Kyōkai: Des Sonnenursprung-Reiches Buch von Geistwundern sichtbar-gegenwärtiger Vergeltung des Guten und Bösen

日本國現報善悪霊異記
上巻

„Legenden aus der Frühzeit des japanischen Buddhismus“
(Nihon Ryōiki)

übersetzt von Hermann Bohner

Vorwort
Faszikel I
諾樂右京藥師寺沙門景戒錄

Aufzeichnungen () Kyōkai's, Samon des Arzneiherrntempels (薬師寺1) der linken (Hälfte der) Hauptstadt Nara.

Forscht man dem nach, in welchen Zeitaltern die internen2 (und) die externen Bücher nach Japan überliefert und erstmalig Schriften darin aufgekommen sind, so sind es zwei Zeiten. Vom Lande Kudara [Paekche] ist alles und jedes gekommen. Im Zeitalter der in der Miya von Karushima no Toyo(u)ra die Welt regierenden Himmlischen Majestät Homuda (譽田 = Ōjin3) sind die externen Bücher gekommen; im Zeitalter der in der Miya Shikishima no Kanazashi die Welt regierenden Himmlischen Majestät Kimmei [539-71] sind die internen Schriften [traditionell 552, wahrscheinlich vor 538] gekommen. Allein alsbald redeten solche, die der externen sich beflissen, abfällig über das Gesetz des Buddha; solche, die die internen lasen, achteten der externen Werke gering. Der Schwarm einfältiger Toren verachtete5 unsichtbarnahende Vergeltung (冥報) und glaubte Sünde4 nicht noch Segen; die Schar der tief Wissenden, interne wie externe schauend, glaubte und fürchtete Ursache und Frucht (ingwa).

Von Zeitalter zu Zeitalter einzig die Himmlischen Herrscher (Tennō) stiegen auf hohen Berges Gipfel, entbrannten mitleidvollen Herzens6, wohnten in regendurchsickertem Palaste, sanft waltend über allem Volke.
Oder (andre,) wissend von Geburt, von hoher Unterscheidungskraft, Ungeschehenes genau im Voraus kennend, lassen, zehn Klagen hörend, nicht Ein Wort zu Boden fallen; von der Himmlischen Majestät [Suiko] gebeten, erklären sie, fünfundzwanzigjährig, die Groß-Gefährt-Sutren; die von ihnen geschaffenen Sutren-Erläuterungen7 strömen immerdar fort bis zu den letzten Zeiten; oder sie leisten allumfassend Eidgelübde8 schaffen Buddhastatuen9 ehrungsvoll; der Himmel leistet Folge ihren Bitten- die Erde breitet aus die Schätze, die sie wahrt; auch sind von großen Mönchen die Klöster10 voll; die edle Wesenskraft () erhält die zehn11 Welten; der Wandel () übertrifft die beiden Gefährte12; des Wissens Leuchte nehmen sie und lassen hell den finstern Kreuzweg strahlen; sie senden hin und her das Schiff Barmherzigkeit und retten die Ertrinkenden; sie kämpfen schwer (難行), sie tragen Pein; ihr Name strömt in ferne Lande hin. Noch heute mögen tiefe Weise die göttlichen Verdienste (神功) schwer ermessen.

