Heinz Fischer: Die Antrittsrede
Heinz Fischer - Foto: BKA/Carina Ott

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Hohe Bundesversammlung!

Mein allererstes Wort als neu gewählter Bundespräsident möchte ich meinem Amtsvorgänger widmen und mich für sein Lebenswerk bedanken. Wir werden in Kürze Gelegenheit haben, in einer eigenen Sitzung ganz speziell auf die Verdienste und auf das Leben von Dr. Thomas Klestil einzugehen. Und ich grüße auch von dieser Stelle sehr respektvoll und freundschaftlich Frau Dr. Klestil-Löffler und Herrn Dr. Waldheim und Frau Dr. Kirchschläger und auch Frau Dr. Martha Kyrle, die Tochter von Bundespräsident Adolf Schärf, der 1957 in dieses Amt gewählt wurde. Herzlich willkommen.

Aus innerster Überzeugung habe ich soeben vor der Bundesversammlung der Republik Österreich meinen Amtseid als Bundespräsident geleistet und dabei insbesondere Verfassungstreue, Gesetzestreue und gewissenhafte Erfüllung meiner Pflichten gelobt.

Dies wird auch die Richtschnur meines Handelns in diesem Amt sein, das mir die österreichische Bevölkerung in freier und geheimer Wahl übertragen hat. Und ich danke der Präsidentin der Bundesversammlung und dem Herrn Präsidenten des Nationalrates, dass sie diese Zeremonie in so feierlicher Form gestaltet haben, ich bedanke mich auch für die freundlichen Worte, und die Diskussion über Arthur Köstler und Lampedusa; die Art, wie der französische Staatspräsident Herriot dieses Zitat aufgegriffen hat, werden wir bei einer anderen Gelegenheit führen.



Österreich zählt zu jenen Demokratien, in denen das Staatsoberhaupt vom Volk in direkter Wahl gewählt wird, und diese Bundesversammlung gibt mir



eine besondere Gelegenheit, mich bei allen Österreicherinnen und Österreichern noch einmal für das Vertrauen zu bedanken, das sie mir geschenkt haben.

Meine Arbeit in den kommenden sechs Jahren wird vom Bemühen geprägt sein, dieses Vertrauen zu rechtfertigen und darüber hinaus auch möglichst viele von jenen zu überzeugen, die diesmal anders entschieden haben.

Bei meiner Familie und ganz besonders bei meiner Frau Margit möchte ich mich für den langen Weg bedanken, den wir gemeinsam zurückgelegt haben, der heute einen besonderen Höhepunkt erreicht und den wir jetzt unter neuen Bedingungen gemeinsam fortsetzen werden. Ich finde es auch wunderschön, dass mein Schwiegervater, der 1938, im Jahr meiner Geburt, in ein KZ verschleppt wurde, heute, 66 Jahre später, im 95. Lebensjahr an dieser Sitzung teilnehmen kann. Ich grüße ihn herzlich.

Es ist mir ein Bedürfnis, mich an dieser Stelle auch an meine Mitbewerberin, Frau Bundesministerin Dr. Benita Ferrero-Waldner, zu wenden und ihr zu sagen, dass ich den Handschlag am Abend des Wahltages als ein menschlich und politisch wertvolles Symbol empfunden habe und dass ich Ihnen, sehr geehrte Frau Bundesministerin, meine respektvolle Hochachtung ausdrücken möchte.

Der Bundespräsident und die Außenministerin werden gemeinsam unserer Heimat dienen. Diesen Willen zu sachlicher Zusammenarbeit möchte ich auch gegenüber der gesamten Bundesregierung zum Ausdruck bringen, und ich werde gleichzeitig die unverzichtbare Rolle der Opposition in einer Demokratie ganz bestimmt nicht aus den Augen verlieren. Meine besondere Verbundenheit mit dem Parlament muss ich nicht eigens betonen.

Was mein Verständnis von der Funktion und den Aufgaben des Bundespräsidenten betrifft, stehen folgende Inhalte im Vordergrund: Der Bundespräsident steht, wie soeben gesagt wurde, im Dienste aller Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Er ist Partner für alle Bemühungen um eine friedliche und gedeihliche Entwicklung unserer Republik. Es ist seine Aufgabe, auf das verfassungskonforme Funktionieren unseres politischen Systems und auf eine harmonische Zusammenarbeit der Staatsorgane hinzuarbeiten.

Der Bundespräsident hat das Recht und die Pflicht, sich in angemessener Form zu Wort zu melden, wenn dies dem Ziel dient, einen Beitrag für eine positive Entwicklung unseres Landes zu leisten oder Schaden von unserem Gemeinwesen abzuwenden. In Deutschland steht das sogar in der Verfassung in der Formel für den Amtseid des Bundespräsidenten - in ähnlicher Form.

