20.02.2008
11:07 Uhr
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Jonathan Littell: "Die Wohlgesinnten"
Eine Geographie des Grauens
Jonathan Littell weckt mit seinem Roman "Die Wohlgesinnten" heftige Gefühle: Abscheu, Ekel, Mitleid. Aus Orten werden Schauplätze des deutschen Massenmords.
Von Kurt Kister
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Ein paar Kilometer östlich meiner alten Heimatstadt liegt ein Schießplatz. Zwei große Kugelfänge aus Beton, links und rechts begrenzt durch zwei Erdwälle. In der Mitte verläuft eine weitere Erdaufschüttung, so dass zwei Schießbahnen entstanden sind. Die Enden der beiden Bahnen bildet je eine höhlenartige Öffnung in der Betonmauer. In jeden dieser Kugelfänge passen nebeneinander fünf große Schießscheiben. Oder fünf Menschen. Als Kinder haben wir manchmal am Ami-Schießplatz gespielt, Kugeln gesucht, die man da aus der Erde graben konnte. Natürlich waren das keine richtigen Kugeln, sondern meistens irgendwie platt gequetschte, eigentlich spitze Geschosse, abgefeuert aus Gewehren oder Maschinengewehren. Wir nannten die Anlage Ami-Schießplatz, weil sie früher mal, kurz nach dem Krieg, von den Amerikanern zur Schießausbildung benutzt wurde. Bei den Erwachsenen hieß der Ort nur "der Schießplatz" und manchmal auch "Schießstätte". Daheim erzählten wir nichts von diesen Exkursionen, weil in dem alten Haus am Schießplatz Obdachlose und sogenannte Problemfamilien einquartiert worden waren. Für uns war der Schießplatz nur ein interessanter Ort, an dem wir uns manchmal ein wenig fürchteten, weil es da so viele Hunde gab. Hin und wieder warf einer der zerzausten Männer aus dem Haus auch eine Bierflasche nach uns. Abscheu, Ekel, BestürzungDieser Schießplatz aber ist mehr als ein Ort. Er ist ein Schauplatz. Ein Schauplatz des deutschen Massenmordes. Er liegt keine zwei Kilometer entfernt vom Zaun des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau. Zunächst, also vor dem September 1941, schossen die in der nahen Kaserne stationierten SS-Männer dort auf Scheiben. Zwischen dem Herbst 1941 und dem Sommer 1942 wurden dann sowjetische Kriegsgefangene, zumeist Offiziere, im Betonkugelfang umgebracht. Wie viele es insgesamt waren, weiß man nicht, weil, anders als sonst im KZ-System, über diese Morde nicht Buch geführt wurde. Es waren wohl mindestens 1000, vielleicht bis zu 4000. Sie wurden in Fünfergruppen erschossen, 30 bis 50 am Tag, und dann im Krematorium des KZ verbrannt.
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Bildstrecke Der Wohlinformierte: Schauplätze des Massenmords |
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Bei wissenschaftlichen Grabungen im Jahr 2001 wurden auf der Schießbahn 165 Schädelfragmente gefunden. Sie waren bei den Exekutionen durch die Geschosse aus den Köpfen der Getöteten gerissen worden. Vielleicht hatten wir als Kinder das eine oder andere dieser Geschosse gefunden. Wir dachten, die Kugeln stammten von den Amis. Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" wird von etlichen seiner bisher nicht vielen Leser in Deutschland gern danach beurteilt, ob er "etwas Neues" zur Jahrhundertdebatte um Ursachen und Folgen des deutschen Massenmordes beizutragen habe. Nein, hat er nicht. Jedenfalls nichts Neues im Sinne des Sachbuch-Neuen. Wer sich vor Littell für Einsatzgruppen, den SD, das Reichssicherheitshauptamt und die ordentliche Planung der Vernichtung interessiert hat, erfährt nichts Neues. Littell aber erzeugt Gefühle - Abscheu, Ekel, Bestürzung, schaudernde Spannung, Mitleid. Dies hat einerseits mit den Dialogen, Monologen, Reflektionen und, ja, auch dem Geschwätz zu tun, in die Littell seinen Obersturmbannführer Aue verwickelt. (Pikant ist, dass mancher Rezensent, manche Rezensentin, die selbst das mehr oder weniger gehobene Geschwätz in ihren Texten pflegen, genau diese Kunst dem Autor Littell vorwerfen.) Monströse CharakterzügeDer Roman aber ist auch eine Art beklemmende Reiseerzählung. Er ist eine im wahren Sinne des Wortes Tour de Force von Schauplatz zu Schauplatz des deutschen Massenmordes. Was vorher, bevor die Deutschen mit Hakenkreuz und Totenkopf kamen, nur Orte waren, wurden durch sie Schauplätze. Nicht im Buch, aber im wirklichen Leben: Die alte Munitionsfabrik am Rande der Kleinstadt Dachau wurde Konzentrationslager, Schauplatz des zehntausendfachen Todes.
