Von Walter Hämmerle
Vom Baumeister der Zweiten Republik, über den
Kanzler des Staatsvertrages, kauzigen Virginiaraucher und beredten Schweiger
bis zum ehrfurchtsvoll-spöttischen "Cäsar in Knöpferlschuhen"
reichen die bildhaften Klischees über Julius Raab. Über keinen
konservativen Politiker der Zweiten Republik gibt es so viele
Veröffentlichungen, keiner fand seinen Weg so tief in das kollektive
Bewusstsein seiner Landsleute. Zum Anlass seines morgigen 110. Geburtstages ein
Rückblick auf Leben und Zeit von Julius Raab.
Markante Bilder und
Anekdoten waren noch stets die besten Träger lebendiger Erinnerung. Auf
diese Weise finden Schlaglichter großer Persönlichkeiten am
leichtesten den Weg ins kollektive Gedächtnis ihrer Nachwelt. Es
gehört dabei zu den erfreulicheren Seiten der menschlichen Natur, dass der
Blick zurück stets ein milder, oberflächlicher ist. Die Gegenwart und
ihre Repräsentanten haben es da in der Regel schwerer, die
Öffentlichkeit ist eine andere geworden. Auch musste damals eine vielfach
gespaltene Gesellschaft erst zusammengeführt, Gemeinschaft hergestellt
werden. Heute überwiegt demgegenüber das Bedürfnis nach
Unterschieden, der Vorrat an Gemeinsamem erscheint ausreichend und gilt deshalb
schon als gesichert.
Im Fall von Julius Raab verschmelzen vor allem zwei
Bilder zu einem:
Der Virginia rauchende
Staatsvertragskanzler, führungs- und entscheidungsstark. Ruhe, Ordnung und
Stabilität waren eben damals, im ersten Jahrzehnt nach 1945, die
vorrangigsten Bedürfnisse der Österreicher.
"...der die Leut' dazu bringt zu tun, was er will": "Ich
bin ein alter Politiker, ich hab immer geglaubt, ein großer Politiker ist
nicht einer, der tut was die Leut' wollen, sondern einer, der die Leut' dazu
bringt zu tun, was er will," so Raab 1961. In diesem Sinne war er
tatsächlich ein großer Politiker. Wem sonst stünde es zu, die
an ihn selbst gerichtete Bemerkung Nikita Chruschtschows beim zweiten
Moskaubesuch 1958 "Sie sind ein Kapitalist" mit einem genüsslichen Zug an
der Zigarre und einem "Nur ein kleiner Kapitalist, dafür sind Sie ein
großer Kommunist" zu kontern?
Ein großer Politiker zu sein,
hat zahlreiche Vorteile. Etwa eröffnet es die Chance, viel für sein
Land, die Menschen und Interessen, die man vertritt, zu erreichen. Es birgt
aber auch einige Risiken in sich. Zum Beispiel die Gefahr einsamer
Entschlüsse und falscher Entscheidungen in wesentlichen Fragen. Dass es
bei Raab nur bei der Gefahr blieb, war sicherlich nicht die geringste Leistung
dieses Politikers.
Produkt einer anderen Zeit
Mit heutigen
Augen betrachtet, war Raab als Mensch und Politiker das Produkt einer anderen
Zeit. Nicht wenige Anekdoten über den Politiker handeln von seinem
ausgeprägten Machtbewusstsein, seinem autoritären Führungs- und
Entscheidungsstil. Julius Cäsar wird man von seinen Schulkameraden ja wohl
doch nicht ganz ohne Grund gerufen.
Aus bürgerlichen
Verhältnissen stammend, prägten Schule, Kirche, Gewerbe und
Militär seine Vorstellungen von Disziplin und Autorität. Er verstand
und lebte Autorität jedoch nicht als formale Hierarchie, vielmehr als
wechselseitiges Verhältnis zwischen Vertrauen der und Obsorge für die
von ihm Geführten. Früh Mitglied im CV, tritt er später der
christlich-sozialen Partei bei, wird Gemeinderat und Bezirkssekretär in
St. Pölten. 1927 entsandte Ignaz Seipel,
Parteiobmann der Christlich-sozialen, Raab in die niederösterreichische
Heimwehrbewegung, in der er zum eher gemäßigten Flügel dieser
grundsätzlich anti-demokratischen Bewegung gehörte. Und obwohl er mit
faschistischen Ideen nichts am Hut hatte, machte er doch beim "Korneuburger
Eid" 1930 mit, jenem Bekenntnis zur Abschaffung der parlamentarischen
Demokratie.