Der Bundespräsident übt sein Amt objektiv und unparteiisch aus. Das heißt aber nicht, dass er auf Grundsätze und Prinzipien verzichtet. Ich kann und werde meine Herkunft aus der österreichischen Sozialdemokratie nicht verleugnen und den Idealen meiner Jugend nicht untreu werden; aber ich kann und werde jede Parteilichkeit hinter mir lassen, meine Befugnisse nach bestem Wissen und Gewissen ausüben und bemüht sein, ein Bundespräsident aller Österreicherinnen und Österreicher zu sein.

Als Symbol dafür habe ich auch mit dem Beginn des heutigen Tages meine Mitgliedschaft in der österreichischen Sozialdemokratie ruhend gestellt.

Sehr geehrte Frau Präsidentin!

Die Demokratie ist der Boden, auf dem wir uns bewegen und den wir niemals wieder verlassen dürfen. Konsens ist mir wichtig. Das wissen alle, die mich kennen. Aber Konsens ist kein Selbstzweck. Er dient dazu Brücken zu bauen. Brücken zwischen festen Ufern. Und unter festen Ufern verstehe ich in diesem Zusammenhang jene Werte, die der Politik und dem menschlichen Leben Sinn und Orientierung geben.

Ich bin im Oktober 1938 geboren, also wenige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkrieges und nachdem Österreich seine Selbständigkeit verloren hat. Ich habe noch den Ton der Luftschutzsirenen im Ohr, wenn in den Volksempfängern Fliegeralarm angekündigt wurde. Ich sehe noch die silbernen Stanniolstreifen vom Himmel schweben, die von den Bombenflugzeugen der Alliierten abgeworfen wurden, um die Fliegerabwehrkanonen abzulenken. Ich habe als Kind in den letzten Kriegswochen in der kleinen niederösterreichischen Ortschaft Loich einen langen Zug ausgemergelter Menschen gesehen, die offenbar aus einem Lager evakuiert wurden und sich - von SS-Männern begleitet - mühsam dahinschleppten. Hie und da ist ein Schuss gefallen.

Den Besuch des Gymnasiums in Wien habe ich im Jahr 1948 begonnen, als eine Luftbrücke der Amerikaner die Sowjetisierung Berlins verhindert hat. Glauben Sie mir, bitte, dass mir ein verantwortungsbewusster und ehrlicher Umgang mit der jüngeren Geschichte unseres Landes und eine weitere Aufarbeitung der zeitgeschichtlichen Ereignisse sehr am Herzen liegen. Und glauben Sie mir auch, dass ich für das Thema Krieg und Frieden sehr sensibel bin, dass Friede und Friedenspolitik für mich - so wie für viele andere Menschen meiner Generation aber auch für viele junge und für alle eigentlich - ganz zentrale Aufgaben unserer politischen Bemühungen sein müssen. Dazu bekenne ich mich.

In diesem Sinne begrüße ich auch den Bericht der Reformkommission für das österreichische Bundesheer, den ich so verstanden habe, dass er die Zielsetzung bekräftigt, dass unser Bundesheer ein Friedensheer ist, ein Heer ohne aggressive oder offensive Absichten, das insbesondere der Friedenssicherung, der Katastrophenhilfe, dem Schutz der Grenzen und der Unterstützung der Vereinten Nationen in ihren Friedensaufgabe dienen soll.

Ich betrachte es als eine der wichtigsten Aufgaben der zivilisierten Menschheit im 21. Jahrhundert, den mühsam erkämpften nationalen Rechtsstaat durch gemeinsame Anstrengungen zum internationalen Rechtsstaat weiterzuentwickeln. Das Recht, über Krieg und Frieden zu entscheiden, kann und darf - außer im Falle der Selbstverteidigung - nicht in den Händen Einzelner liegen, sondern muss verrechtlicht und institutionalisiert sein.

Auch dem Thema "Europa" nähere ich mich nur an zweiter Stelle unter dem ganz, ganz wichtigen Gesichtspunkt einer gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialpolitik. An erster Stelle ist die Europäische Integration und der Europäische Integrationsprozess für mich ein Friedensprojekt. Es war eine wunderbare und große Idee, Länder, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei Mal mörderische Kriege gegeneinander geführt haben, in einer Wirtschaftsgemeinschaft zusammenzufassen und damit eine Zone des Friedens und der Stabilität zu schaffen, in der Krieg undenkbar wird. Diese Wirtschaftsgemeinschaft von sechs Staaten ist zur Europäischen Union vertieft und auf bis heute 25 Mitgliedsstaaten erweitert worden; und alle unbestreitbaren Unzulänglichkeiten und Fehlentwicklungen - die ich nicht leugne und die es zu überwinden gilt - werden meines Erachtens mehr als ausgeglichen durch die Friedensdividende und Friedensgarantie, die wir durch den europäischen Integrationsprozess erhalten.

