses eine Jahr hat Spuren in der Familie hinterlassen.

"Meine Mutter sagte immer: Eigentlich sollte ein Jahr in der Arktis für jedermann obligatorisch sein! Dort würde jeder erfahren, was in der Welt wichtig ist und was nicht. Was zählt, und worauf es im Leben ankommt. Jeder würde auf sein natürliches Maß reduziert werden!" Doch die Überwinterung – die erste bekannt gewordene Überwinterung einer Mitteleuropäerin in der Arktis – hat nicht nur Spuren in der Familie Ritter hinterlassen.

Vor Erscheinen ihres Buches 1938 wurde die Arktis noch nie derart einfühlsam beschrieben, und seither auch nicht. "Eine Frau erlebt die Polarnacht" ist seit der Erstauflage ein Dauerseller, und der Ullstein Verlag scheute sich im vergangenen September nicht, das Taschenbuch wieder einmal nachzudrucken. Mehr als eine halbe Million Leser konnten in eine eisige Welt eintauchen, die den meisten Menschen verschlossen ist und bleiben wird.

Hermann Ritter
Hermann Ritter

Der Ruf der Arktis

Die arktische Welt formte sich auch für die 36jährige Christiane Ritter zunächst lediglich aus den Erzählungen und Briefen ihres Mannes. Hermann Ritter nahm an wissenschaftlichen Expeditionen auf Spitzbergen teil, verbrachte einige Winter in einsamen Hütten als Jäger und Fallensteller und hielt sich mit dem Fischfang im Eismeer über Wasser. Ermutigt durch Berichte Ihres Mannes und die schlichte Aufforderung "lass alles stehen und liegen und folge mir in die Arktis", setzte Christiane Ritter zum Sprung in die Kälte des Nordens an.

Hatte sie besondere Voraussetzungen für ein Leben dort oben? Nein. Sie wusste bis dato noch nicht einmal, wie man einen Schlafsack steigt! Doch manchmal ist eine gehörige Portion Naivität besser als die Fähigkeit, mit realistischem Blick in die Zukunft zu schauen. So gibt es dann immer wieder Herausforderungen, die für den Menschen überraschend hereinbrechen.

Unvermittelt gerät man in Umstände, die unsere ganze Energie, unser Wissen und vor allem unser Anpassungsvermögen fordern. Auf diese Weise eröffnet sich uns eine Welt, die uns sonst verschlossen bliebe.

Karl Nicolaisen
Karl Nicolaisen

So bereute Christiane Ritter ihre Entscheidung schon bei Ankunft des Schiffes in Gråhuken: Es "läßt sich ... langsam in der Ferne ein öder, grauer, langgezogener Küstenstreifen erkennen und darauf, wie eine winzig kleine, angeschwemmte Kiste, das, was unsere Hütte sein soll. Alle Passagiere kommen an Deck und sehen mit dem gleichen starren Ensetzen auf die Küste ... Wir kommen der Küste näher. Sie wird mit zunehmender Deutlichkeit nicht einladender. Ein unübersehbares, flaches, dunkles Land. Ganz unvermittelt liegen darauf drei gewaltige, schwarze Berge, wie hingeschüttete Kohlenhaufen. Bis zur Hälfte sind sie gnädig bedeckt mit Nebel ... Ich muss mir alle Gewalt antun, um nicht mein Grausen und Entsetzen zu zeigen über all das Neue, das da auf mich einstürmt."

So wird sie in das rauhe Leben auf Spitzbergen katapultiert, in eine Welt, die sie sich nicht im entferntesten ausmalen konnte. Mit von der Partie ist der Jäger und Fallensteller Karl Nicolaisen, ein langjähriger Freund des Hermann Ritter. Beide bemühen sich redlich, der Christiane den Übergang so schonend zu gestalten wie möglich. Langsam, für den empfänglichen Leser spürbar, beginnt sie, das Besondere und Schöne ihrer neuen Umgebung nicht nur zu sehen, sondern auch zu begreifen.

Ihr künstlerischer Sinn, ihre offene Art und ihr Verständnis für die praktischen Dinge des Lebens helfen ihr dabei.

"... der Zauber der hellen arktischen Nacht empfängt uns.... Das blaue Licht gießt sich über die Landschaft und gibt ihr die verklärte Weichheit und Weihe, die alle Dinge hier oben in der hellen Nacht annehmen."