In den folgenden Jahren überwog das Bedürfnis nach
Distanz zu Heimwehr und Politik, und Raab engagierte sich statt dessen für
die Interessen der Klein- und Mittelunternehmen, was ihm 1938 für einige
wenige Tage den Posten eines Handelsministers im letzten Kabinett
Schuschnigg einbrachte. Haft und
Konzentrationslager blieben ihm während der NS-Herrschaft erspart, um ein
Aufenthaltsverbot für seinen Heimatbereich kam er allerdings nicht herum.
Die Kriegsjahre verbrachte er als Bauleiter einer Wiener Baufirma. Zum Ende des
Krieges stand er bereit: Als einer der Männer der ersten Stunde.
Kompromiss als Mittel zum Zweck
Es zählt das Ziel,
der Weg dorthin gerät schnell in Vergessenheit. Raab hielt sich bis zum
Schluss seiner politischen Karriere an diese Devise. Außenpolitisch
hieß das große Ziel Staatsvertrag. An den Sowjets führte dabei
kein Weg vorbei. Im Gegensatz zu vielen anderen Politikern weigerte sich Raab
beharrlich, den russischen Bären sinnlos zu reizen und der weit
verbreiteten Unzufriedenheit über die jahrelange Verzögerung des
Staatsvertrages in Worten und Taten Ausdruck zu verleihen. Österreich war
im übrigen auch gar nicht in der Position dazu, und Raab war sich dieses
Umstandes voll bewusst, handelte auch dementsprechend. Die immerwährende
Neutralität nach Schweizer Muster und auch noch einige andere
Zugeständnisse an die sowjetische Besatzungsmacht führten
schließlich zum großen Ziel. Am 15. Mai 1955 erhielt mit der
Unterzeichnung des Staatsvertrages Österreich seine Freiheit zurück.
Der Staatsvertragskanzler war geboren.
Auch innenpolitisch war Raab ein
Mann des Ausgleichs und überzeugter Vertreter des
sozialpartnerschaftlichen Korporatismus, an dessen Aufbau er maßgeblich
beteiligt war. Als Interessenvertreter, Parteiobmann und Kanzler
befürwortete er die Zusammenarbeit mit den Sozialisten in Regierung und
Sozialpartnerschaft. Diese waren ihm eben lieber am Regierungstisch als auf der
Straße. Zahlreiche weit reichende sozialpolitische Gesetze und
Maßnahmen wie etwa das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz, die
Arbeitszeitverkürzung oder der Familienlastenausgleich belegen, dass den
Worten auch Taten folgten. Der Proporz - jenes System wechselseitiger
parteipolitischer Neutralisierung, mit dessen Hilfe sich die Koalitionspartner
zu kontrollieren suchten - war die Kehrseite dieser
Zusammenarbeit.
Suche nach Neuem
Die Große Koalition
hatte während der Kanzlerschaft Raabs ihre Blütezeit -
spätestens mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages wohl auch ihre
staatspolitische Rechtfertigung - bereits hinter sich. Beide Partner begannen,
sich in ihrer gegenseitigen Umklammerung unwohl zu fühlen. So wurde
erstmals Kritik am Bestehenden laut. Externe Beobachter sahen zuerst das
größere Ganze: Sie hegten Zweifel an der grundsätzlichen
Problemlösungskraft des bestehenden Systems der großen Koalition an
sich. Kritisiert wurde vor allem der überbordende parteipolitische
Proporz. Das Kosten-/Leistungsverhältnis des politischen Systems der
Zweiten Republik stand erstmals am Pranger.
