Kapitell Kirche von Vézelay
Kapitell Kirche von Vézelay, Burgund, Frankreich, 12 Jh.
Zwei Figuren halten über Ähren ein Brot.

Einleitung

Der Begriff Mittelalter

Der deutsche Begriff Mittelalter meint die Epoche in der Mitte zwischen zwei anderen Zeitepochen, dem Altertum (Antike) und der Neuzeit; er wertet nicht und rückt auch keine Einzelerscheinung dieser Epoche in den Vordergrund, wie es z. B. der Begriff Feudalzeitalter tut. Er ist aus der Sicht der "Neuzeit" eingeführt worden und setzt eine erkennbare Abgrenzung zum Altertum voraus. In Deutschland hat sich der Begriff als Bezeichnung für den Zeitraum vom 5. bis 15. Jahrhundert seit den Handbüchern von Georg Horn und Christoph Cellarius (beide 17. Jh.) durchgesetzt. Im Englischen entspricht ihm der Begriff Middle Ages, im Französischen moyen âge, im Italienischen medioevo. Die Abgrenzungen zu Altertum und Neuzeit werden im angelsächsichen Sprachbereich und in den romanischen Ländern in gleicher Weise gesetzt wie in der deutschen Geschichtsschreibung.

Diejenigen, die im Mittelalter selbst über die Zuordnung ihrer eigenen Zeit nachdachten, haben sich anders eingeordnet: in ein zeitliches Kontinuum, das mit der Schöpfung begann, seinen wesentlichen Einschnitt mit der Geburt Christi erfuhr, die sich im Römischen Reich vollzog und dieses Römische Reich längerfristig zu einem christlichen umformte. Wenn auch dieses Römische christliche Reich Ausdifferenzierungen erfahren hatte, so bildete es doch nach der auf den Kirchenvater Hieronymus zurückgeführten Vier-Weltreiche-Lehre bis zu Luther die Folie des Weltverständnisses und des Verständnisses der eigenen Zeit.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß "Mittelalter" ein europäischer Begriff (und wie wir gleich sehen werden auch ein europäisches Phänomen) ist und daß der so benannte Zeitraum entscheidend durch das Christentum geprägt ist. Die geographische Weltsicht der mittelalterlichen Menschen war wie in der Antike auf drei Kontinente eingegrenzt: Asien, Afrika und Europa. Von Asien und Afrika kannte man nur die Küstenbereiche um das Mittelmeer genauer. Mittelalterliche Weltkarten zeigen die damals bekannte Welt als Scheibe, in deren Mittelpunkt das Land des Wirkens Christi liegt. Das Verständnis von Raum und Zeit ist heilsgeschichtlich geprägt. Auf das Ende des Römischen Reiches kann nur die Endzeit, das jüngste Gericht und das Himmlische Jerusalem nach der Offenbarung des Johannes folgen.

Die zeitlichen Begrenzungen für Beginn und Ende des Mittelalters, die wir heute setzen, sahen die mittelalterlichen Menschen nicht. Diese Begrenzungen sind aufgrund moderner Gewichtungen historischer Veränderungen angenommen worden, stellen wie die dem Mittelalter eigene heilsgeschichtliche Sicht eine Deutung dar und sind eben deswegen kontrovers.