Arbeiten wir daher zusammen, meine Damen und Herren, um genau das unseren jungen Mitbürgerinnen und Mitbürgern als den tiefsten Sinn der europäischen Integration verständlich zu machen und ihr Herz und ihre Zustimmung dafür zu gewinnen: Ein vereintes Europa ist ein friedliches Europa.

In diesem Sinne möchte ich mich vor der Bundesversammlung als Österreicher und Europäer bekennen, der ein starkes Bekenntnis zur österreichischen Heimat und eine europäische Gesinnung nicht als Gegensätze betrachtet.

Viele werden mir, so hoffe ich, zustimmen, wenn ich dem Gesagten noch folgendes hinzufüge: Die Geschichte der Außenpolitik der Zweiten Republik läßt doch erkennen, dass sie vor allem dann ihre nachhaltigsten Erfolge erzielt hat, wenn diese Politik von einer möglichst breiten Zustimmung in unserem Volk und in den verschiedenen politischen Institutionen getragen war. Viele Beispiele ließen sich hierfür anführen.

Die Schlussfolgerung daraus lautet, dass das Ziel einer gemeinsamen Außenpolitik große Anstrengungen rechtfertigt. Und gerne werde ich versuchen, so weit mir das möglich ist, dazu einen Beitrag zu leisten. Dies erscheint mir umso mehr gerechtfertigt, als Österreich in weniger als 18 Monaten den Vorsitz in einer EU mit 25 Mitgliedsstaaten übernehmen wird. Darauf müssen wir uns gemeinsam mit größter Sorgfalt vorbereiten. Das ist wichtig für unser Land, für unsere Zukunft, für unser Ansehen.

Ich habe, meine Damen und Herren, vor wenigen Minuten, aber auch in der Zeit der Wahlwerbung, die Begriffe Fairness und Gerechtigkeit immer wieder angesprochen. Fairness ist ein Begriff, der uns vor allem aus der Welt des Sportes vertraut ist, aber er sollte in Wahrheit in alle Lebensbereiche hineinreichen. Fairness lässt sich nicht in Paragraphen gießen. Das ist eine Grundhaltung, die das friedliche Zusammenleben der Menschen leichter macht, auch - und ganz besonders - in der Politik.

Fair und großzügig war zum Beispiel die Art, wie Sie mich vor wenigen Tagen im Nationalrat verabschiedet haben. Ich habe mich schon bedankt und tue es noch einmal. Und gleichzeitig schließe ich die Bitte an: Bemühen wir uns intensiv um Fairness bei der Austragung politischer Gegensätze und bemühen wir uns auch gegenüber der Bevölkerung, insbesondere gegenüber den sozial Schwächeren in unserem Land und in unserer Gesellschaft, um Fairness. Denn mit Fairness stehen Gerechtigkeit und auch soziale Gerechtigkeit in einem engen Zusammenhang.

Unser Menschenbild beruht doch auf dem Gedanken der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen. Dieser Gedanke muss mit Leben erfüllt werden. Er führt logischer Weise zum Beispiel zum Bemühen um soziale Gerechtigkeit, und dafür tragen wir politische Verantwortung.

Dies gilt auch für die gesellschaftliche Weiterentwicklung unseres Landes. Ich bejahe ausdrücklich die Notwendigkeit von Reformen und sage, dass sich Österreich dieser Notwendigkeit nicht verschließen kann und nicht darf. Aber die Bemühungen um zukunftstaugliche Veränderungen der Gesellschaft einerseits und die Bemühungen um die soziale Symmetrie andererseits müssen gleich stark entwickelt sein.

In weniger als einem Jahr feiert die Zweite Republik ihren 60. Geburtstag. Staatsvertrag und Neutralität werden im gleichen Jahr 50 Jahre alt. Wir haben allen Grund, uns auf diese Jubiläen mit Sorgfalt vorzubereiten und auf die friedliche Entwicklung der Zweiten Republik stolz zu sein.

Gleichzeitig müssen wir die Grundlage dafür schaffen, dass auch unsere Nachkommen dereinst auf die vor uns liegenden Jahre und Jahrzehnte im Rückblick ebenso stolz sein können, wie wir auf die Leistungen unserer Vorfahren stolz sind. Die Voraussetzung dafür sind günstig. Wir haben keinen Grund, unser Licht unter dem Scheffel zu stellen. Es gilt, unsere Anstrengungen darauf zu richten, die vorhandenen Chancen zu nützen. Wir können das, wenn wir wollen. Und wir wollen!