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Bildstrecke Täter und Opfer des KZ Auschwitz |
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Auf einem Acker, der zum Dorf Hebertshausen gehörte, entstand der Schießplatz, Schädelstätte für alle Zukunft. In Littells Roman durchquert der nachmalige Obersturmbannführer Dr. Max Aue, Funktionsträger im Sicherheitsdienst (SD) der SS, in Schaftstiefeln sein Europa der Schauplätze, den Kontinent des Holocaust: Lemberg, Kiew, Stalingrad und Berlin; Paris, Jalta, Posen und Charkow; die Konzentrationslager Auschwitz, Oranienburg und Dora. Übrigens: Wer sich heute, und sei es wegen der Lektüre der "Wohlgesinnten", wieder einmal mit diesem deutschen Europa beschäftigt, das sich für kurze Zeit vom Atlantik bis zur Wolga erstreckte, der mag besser verstehen, warum es bis heute in vielen Regionen östlich der Oder Vorbehalte gegen eine von Berlin dominierte EU gibt. In der Debatte über Littells Buch wird oft die Frage gestellt, ob so einer, so eine Figur wie der ubiquitäre Aue, ein hochgebildeter Außendienstler der multiplen Tötung, überhaupt "plausibel" sein könne. Littell entwerfe, lautet der Vorwurf, eine Kunstfigur, dieser Aue sei nicht mehr als eine Menschteufel gewordene Projektionspuppe für das imaginierte Böse schlechthin. Nun ja, einerseits haben Schriftsteller ein Vorrecht auf Kunstfiguren jeder Art. Zum anderen, was soll die eher germanistische Frage nach der Plausibilität? War es denn plausibel, dass SS-Einsatzgruppen, Polizeireservisten und Wehrmachtsangehörige, also ein Querschnitt Deutscher unter Waffen, in der Schlucht von Babi Yar im September 1941 Zehntausende umgebracht haben, Männer, Frauen, Kinder? War es plausibel, dass jene Alltags-Mörder vom Dachauer Schießstand im Frühling 1942 nach getaner Arbeit in denselben Wirtschaften saßen, in denen wir Gymnasiasten dreißig Jahre später Weißbier tranken?
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Der möglichst präzise Umgang mit Orten und Schauplätzen gehört zum Handwerkszeug aller, die historische Romane im weitesten Sinne schreiben. Die in diesen Zeiten beliebten Templer-Romane zum Beispiel sind voller detailreicher, ausgedachter Schilderungen des Lebens auf dem Krak de Chevaliers, der Vorgänge beim Fall von Akkon oder der Verhältnisse auf französischen Templerburgen im 14. Jahrhundert. Von all diesen Dingen hat die Leserschaft zwar nur vage Kenntnis, dafür aber das mit jedem gelesenen Taschenbuch wachsende Gefühl, eigentlich wisse man schon, wie Templer lebten, dachten und handelten. Templer aber sind ganz weit weg. Max Aue dagegen, Jahrgang 1913, könnte vielen seiner deutschen Leser ein alter Vater oder ein junger Großvater gewesen sein. Gar nicht weit weg, sondern sehr nah. Man glaubt zu wissen, wie die Menschen der beiden Nazi-Generationen waren. Man braucht - Oh, wie gern der durchschnittliche Rezensent die Frage stellt: Brauchen wir dieses Buch? - keinen relativ jungen Amerikaner, der in Frankreich gelebt hat, um sich den Großvater erklären zu lassen. Vielleicht resultiert gerade aus der Nähe deutscher Leser zum Protagonisten, zum Sujet und zu den Schauplätzen des Buches die zum Teil so heftige Ablehnung der monströsen Charakterzüge Aues und der drastischen Sprache Littells. Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum es keine vernünftige Unterscheidung zwischen Krieg und Massenmord gibt.
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