Zeitliche Begrenzung des Mittelalters

Traditionell eingebürgert hat sich als angenommener Einschnitt zwischen Antike und Mittelalter der Niedergang des weströmischen Reiches infolge der Einfälle gotischer, burgundischer, suebischer, wandalischer, fränkischer, sächsischer und langobardischer Gruppen in Provinzen des Reiches mit der Folge ihres Seßhaftwerdens und der Bildung von regna, Königsherrschaften. Dieser Vorgang der üblicherweise so benannten "Völkerwanderung" vollzieht sich zwischen dem Ende des 4. (Westgoten) und der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts (Langobarden), und die recht undramatische Verdrängung des letzten weströmischen Kaisers Romulus (Augustulus) im Jahr 476 ist nur ein Element des Ganzen. Nicht ein einmaliger Einschnitt, sondern eine Übergangszeit stellte also die Grenze zwischen zwei Epochen dar. Aus wirtschaftsgeschichtlicher und kulturgeschichtlicher Sicht wurde vorgeschlagen, die "Übergangszeit" sogar bis ins 7. Jahrhundert zu strecken, da erst mit der arabischen Eroberung (der eine weitgehende Islamisierung folgte) der (ost)römischen Provinzen Syrien, Palästina, Ägypten und des (west)römischen Nordafrika der kulturelle und religiöse Zusammenhang des Mittelmeerraumes aufgelöst wurde und dessen für den Handelsverkehr verbindende Rolle infolge der arabischen Seeherrschaft an der südlichen Küste auf ein Minimum reduziert wurde. Diese auf den belgischen Historiker Henri Pirenne und sein Buch "Mahomet et Charlemagne" (erschienen 1935) zurückgehende Einschätzung der arabischen Eroberung wurde viel diskutiert und die Ergebnisse dahingehend modifiziert, daß die Folgen der arabischen Eroberung unterschiedlich stark für das Frankenreich, für Italien und die iberische Halbinsel zu gewichten seien, von denen die letztgenannte bis zum Hochmittelalter eine wichtige Kontaktzone darstellte. Auch wurde darauf hingewiesen, daß Einbußen der Seetransporte schon seit der Zeit des Wandalenreiches und der von ihm ausgehenden Piratenunternehmungen bestanden (5. Jahrhundert), überdies längst der kulturelle Unterschied zwischen dem griechisch-sprachigen Osten (bis einschließlich Ägypten) und dem lateinischen Westen (einschließlich Nordafrika) bestand und die christliche Ökumene in zahlreiche Gruppen zersplittert war. Die "Pirenne'sche These" war jedoch Anlaß zu genaueren Untersuchungen über Fragen der Kontinuität bzw. Diskontinuität zwischen Antike und Mittelalter und führte damit auch zu einer genaueren Einschätzung des "Einschnittscharakters" der sogenannten Völkerwanderung.

Unter Hinweis auf die Bedeutung des Christentums für das Mittelalter hat man sich mit einem gewissen Recht auch gefragt, ob nicht schon die Annahme des Christentums durch römische Kaiser, als erster Konstantin (gestorben 337), als Beginn des Mittelalters gelten könne, zumal seit der "Konstantinischen Wende" die christliche Kirche mit umfangreichen Rechten ausgestattet wurde: Besitzrecht der einzelnen Kirchen und gerichtliche Sonderstellung ihrer Geistlichen. Wenn man sich des Hilfscharakters all solcher Epocheneingrenzungen bewußt bleibt, hat es viel für sich, den Übergang von der Antike zum Mittelalter im 4. Jahrhundert zu sehen, in dem sowohl die Durchsetzung des Christentums als auch der Beginn der gotischen Wanderbewegung erfolgen.