Ich möchte heute auch meinen Respekt vor den Wissenschaftern und Künstlern in unserem Lande zum Ausdruck bringen. Es ist wahr, dass wir die Leistungen der Kulturschaffenden nicht in Prozentsätzen am Bruttonationalprodukt festmachen können. Und dennoch steht fest, dass wir den Kulturschaffenden und den Wissenschaftern unendlich viel verdanken. Ich sehe Begegnungen mit Kulturschaffenden und Wissenschaftern immer als großen Gewinn und möchte mich für deren Beiträge zur Entwicklung unseres Landes und des Geisteslebens in unserem Land herzlich bedanken.

Und ich benutze auch gerne die Gelegenheit, um mich an die Vertreter der Religionsgemeinschaften und der gesetzlich anerkannten Kirchen zu wenden. Ich bin Kardinal Schönborn von der römisch-katholischen Kirche dankbar für gute Gespräche in der Vergangenheit und freue mich, Herr Kardinal, auf Ihren ersten Besuch in der Hofburg, den wir gemeinsam in Aussicht genommen haben, und es wird mir eine Ehre sein, diesen Besuch bei Ihnen zu gegebener Zeit zu erwidern. Ich darf aber auch die Vertreter aller anderen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften in gleicher Weise herzlich grüßen und zum Dialog bzw. zur Fortsetzung unseres Dialoges einladen.

Ich möchte nicht schließen, ohne zu sagen, dass ich mich auch auf die Zusammenarbeit mit den Gebietskörperschaften, den Ländern und Gemeinden freue, deren unverzichtbare Rolle für unser Gemeinwesen ich kenne und deren Arbeit ich schätze.

Vor wenigen Tagen habe ich einen Brief eines jungen Österreichers bekommen, von Stefan Herr, und er hat mir die Latte für das Amt des Bundespräsidenten ziemlich hoch gelegt, indem er geschrieben hat, "Wer einmal zum Bundespräsidenten gewählt ist, ist in der glücklichen Lage, dass er auf die Mechanismen der Macht keine Rücksicht mehr zu nehmen braucht. Er ist in einer beneidenswerten Position, weil er niemandem mehr etwas beweisen muss, weil es in seinem beruflichen Leben nichts Höheres mehr zu erreichen gibt. Er ist vom Volk gewählt und kann es sich leisten, ausschließlich dem Volk verpflichtet zu sein".

"Lieber Stefan", werde ich ihm schreiben, "in Deinen Sätzen steckt schon ein gutes Stück Wahrheit, und ich anerkenne die Feststellung, dass der Bundespräsident dem Volk verpflichtet ist. Aber diese Wahrheit ist doch nicht die ganze Wahrheit. Das Volk ist nicht oder jedenfalls nicht immer eine völlig unteilbare Einheit mit völlig homogenen Interessen. Das ,bonum commune', das allgemeine Beste für ein Land und eine Gesellschaft zu finden, ist nicht nur nicht einfach, sondern im Grunde die schwierigste Kunst der Politik. Und das hohe Maß an Freiheit, das Du ansprichst, bedingt auch ein Höchstmaß an Verantwortung. Frei nach Schopenhauer könnte man vielleicht die Frage stellen: Selbst wenn der Bundespräsident tun könnte, was er will - kann er auch wollen, was er will?"

Tatsache ist jedenfalls, dass ich diesem Österreicher gerne antworten werde, und mich auch bemühen werde, den hohen Ansprüchen der Jungen in unserem Land gerecht zu werden. Ich weiß, dass eine gute Zukunft unseres Landes mit guten Chancen für die jungen Menschen aufs engste verbunden ist. Und die gilt es zu schaffen und zu sichern.

Die Amtsperiode des Bundespräsidenten ist eine Reise von fast 2.200 Tagen. Ich werde alles tun, um meinen Beitrag zu leisten, dass es ein guter Weg für Österreich auf dieser Reise wird, ein Weg, auf dem sich Österreich gut entwickelt, und auf dem sich Europa gut entwickelt, auf dem unsere Gesellschaft menschlicher und die Welt friedlicher wird.

Fragen wir nicht, welchen Nutzen wir davon haben, sondern prüfen wir, welchen Beitrag wir dazu leisten können, darf ich in Abwandlung eines sehr schönen und sehr wichtigen und sehr richtigen Satzes sagen.

Ich schließe mit der Hoffnung: Es lebe unsere friedliche europäische Zukunft! Es lebe die Republik Österreich! Ich danke Ihnen.

Die Druckfassung ist am 09.07.2004 in der Wiener Zeitung erschienen

Verweis Österreichs Kanzler und Präsidenten