Nun da des Nara-Arzeneiherrntempels Samon Kyōkai um und um der Welt Leute siehet, so übertrifft ihr mannigfaltig niedrig Tun, ihr Spähen nach Profit, ihr Gieren nach Vermögen noch des Magnetbergs13 Eisen-an-sich-Saugen; wie sie's gelüstet nach der andern Teil, wie's ihnen leid tut um das Eigne, ist schlimmer, als der Bernstein14, der Kleie anzieht, wenn man Hirsekorn zerkleinert. Der eine giert nach Tempelgut; als Kalb geboren dient er die Buße ab; der andre schmäht der Priester Lehre, im gegenwärtigen Leibe überdeckt15 ihn Unsal.
Der andre wiederum erstrebt den (wahren) Weg (), häuft (rechte) Tat, erlebt noch in diesem Leibe Erfahrungen (16).
Und wieder andre, tiefen Glaubens, üben Gutes, und lebenslang strömt Segen auf sie nieder. Des Guten oder des Bösen Vergeltung folgt wie der Schatten der Gestalt; der Pein, der Wonne Widerhall antwortet wie der Schall im Tal; die es erfahren, vergessen anfangs über Schrecken und Befremden des Mahles Augenblick (一卓え間) selbst; die Reue fühlen, vergessen alsbald schmerzbewegt im Herzen, wo sie stehn und sind. Tut man nicht dar, wieder es mit Gutem und Bösem ist, wie will man Krummes gerade machen, Recht und Falsch bestimmen? Zeigt man die Ursache- und Frucht-Vergeltung (ingwa no mukui) nicht, wie () will man böse Herzen ändern, den Guten Weg in Übung bringen? Im Lande Han ward der Unsichtbar-nahenden Vergeltung Buch17 geschaffen; im Reich der Großen Tang ward der Hannya-Erweisung Bericht18 verfaßt. Warum nur achtet und scheut man anderen Reiches Berichte, und der eignen Erde seltsam Geschehen glaubt und fürchtet man nicht? Der den Blick erhebend es sah, konnte es nicht länger ertragen; der im Herzen es bedachte, vermochte nicht zu schweigen. Daher hat er ein wenig, was er ungefähr vernommen, verzeichnet und mit Namen es „des Sonnenursprung-Reiches Buch von Geistwundern sichtbar-gegenwärtiger Vergeltung des Guten und Bösen“ genannt, in drei Faszikeln, dem oberen, mittleren und unteren, es verfaßt und übergibt es so der Nachwelt.

Allem Kyōkai ist seiner Natur nach nicht weise noch gescheit; trüb ist Sinnen und Denken; schwer, daß es sich kläre wie wenn man berät, einen Brunnen zu graben, und lange nach allen Seiten irrt; wie wenn ein Meister, der da kann, gemeißelt hat und ein seichter Werkmann werkelt noch dazu. Wehe, das Herz19 erstarrt; Qual bringt es den verletzten Sinnen. Auch ist es wie des Kun-Gebirges20 ein Steinchen. Da er nur mündlicher Rede Ungenau-Bekanntes nahm, so ist viel ausgelassen und vergessen. Er muß fürchten: Gutes in sich zu bergen dahin reiche es nicht auf, und so bringt er erst recht zu Tage, daß er die Syrinx nicht blasen21 kann. Die Weisen der Nachzeit, mag's sie auch komisch dünken, mögen doch nicht lachen darüber! Was er bittet, ist: mögen die Leser der Wundersamen Berichte sich vom Abwegigen wenden, zu dem Rechten sich kehren, alles Böse unterlassen, alles Gute ehrfürchtig-dienend erfüllen!22

Anmerkungen:

1  Yakushi-ji, einer der „7 großen Tempel der Südhauptstadt“ (Nara). Gegründet von Kaiser   Temmu, der im 11. Monat des 9. Jahres seiner Regierung wegen heftiger Krankheit der Kaiserin einen 16-Ellen-Shaku gießen ließ. [Yakushi-Nyōrai bzw. Yakushi-Sūtras.] Die Kaiserin genas von der Krankheit, und als der Kaiser im 14. Jahre starb und Jitō den Thron bestieg, wurde in Okamoto, Gau Takeichi, Yamato, ein Ort für den Tempel diviniert und derselbe errichtet und Statue samt zugehörigen Sutren und Śastren (als Heiligtum) aufgestellt und der Tempel Yakushiji benannt. Mit dem Umzug nach Nara ließ Genshō im 2. Jahr Jōrō auch den Tempel umsiedeln und zwar nach dem 6. , 3. der Linksstadt. 973 verbrannte alles bis auf das Kondō Ost- und Westpagode. Es folgte Wiederaufbau. Doch Bunan 2. Jahr 1445 riß ein Sturm die Kondō zusammen. 1529 zerstörte Feuer den Tempel. Die alte Größe und Herrlichkeit spürt man heute am meisten wohl noch aus den geistgewaltigen Statuen. 1934!: Haltestelle Nishikyō („Westhauptstadt“) der Daiki-Elektrischen, ebenso eines von Nara nach Hōryūji regelmäßig verkehrenden Verkehrsautobusses. [  ]
2) 内經 naikyō die buddhistischen Schriften, im Gegensatz zu den (konfuzianischen) chinesischen Klassikern (gesho). [  ]
3Traditionell regiert 270-310; tatsächlich wohl um 400. Sohn der Königinwitwe aus Paekche Jingo [Jingū Kōgō] und ihres getreuen Ministers Takechiuchi, die die Invasion aus Paekche 369 anführten. (Für diesen Teil der Geschichte von Wa muß koreanischen Quellen gefolgt werden, so wenig dies in Japan auch heute noch auf Gegenliebe stößt.) ]
4罪福 zaifuku. Schlechte Taten, die zu Strafen führen und gute Taten die Verdienst bringen. ]
5) 壞 zerstören, zu einem Nichts machen. [] [  ]
6) Auf Nintoku deutend, der die „Hohe Halle“ emporstieg und als er die Ärmlichkeit der Bevölkerung vernahm, für drei Jahre jede Steuer aufhob, so daß der Palast z.T. verfiel. („Hoher Berg“ hier zitiert nach Kojiki. [III, 110], Nihon shoki XI, [Nintoku 4/2/6, 7/4/1]) [  ]
7Gemeint ist Kronprinz Shōtoku Taishi, siehe I, 4, sowie Bohners ►  1000seitige Quellensammlung (besonders S. 625-73). Die Sutrenkommentare sind im Taishō LVI, Nr. 2185-7 ]
8guzeigwan [H.B.'s inhaltlich gleichlautende Anm. hier ersetzt] Gemeint ist das vierfältige Gelübde, daß durch die nachfolgende Formel zum Ausdruck gebracht wird:
四弘誓顔
Shi guseigan (ch.: Ssu hung-shih-yüan)

