Es war für Marktberichterstatter ein seit Jahren anhaltendes Ritual: Ab Ende November trudelten verlässlich die Aktienprognosen sämtlicher Banken, Fondsanbieter und sonstiger Institute mit angeschlossenen Analyseabteilungen ein. Alle hatten gemeinsam, dass sie die Stände der wichtigsten Aktienindizes - meist der DAX in Frankfurt, der S&P 500 in New York, der FTSE 100 in London und der eine oder andere asiatische Index - bis auf die Nachkommastelle genau für den Juni und den Dezember des Folgejahres vorhersagten.
Seit dem flächendeckenden Ausbruch der Finanzkrise nach der Pleite der US-Bank Lehman Brothers etablierte sich eine weitere Tradition: Die Korrektur der Prognose folgte oft im Frühjahr. Denn schon in den ersten Handelswochen des Jahres wurden die Schätzungen durch Kursschwankungen unrealistisch oder gar unerreichbar.
Umso erfreulicher ist es, dass sich seit einem Jahr kaum mehr eine Analyse- oder Strategieabteilung zu einer genauen Aussage hinsichtlich irgendwelcher Indexstände hinreißen lässt. Auch nicht auf Nachfrage. Stattdessen werden Basis- und Nebenszenarien entwickelt und die Entwicklung der Aktienmärkte mit vorsichtigen Verben beschrieben.
Damit reagieren die Analysten zwar mit einer gewaltigen Zeitverzögerung auf den Wandel der Aktienmärkte im vergangenen Jahrzehnt, aber immerhin. In Prä-FTD-Zeiten (vor 2000) lieferten die Anteilscheine von Unternehmen in den wenigsten Jahren keine verlässliche Jahresrendite. Wer sich im Januar etwa eine Daimler -Aktie kaufte, konnte recht sicher sein, dass er sie im Dezember des gleichen Jahres für mehr Geld verkaufen konnte.
Mit dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 änderte sich das - die Volatilität am Markt erhöhte sich enorm. Und seit sich die Euro-Schuldenkrise ihren Weg durch die Kapitalmärkte bahnt, schwanken die Märkte nicht nur wegen ökonomischer Unsicherheiten, sondern auch, weil politische Signale am Markt eine größere Rolle spielen. Wenn Analysten von "politischen Börsen" sprechen, dann bedeutet das, dass jedes Wort, insbesondere eines europäischen Politikers, am Markt für Jubel oder Entsetzen sorgen konnte. Das wird auch in der Post-FTD-Ära so sein.
Selbstverständlich sind Prognosen gute Anhaltspunkte, sie geben Orientierung in einer nicht ganz einfachen Materie. Und wenn alle Analysten vor einem totalen Indexabsturz warnen, dann ist das für Anleger ein gutes Zeichen, erst mal die Finger von Aktien zu lassen. Und es ist klar, dass eine Prognose keinen Anspruch auf Richtigkeit hat. Aber, und daher ist die Einsicht der meisten Analysten so erfreulich: Dieses Aktienjahrzehnt wird wohl als eines der turbulentesten in die Geschichte eingehen. Punktgenaue Schätzungen sind da nur irreführend.