Christiane wäscht Preiselbeeren
Christiane wäscht Preiselbeeren

Die Wandlung

Doch die Prüfungen sind hart und viele. Oftmals bleibt sie allein in der Hütte, während die Männer unterwegs sind, um die Vorbereitungen für den Winter und die Jagdsaison zu treffen.
"Ich bin allein im rasenden Trommelfeuer eines Orkans ... Jedenfalls habe ich niemals etwas Ähnliches in Europa erlebt. Es klingt vom Inneren der Hütte aus, als führe man dauernd im Expresstempo über eiserne Brücken und durch brüllende Tunnels, die kein Ende nehmen ... Neun Tage und neun Nächte rast der Sturm ..."

Doch dann: "Und so arbeite ich Tag für Tag in den Stunden, da es noch dämmrig hell ist, draußen im Sturm, mit Kräften, die ich an mir nicht gekannt habe, mit einer Art wilden Draufgängertum, das mich täglich von Neuem packt. Jeden Morgen habe ich das gleiche, fast zitternde Verlangen, mich hinauszustürzen in den Kampf ..."

Und in der geisterhaften Ruhe nach dem Sturm fragt sie sich: "Warum hat mich die Ruhe in der Natur so erschüttert? Weil der gigantische Sturm vorangegangen ist? Können wir wirklich nur in Gegensätzen intensiv leben? ... Vielleicht werden Menschen späterer Jahrhunderte in die Arktis gehen, so wie Menschen in biblischen Zeiten in die Wüste zogen, um zur Wahrheit zurückzufinden ..."

Gråhuken im Sommer ...
Gråhuken im Sommer ...

Die Allmacht der Natur, dem bedingungslosen Unterordnen des Menschen in der Arktis unter die natürlichen Kräfte, geht auch ihr bald in Fleisch und Blut über. Die Natur wird der einzige Maßstab, von dem alles abhängig ist. Er ist die Richtschnur, der Leitfaden, der allein den Weg vorzeichnet, auf dem zu gehen ist. Die Natur gibt erst, wenn es ihr passt, wenn die Zeit reif ist. Da hilft kein Klagen und Verzweifeln über das Wetter, die Eisverhältnisse oder die schwierige Nahrungsbeschaffung. Nichts ist damit zu ändern, nichts ist dadurch gewonnen.

Und so gleitet sie in ein neues Leben, vor dem sie früher verständnislos den Kopf geschüttelt hat. Karl Nicolaisen beschreibt diese Metamorphose einige Jahre später einem Expeditionskameraden: "Ritters Frau wurde vom Polarleben derart aufgesaugt, dass sie nicht mehr nach Hause wollte."

Doch das Besondere war eigentlich nicht nur dies, sondern die Essenzen des einjährigen Lebens auf Spitzbergen, die sie in ihrem Buch festgehalten hat und die ihr Buch so einmalig macht: "Nein, die Arktis gibt ihr Geheimnis nicht her für den Preis einer Schiffskarte. Man muss hindurchgegangen sein durch die lange Nacht, durch die Stürme und die Zertrümmerung der menschlichen Selbstherrlichkeit. Man muss in das Totsein aller Dinge geblickt haben, um ihre Lebendigkeit zu erleben. In der Wiederkehr des Lichtes, im Zauber des Eises, im Lebensrhythmus der in der Wildnis belauschten Tiere, in der ganzen hier in Erscheinung tretenden Gesetzmäßigkeit alles Seins liegt das Geheimnis der Arktis und die gewaltige Schönheit ihrer Länder."

... und im Winter
... und im Winter

Der Krieg

Für Christiane Ritter endete mit ihrer Rückkehr aus Spitzbergen und dem Eingliedern in den Alltag in Böhmen das Leben in der Arktis. Für ihren Mann ging es dort aber weiter. Hermann Ritters Vorfahren kamen aus Schweden und Finnland. Das nordische Blut in seinen Adern schien ihn ständig zu rufen. "Meinen Vater hat es immer in den Norden gezogen. Sobald er eine längere Zeit zuhause war, wurde er unruhig und musste wieder los", erinnert sich seine Tochter Karin.

Als Offizier heuerte er auf großen Schiffen an und bereiste die Weltmeere. Da er aber durch seinen langjährigen Aufenthalt in Spitzbergen als Experte für die polaren Meere galt, brachte ihn der Krieg – Ironie des Schicksals – dorthin, wo er sich immer wohl gefühlt hatte: Die Wehrmacht benötigte für die Kriegführung im Nordatlantik verlässliche Wetterinformationen. So wurden verschiedene meteorologische Stationen an den Küsten des Nordatlantiks aufgebaut.