衆生煲辺誓顔度 Shujo muhen seigan do;
煩惧煲盡誓顔断 Bonnō mujin seigan dan;
法門煲量誓顔学 Homon muryo seigan gaku;
佛道煲上誓顔成 Butsudo mujo seigan jo.
Gelobt wird: 1) allumfassend die mannigfaltigen Lebwesen zu retten; 2) die unendliche Unwissenheit (Irrsal, bonnō zu heilen; 3) die Lehre (Dharma) zu erfassen und weiterzugeben; 4) zur Buddhaschaft zu führen und aufzusteigen.
 ]
9) auf Kaiser Shōmu, der den großen Buddha in Nara schuf, Bezug nehmend.[  ]
10) Oder: große Mönche treten auf, voll sind die Klöster. Wahrscheinlich ist der Text verderbt (KY). "There were also eminent monks whoise virtues equalled those in the ten stages …" ]
11十地 diese entsprechen dem in Soothill/Hodous (1937) unter sanken jissei in III, 33 gegebenen Erläuterungen. ]
12) 二乘 (nijō), das sind (auch nach KY) die beiden obersten der 10 Klassen, bezw. der 4 obersten Klassen (4 Heilige, 4 Erleuchtete), nämlich die Śrāvakas, die Buddha selbst lehren hörten und die 緣覺 Pratyeka-Buddhas (Selbsterleuchtete). [  ]
13磁石の鉄山 Nakamura hier mit falschem Bezug:"… is stronger than a magnet that can pull a mountain." ]
14) 流頭 von J nach mehreren Parallelen in 琥珀 „Bernstein“ geändert. Vielleicht ist 琉 (Lapislazuli) „(kostbarer) Stein, an den Ohren getragen,“ was eben oft Bernstein war, zu emendieren. Hier erscheint Nakamura logischer: "流頭 may be a mis-copying of 臼頭, which is a grinder" "… their tightfisted hold on their own goods are tighter than that of a grinder which relentlessly squeezes even the husk of a single millet seed." ]
15komuru empfangen, in dem man dann überdeckt wird. [  ]
16) „Erweisung(en)“ der andern Welt, bezw. der ewigen Vergeltung. [  ]
17) 冥報記 Myōhōki ]
18) 般若験記 Hannya kenki, Kurztitel für Kongō hannya kyō jikkenki zusammengestellt von Meng Hsien-chung, 718 unter der Herrschaft von Hsüan-tsung (T'ang). ]
19) KY vermutete Textverderbnis: wahrscheinlich ist des Lesers Herz gemeint. ("I am afraid that I will cut my hand and suffer from the injury long afterward.") [  ]
20) Was ich zu vollenden vorhabe ist groß wie das Kunlun-Gebirge (崑山); aber was ich tatsächlich zustande brachte ist nur ein Körnchen davon. Schon in den Tsin-Büchern häufig gebrauchter Ausdruck. Die Kunlun-Berge in Singkiang sind berühmt für ihre Jadevorkommen. Das Hochgebirge verläuft vom Fluß Jarkend, welcher die natürliche Grenze zum Pamir bildet, bzw. vom Karakorumpaß (5575 m), der die Abgrenzung zum Karakorum darstellt, unter anderen entlang der Nordgrenze zum chinesisch-besetzten Tibet in Richtung Osten, nach Sikiang hineinreichend. Dabei bildet es auf etwa 2500 km Länge die Grenze zum Hochland von Tibet. Die Gebirgsketten des Kunlun Shan weisen über 200 Gipfel von über 6.000 m Höhe auf. Das Gebirge ist auch in der chinesischen Mythologie als taoistisches Paradies bekannt. Die erste überlieferte Reise dorthin unternahm nach der Legende der König Mu Wang (1001-946 v.u.Z.) aus der Chou-Dynastie. Er entdeckte dort angeblich den Jade-Palast des Huang Tsi (Gelben Kaisers) und traf die Königliche Mutter des Westens, die ebenfalls dort ihren Aufenthaltsort hat. ]
21) 濫竿 ranu. Der überaus schwierige Ausdruck, der die Einfalt und Ungebildetheit des Verfassers aussprechen soll, zeigt in sich das genaue Gegenteil, nämlich die Zeichenkenntnis und Belesenheit des Autors. Der Ausdruck stammt aus Han-fei-dse [gleichnamiger Verf. (韓非, 290-233 v.u.Z. vergiftet; PinYin: Han Fei Zi; fr. Übs.: Le Tao du prince, Paris 1999 [Seuil]; dt.: Mögling, Wilmar; Die Kunst der Staatsführung: die Schriften des Meisters Han Fei, aus dem Altchinesischen; Leipzig 1994 (Kiepenheuer); ch. ►  Volltext), chinesischer Prinz aus dem Königshaus Han und Philosoph, Schüler Hsün-tse's], welches erzählt, daß König Hsüan von Tsi 300 Leute die Syrinx (Pan- bzw. Hirtenflöte) blasen ließ und sie ernährte. Als aber Hsüan starb und König Miän die Musiker zum Solo-Vorspiel befahl, flohen Musiker davon. So tun als könne man etwas, das man aber nicht wirklich kann. [  ]
22Diese Ermahnung findet sich in vielen buddhistischen Schriften.  ]

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Diese Webseite basiert auf der Ausgabe der Zeitschrift „OAG Mitteilungen“ „Legenden aus der Frühzeit des japanischen Buddhismus“ übersetzt, eingeleitet und erläutert von Dr. Hermann Bohner. Herausgegeben von der deutschen Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens unter Beteiligung der Ōsaka Tōyōgakkai; Tōkyō 1934
Der Originaltext wurde zum Ende der Nara-Zeit von Kyōkai/Keikai (景戒) aufgezeichnet und ist heutzutage allgemein als „Nihon Ryōiki“ (日本霊異記) bekannt.

►  Bio-Bibliographie Hermann Bohners (1884-1963)
►  Sōtei Akaji: „Zen-Worte im Tee-Raume“

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