Ja. Kommt vor. Gehört dazu. Wird mit einkalkuliert. 30 Prozent verschwinden. - Ist das nun Resignation? Pragmatismus? Wen man auch spricht in der Verlagsbranche, alle scheinen sich mit dem Phänomen längst abgefunden zu haben: Diebstahl gehört zu jeder Buchmesse dazu wie Vertretergespräche und Lesungen. Keiner weiß genau, wie viele es sind, aber Jahr um Jahr werden allein in Leipzig viele tausend Exemplare in Taschen, Mänteln, Rucksäcken an den Sicherheitskräften vorbeigeschmuggelt. Gesine Neuhof, die Pressesprecherin der Leipziger Messe, sagt, man werde dieses Jahr ein besonderes Auge auf Kinderwägen werfen, im Herbst in Frankfurt sei es "der neueste Trend" gewesen, die geklauten Bücher unter den ahnungslosen Babys zu verstecken. Ansonsten aber klingt sie wie die Lektoren wenn sie sagt: "Geklaut wurde hier immer schon." Dabei hat sich gerade in Leipzig, wo am diesem Mittwochabend die diesjährige Buchmesse eröffnet wird, etwas Grundlegendes geändert: Natürlich, der neue Mensch des DDR-Sozialismus war nicht viel besser als der heutige Besucher. Aber vor dem Mauerfall war die Buchmesse eines der wenigen Fenster zur westlichen Welt, weshalb sich besonders gerne regimekritische Genossen in großen, warmen Jacken durch die heißen Messehallen schoben. Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller erinnert sich in einem aktuellen Beitrag für das Zeit-Magazin, dass einige ihrer Freunde "spezielle Buchmessenmäntel mit extra eingenähtem Doppelfutter hatten, in dem sich, den Gang und den Saum sehr beschwerend, gut und gerne zehn Taschenbücher verstauen ließen." Damals halfen die Vertreter der Westverlage den Besuchern noch, schauten ostentativ weg oder steckten ihnen die Bücher sogar zu, war das Klauen doch, wie Langen-Müller schreibt, "notgedrungene Passion". Das geht an Weihnachten weg! Heute ist es für die Verlage eine unkonventionelle Art der Marktforschung, ein Lackmustest für den zukünftigen Erfolg. Denn was auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt geklaut wird, wird später auch gekauft. So klingt es nur halbironisch, wenn Martin Hielscher, Belletristik-Lektor beim Verlag C.H.Beck, sagt, der Bücherklau sei "ganz wichtig, das ist für uns ein sehr gutes Signal, ob ein Buch sexy ist". Insofern sähen das die Verlage auch "mit einem gewissen Augenzwinkern". Die Piper-Lektorin Eva Brenndörfer formuliert den noch drastischer klingenden Umkehrschluss: "Klingt traurig, aber wenn ein Buch nicht geklaut wird, stimmt was nicht." Das bestgeklaute Buch des Beck-Programms war laut Hielscher bislang Nelly Arcans "Hure", "2002 war das, in Frankfurt, hat sich dann auch hervorragend verkauft." Im internen Diebstahlsranking hatte es seinerzeit freilich keine Chance gegen Dieter Bohlens Autobiographie "Nichts als die Wahrheit" , bei der die Mitarbeiter des Heyne-Verlags die Exemplare gar nicht so schnell in die Regale stellen konnten, wie sie wegkamen. Bohlens Buch stürmte danach die Bestsellerliste. Als im vergangenen Jahr Julia Francks Roman "Die Mittagsfrau" stapelweise verschwand, prognostizierte Petra Baumann-Zink vom Fischer-Verlag, dass es "in einer Woche auf Platz eins oder zwei steht". Stimmte ebenfalls. Und als Arno Geigers "Es geht uns gut" 2005 das meistgeklaute Buch der gesamten Buchmesse war, "wussten wir, das der zu Weihnachten gut gehen wird", sagt Stephan Seitz vom Hanser Verlag. Lesen Sie auf der nächsten Seite, in welchen Gesellschaftsschichten am häufigsten gestohlen wird.
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