"Mittelalter" ist eine Epoche der Geschichte Europas. Mit "Völkerwanderung" und arabischer Expansion verliert das Mittelmeer die Qualität, die es in hellenistischer und römischer Zeit hatte: Verbindung der Anrainer, "mare nostrum" in römischer Sicht zu sein. Nordafrika, Ägypten, Palästina und Syrien werden zu fernen Ländern, die nur wenige bereisen - einige Gesandte, einige Kaufleute, einige (notwendigerweise wohlhabende) Pilger. Erst vom ausgehenden 11. Jahrhundert an wird sich dies ändern, die Zahl der Fernreisenden ansteigen, werden die Kreuzzüge das Pilgerwesen und den Handel der italienischen Seestädte Amalfi, Gaeta, vor allem aber Pisa, Genua und Venedig intensivieren, die nun in großem Umfang Transport von Pilgern und Waren betreiben. Franziskanische Missionare und der Venezianer Marco Polo kommen seit dem Ende des 13. Jahrhunderts bis nach China. Vor allem Asien (weniger Afrika) rückt wieder ins Bewußtsein einer weltläufigeren Oberschicht. Das geographische Weltbild der Antike wird seit dem 13. Jahrhundert wieder erreicht und damit die "Europabegrenzung" mittelalterlichen Wissens verändert. Eine wirkliche Erweiterung des Weltbildes setzt aber erst mit den Seefahrten der Portugiesen und Spanier im 15. Jahrhundert ein, deren herausragendstes Ereignis 1492 die Entdeckung Amerikas durch das Unternehmen des Columbus ist. Mit dem 15. Jahrhundert läßt man denn auch traditionell das europäische Mittelalter enden, wobei die Entdeckung Amerikas nur eines der Einschnittkriterien ist. Die Reformation (seit 1517), die die mit Mühe und Einschränkungen das ganze Mittelalter hindurch aufrecht erhaltene kirchliche Einheit Europas bricht, wäre ein weiteres Einschnittskriterium, ebenso wie das Vordringen der osmanischen Türken nach Kleinasien und auf den Balkan, das im 14. und 15. Jahrhundert das christliche, oströmisch-byzantinische Reich hinwegfegt. Technische Neuerungen verändern den Wissensstand, die Nautik und das Kriegshandwerk und machen damit die breite Rezeption schriftlich fixierter Ideen, die Seefahrten und Eroberungen erst möglich. Genannt seien die Verbreitung des (billigeren) Papiers als Beschreibstoff statt des aus Tierhaut erstellten Pergaments (in Spanien seit dem 12., in Italien seit dem 13., in Deutschland seit dem 14. Jahrhundert), die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern um 1440 (Gutenberg) statt der alten Abschreibepraxis und dem seit dem 14. Jahrhundert gelegentlich praktizierten Blockdruck, die Erfindung neuer nautischer und astronomischer Instrumente, die längere Seefahrten über offene See und nicht nur wie bisher Küstenfahrten ermöglichten, und die Verbreitung von Feuerwaffen seit ca. 1420. Dabei waren Papier und Schießpulver chinesische Erfindungen, die über den arabisch-islamischen Kulturraum nach Europa vermittelt wurden.

Auf breiter Front veränderte sich vom 13. Jahrhundert an Weltbild, Wissen und Alltag der Wissensdurstigen und Neuerungsbereiten in Europa. Die den ganzen Kontinent erfassenden großen Pestwellen der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verursachten Bevölkerungseinbrüche und in deren Gefolge soziale und wirtschaftliche Veränderungen. Kritik an einer ihren pastoralen Aufgaben nur ungenügend nachkommenden Kirche wuchs, ohne daß geforderte Reformen größeren Umfangs zustande gebracht wurden. So kann man mit Recht die Zeit vom 13. bis 15. Jahrhundert als eine breite Übergangsepoche verstehen, ähnlich wie sich auch die Wandlungen von der Antike zum frühen Mittelalter in einer solchen längeren Übergangsepoche (4. bis 7. Jahrhundert) vollzogen.

Der Raum mittelalterlicher Geschichte

Unser historisches Wissen ist abhängig von schriftlicher und gegenständlicher Überlieferung. Sachüberreste sind vor allem für das Frühmittelalter von Bedeutung, zu dessen Erhellung die Frühmittelalterarchäologie (Vor- und Frühgeschichte) erheblich beiträgt. Von ihr ist kultureller und wirtschaftlicher Austausch zwischen Nord-, Ost-, Mittel- und Südeuropa erwiesen worden. Die schriftlichen Quellen in Form von Geschichtsschreibung und schriftlichen Überresten (Urkunden, Briefe, Rechtssetzungen, Dokumente der Verwaltung und der kirchlichen Alltagspraxis) sind zunächst aus dem Gebiet des (sich zunehmend desintegrierenden) Römischen Reiches und deshalb in lateinischer Sprache überliefert. Das Lateinische bleibt die weitgehend alleinige Schriftsprache bis zum ausgehenden 11. Jahrhundert - mit geringen Einschränkungen: Die gotische Bibelübersetzung des (W)Ulfila datiert aus der Mitte des 4. Jahrhunderts, Einzeltexte in althochdeutscher und altfranzösischer Sprache sind seit dem 9. Jahrhundert, in altsächsischer Sprache seit dem 7. Jahrhundert überliefert.