Ritter bekam 1942 als Leiter einer derartigen Expedition die Aufgabe, eine Station auf Nordostgrönland zu errichten. In einer geschützten Bucht auf der Sabine-Insel ließ man sich samt Schiff einfrieren und begann mit der Wetterobservation und der Funkvermittlung der Wetterdaten. Doch bereits im folgenden Jahr wurden sie von der nordostgrönländischen Schlittenpatrouille entdeckt, die Amerikaner zum Schutz vor deutschen Wetter- und Bunkerstationen auf die Beine gestellt hatten. Sie bestand aus dänischen, grönländischen und norwegischen Jägern, die sich schon seit längerem in diesem Gebiet aufhielten. Henry Rudi aus Tromsö war einer von ihnen.

Jetzt begann die Odysee Hermann Ritters, der gehofft hatte, mit Kompromissen eine Wehrmachtsaufgabe hinter sich bringen zu können, ohne seine moralischen Grundwerte zu strapazieren. Spätestens mit ihrer Entdeckung jedoch geriet er zwischen zwei Fronten: die des deutschen Militärs, dessen Gehorsamkeit für ihn Verpflichtung war und das Leben seiner Jagdkameraden der Arktis. Durch die Dechiffrierung des Funkcodes der Schlittenpatrouille wusste Ritter, wer die Mitglieder waren. Unter anderem auch Henri Rudi, den er aus Jagdtagen in Spitzbergen kannte.

Ritter in Polarkluft
Ritter in Polarkluft

Eine abenteuerliche Odysee des Loyalitätskonfliktes nahm ihren Lauf, denn die militärische Leitung der Wetterstation beschloss, einen Verrat ihrer Existenz an die Allierten mit allen Mitteln zu verhindern. Die Schlittenpatrouille musste festgesetzt werden! Auch wenn Ritter bei der Einnahme der Basis der Schlittenpatrouille in Eskimones den Befehl gab, über die Köpfe der Leute in der Hütte zu schießen, wurde der Kopenhagener Eli Knutsen ein paar Tage später durch deutsche Kugeln getötet. Obwohl dies offenbar ohne Absicht geschah, wurde Ritter nun überdeutlich, dass Kompromisse ihre Grenzen haben und er eine Seite zu wählen hatte.

Sucht man grafische Beispiele der Chaostheorie, so könnte man sie in den Schlittenspuren des Hermann Ritter auf seiner Flucht vor der Wehrmacht in Nordostgrönland finden. Sie zeichneten das Spiegelbild seines mentalen Zustands. Ein Ringen zwischen seiner Berufsauffassung als Offizier der Wehrmacht und der Freundschaft zu seinen Jagdkollegen der Arktis.

Er tarnte seine Flucht – die ihm zunächst vielleicht als solche noch gar nicht bewusst war – als Inspektionsreise, auf der es gelte, einige Jagdhütten auszukundschaften. Doch bevor er sich mit einem Gefangenen der Schlittenpatrouille auf den Weg macht, ermöglichte er einem zweiten Gefangenen die Flucht mit einem Schlittengespann in das sichere Inuitdorf Scoresbysund.

1500 Kilometer kreuzten sie durch Nordostgrönland – eine Irrfahrt der inneren Zerrissenheit. Eine Unternehmung, die Begriffe wie Gefangener und Wärter verschwimmen lassen. Die acht Hunde vor dem Schlitten, die Erhabenheit der winterlichen Natur, die keinen Krieg kennt und der harte Alltag der Männer lassen die künstlichen Grenzen verschwimmen und die paradoxe Situation ad absurdum führen.

Zurück zur meteorologischen Station und in die Situation als Stationsleiter konnte und wollte er nicht mehr.

"Für meinen Teil ist der Krieg hier zu Ende", fasste er zusammen und ließ er sich von seinem eigenen Gefangenen festnehmen. So setzten sie mit vertauschten Rollen die Schlittenfahrt nach Scoresbysund fort.

Hier begab er sich in amerikanische Gefangenschaft und kehrte erst nach 1945 heim.

Christiane Ritter im Jahr 2000
Christiane Ritter im Jahr 2000

Weder Christiane noch Hermann Ritter kehrte nach Spitzbergen zurück. "Meine Eltern haben sehr oft über den Winter in Gråhuken gesprochen. Das Jahr hatte in jeder Hinsicht einen tiefen Eindruck hinterlassen. Auch sprachen sie viel über die langen Abende, in denen sie dort alberne Spiele spielten und darüber Tränen lachen konnten. Sie sehnten sich oft an diesen Ort zurück." So Karin Ritter über ihre Eltern heute.

Seit ihrem 102. Lebensjahr wohnte Christiane Ritter in einem gemütlichen Pflegeheim, täglich besucht von ihrer Tochter Karin. Am 29. Dezember 2000 starb sie im Alter von 103 Jahren.

Hermann Ritter blieb Spitzbergen aufgrund der Kriegsereignisse für den Rest seines Lebens verschlossen. Er starb 1968 mit 76 Jahren in der Steiermark.