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Merken   Drucken   27.09.2012, 16:40 Schriftgröße: AAA

IWF-Weltwirtschaftsbericht: Schuldenabbau geht nur im Schneckentempo

Nur bei lockerer Geldpolitik der Zentralbanken haben die hochverschuldeten Staaten laut IWF überhaupt eine Chance, ihre Verbindlichkeiten zu senken. Der Fonds warnt vor übereilten Erwartungen. Europa braucht Geduld mit den Krisenländern.
© Bild: 2012 Reuters/Andrea Comas
Nur bei lockerer Geldpolitik der Zentralbanken haben die hochverschuldeten Staaten laut IWF überhaupt eine Chance, ihre Verbindlichkeiten zu senken. Der Fonds warnt vor übereilten Erwartungen. Europa braucht Geduld mit den Krisenländern. von Reinhard Hönighaus  Frankfurt und Martin Kaelble  Berlin
Die Schulden der Industrieländer sind so hoch wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg - und der Schuldenabbau wird laut einer Untersuchung des Internationalen Währungsfonds (IWF) sehr viel länger dauern als viele glauben. Gemessen an der stärksten Konsolidierungsleistung der Nachkriegszeit, vollbracht von Belgien in den 1980er Jahren, seien heutige Erwartungen an einen schnellen Schuldenabbau überzogen. "Das ist ein Marathon, kein Sprint", schreibt der IWF in einem am Donnerstag veröffentlichten Auszug aus seinem neuen Weltwirtschaftsbericht (World Economic Outlook). Wenn die Schulden die Marke von 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts überschritten hätten, hätten sie im Schnitt der historischen Beispiele auch 15 Jahre später noch nahe dieser Marke gelegen.
Der IWF fordert deshalb von den USA, Japan, Italien, Griechenland, Irland und Portugal, die alle über dieser Schwelle liegen, beherzte Strukturreformen, um das Wachstum zu befeuern. "Geringes Wachstum, hartnäckige Haushaltsdefizite, künftige Verbindlichkeiten durch die alternde Bevölkerung sowie schwache Finanzsysteme haben Zweifel an der langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen genährt", so der IWF. Die Zentralbanken müssten bei der Entschuldung über lange Zeit mit einer weiter sehr lockeren Geldpolitik helfen.
Die Forderung des Währungsfonds nach einer Unterstützung durch die Geldpolitik und der klare Fokus auf Wachstum sind beachtlich für den IWF. Noch vor wenigen Jahren galt der Fonds als äußerst orthodox und geldpolitisch klar auf der Seite der Hardliner, die eine lockere Geldpolitik strikt ablehnen. Zudem hing dem IWF seit den 80er Jahren der Ruf an, harte Reformen ohne Rücksicht auf das Wachstum durchzusetzen. Seit der Krise 2008/2009 haben sich die Politikempfehlungen des Währungsfonds jedoch spürbar gewandelt, hin zu einer pragmatischeren Sicht - nicht zuletzt geprägt durch den französischen Chefökonomen Olivier Blanchard und die französischen IWF-Chefs Dominique Strauss-Kahn und nun Christine Lagarde.

Déjà-vu
Als hätte es das nicht alles schon einmal gegeben: Der Währungsfonds hat alle Fälle von Industrieländern seit 1875 untersucht, in denen der Schuldenberg auf über 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen ist. In der Grafik ist nur eine Auswahl der Beispiele von Industrieländern zu sehen - mit der weiteren Entwicklung des Schuldenstands über jeweils 15 Jahre hinweg. Das Ergebnis: Eine Situation wie heute gab es des öfteren. Mal wurden die Schulden innerhalb weniger Jahre wieder abgebaut, mal dauerte es sehr lang. Von heute auf morgen ging es aber fast nie. Der Fonds hat dabei vier Phasen besonders hoher Schulden ausgemacht: Ende des 19. Jahrhundert, die Zeit nach den beiden Weltkriegen und das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts. Gepunktete Linien markieren fehlende Daten, die vom IWF geschätzt wurden.

26 historische Beispiele von Schuldenkrisen seit 1875 hat der IWF untersucht. "Die entscheidende Lehre daraus ist, dass Unterstützung durch die Geldpolitik eine notwendige Bedingung für eine erfolgreiche fiskalische Konsolidierung ist", schreiben die Autoren des Berichts. So hätten die Konsolidierungsbemühungen in Italien und Belgien in den 90er Jahren zur Vorbereitung auf die europäische Währungsunion erst dann gefruchtet, als die Notenbanken mit Niedrigzinsen mithalfen.
Das gleiche gelte für Kanada. Das Land habe in den 80er Jahren trotz Steuererhöhungen und Ausgabekürzungen kaum Fortschritte beim Schuldenabbau gemacht. Das gelang erst in den 90er Jahren, als Zinsen und Inflation deutlich niedriger waren. Selbst bei niedrigen Zinsen und einem vergleichsweise freundlichen weltwirtschaftlichen Umfeld braucht der Schuldenabbau jedoch Zeit - das ist die zweite Kernaussage des Berichts. Den historischen Geschwindigkeitsrekord hält Belgien, das sein Primärsaldo von 1981 bis 1991 von minus sieben Prozent um elf Prozentpunkte auf plus vier Prozent verbesserte - und dafür immerhin zehn Jahre brauchte. Inzwischen hat die globale Finanzkrise die früheren Erfolge in Belgien und Kanada wieder aufgefressen.
Die Erfahrung lehrt laut IWF zudem, dass langfristig angelegte Strukturreformen viel mehr bringen als kurzfristige Maßnahmen. "Belgien und Kanada waren erfolgreicher beim Schuldenabbau als Italien", so die Autoren. Während Belgiens Regierung in den 90er Jahren dauerhafte Kürzungen im Sozialsystem durchsetzte und das Rentenalter erhöhte, um sich für den Euro  zu qualifizieren, verließ sich Italien auf Privatisierungen, die der Regierung zwischen 1990 und 2000 umgerechnet 108 Mrd. Dollar in die Kasse spülten. Nach dem Euro-Beitritt ließ Italiens Konsolidierungseifer stark nach.
Als Lichtblick für den verschuldeten Westen sieht der IWF die Schwellenländer. Deren Zugkraft für den Welthandel habe klar zugenommen, heißt es in einem weiteren Auszug aus dem Weltwirtschaftsbericht. Die untersuchte Gruppe von 100 aufstrebenden Ländern habe im vergangenen Jahrzehnt erstmals längere Wachstums- als Abschwungphasen erlebt und sei widerstandsfähiger gegen Schocks. Der IWF sieht darin eine Bestätigung für seine Reformauflagen nach der Asienkrise 1997.
  • FTD.de, 27.09.2012
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