Sprache und geographische Kenntnis der Römerzeit lieferten den Gebildeten des Mittelalters ihren Ausdrucks- und Wissensrahmen. Italien, das Frankenreich (die römischen Provinzen Galliens und Germaniens sowie nach den fränkischen Eroberungen die Gebiete östlich des Rheins bis zur Elbe und Saale, sowie Alemannien und Bayern) und der Süden Englands sind die europäischen Räume, aus denen wir bis zum 10. Jahrhundert durch Schriftquellen übermittelte Nachrichten haben. Die "Nordmänner" (Normannen, Wikinger) Skandinaviens und die Slawen östlich von Elbe und Saale haben erste Spuren in der Schriftlichkeit Europas hinterlassen, wenn sie mit den aus der Völkerwanderung hervorgegangenen Reichen in kriegerische oder kaufmännische Kontakte traten. Man nahm im ostfränkisch-deutschen Reich Slawen und Nordmänner als Krieger, potentielle Bündnispartner, gelegentlich als Kaufleute, vor allem aber als zu missionierende Nicht-Christen wahr. Erst im 10. Jahrhundert rücken die Westslawen in das Blickfeld der Historiographie (vor allem Thietmar von Merseburg) und im 11. Jahrhundert (Adam von Bremen) die Skandinavier.

Der Alltagsraum für den mittelalterlichen Menschen, der nicht Adliger, höherer Geistlicher oder Fernhandelskaufmann war, war mindestens bis zum 11. Jahrhundert die engere Umgebung der Grundherrschaft, auf der er arbeitete. Seine Ortskenntnisse reichten in der Regel bis zur nächst gelegenen Bischofs- und Marktsstadt. Könige und Adlige hatten infolge ihres gestreuten Grundbesitzes, den sie bereisten, und infolge kriegerischer Unternehmungen einen weiteren geographischen Horizont, ebenso Bischöfe, Äbte sowie die Geistlichen und Mönche, die diese in ihr Vertrauen zogen, infolge von Reisen zu Synoden oder Amtsbrüdern. Kriegszüge, Kaufmannsreisen und Inhabe hoher geistlicher Ämter (alles "Privilegien" von Männern) boten Gelegenheit, den geographischen Horizont zu erweitern. Abenteuerlust, Kriegserfahrung und Kennenlernen fremder Umwelt gehören in agrarisch geprägten Gesellschaften (und das gilt bis zum 19. Jahrhundert) zusammen, bilden Hauptstoffe von Erzählung und Sage, konstituieren eigene Heldenvorstellungen und die Feindstereotype der "anderen".

Die einzigen Reiseerfahrungen des "Durchschnittsmenschen" im Mittelalter (auch der Frauen) waren Pilgerfahrten, meist zu Nah-, seltener zu Fernzentren, die sich nicht zuletzt deshalb großer Beliebtheit erfreuten und seit dem 11. Jahrhundert deutlich zunahmen. Mit Kreuzzügen, zunehmendem Fernhandel und Siedlungserweiterung weitet sich seit dem 12. Jahrhundert der geographische Horizont nunmehr auch größerer Bevölkerungsgruppen.

Will man sich angemessen mit mittelalterlicher Geschichte beschäftigen, muß man dies alles in Rechnung stellen: das römische Sprach-, Formen-, Denk- und Wissensmuster der überlieferten Texte, die Verankerung des "normalen" Menschen in seiner engeren Umgebung, die Prägung der Gesellschaft durch die Männer, denen zahlreiche Wirklichkeitserfahrungen vorbehalten waren, die Kraft und Bedeutung kirchlicher Normen.


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