Die interne Kritik entsprang
einer engeren Logik. Zugrunde lag ihr die Einsicht, dass Demokratie
notwendigerweise auf Differenz beruht. Dies wurde nun auf die jeweils eigene
Partei bezogen. Zumindest ein Schluss lag nahe: Ein solches Koalitionssystem
lässt keinen Raum mehr übrig für die eigene politische
Profilierung, den parteipolitischen Erfolg. So wuchs in beiden Parteien das
Unbehagen am bestehenden Zustand, aneinander gekettet zu sein - und es mehrten
sich die Versuche, diesen Zustand zu durchlöchern oder gleich ganz
aufzubrechen.
Freiraum schaffen
Anfang der 50er Jahre war
in weiten Teilen die Mangelwirtschaft der ersten Nachkriegsjahre
überwunden, zentralistische Lenkungsmaßnahmen verloren ihre
Berechtigung. Die Parameter wirtschaftspolitischen Denkens begannen sich
grundlegend zu verschieben - eine Entwicklung, die für die strategische
Positionierung der Parteien nicht ohne Folgen bleiben konnte. So erwuchs der
ÖVP mit dem Verband der Unabhängigen ab 1949 ein Konkurrent um
Wählerstimmen am rechten, wirtschaftsliberalen Rand. Die Volkspartei war
zur Bewegung gezwungen und Raab öffnete die Partei nach rechts, um der
neuen Konkurrenz begegnen zu können. Im Raab-Kamitz-Kurs fand die neue
angebotsseitige, mit keynesianischen Elementen angereicherte
makro-ökonomische Strategie ihren klarsten Ausdruck.
Der Kanzler
Raab versuchte 1957 den strategischen Durchbruch seiner Partei. Anlass war die
durch den Tod Theodor Körners notwendig gewordene Neuwahl des
Bundespräsidenten. Raab schmiedete ein Wahlbündnis mit der 1956 ins
Leben gerufenen FPÖ, der Nachfolgepartei des VdU: Gemeinsamer Kandidat
wurde Wolfgang Denk. Der richtige Mann in der Hofburg, so das Kalkül,
werde die Ausgrenzung der FPÖ beenden, die der Sozialdemokrat
Körner 1953 dekretiert hatte. Am langfristigen
strategischen Ziel Raabs, nämlich die Wählerschaft der
neugegründeten FPÖ zu inhalieren, änderte dieser Schachzug
nichts.
Das Manöver misslang, Denk unterlag Schärf und die Situation innerhalb der Koalition
blieb, wie sie war - außer, dass der Stratege dahinter geschwächt
war. Von nun an sollten es Landespolitiker der ÖVP wie Josef Krainer sen.,
Karl Gruber oder Josef Klaus sein, die forderten, die FPÖ langfristig in
die eigenen Planungen miteinzubeziehen.
Am Ende ein
Kontrapunkt
Ein würdevoller Abgang von der großen
politischen Bühne blieb Raab verwehrt. Sein Verständnis von Politik
und Führung fand sich mit den neuen Rahmenbedingungen nicht mehr zurecht.
Nach außen fehlten zeitgemäße Antworten auf die neuen
Probleme. Nach innen nagte die immer stärker werdende Kritik an der
Unbeweglichkeit der Partei in der Zwangsjacke der großen Koalition an der
Autorität des Staatsvertragskanzlers. Der Ruf nach neuen Männern
wurde zunehmend lauter. Die Reformer unter Klaus wandten sich gegen die
bisherige "Politik beim Weinglas und durch das Weinglas". Anstelle von Emotion,
Opportunismus und Augenblickslösungen sollten nach deren Vorstellungen nun
"neue Werte" wie Sachverstand, Systematik und dauerhafte Lösungen treten.
Die Ära persönlich begründeter Autorität war fürs
erste vorbei, an ihre Stelle trat der scheinbar neue Reiz der Technokratie. Die
Konsolidierung der demokratischen Institutionen der Zweiten Republik
rechtfertigte einen solchen Schritt durchaus.
Ein Schlaganfall im Jahre
1957 tat ein übriges. Im April 1961 trat Raab das Amt des Bundeskanzlers
an Alfons Gorbach ab, klammerte sich jedoch noch an
das Amt des Handelskammerpräsidenten. Bereits schwer krank stellte er sich
nochmals in den Dienst seiner Partei und kandidierte 1963 gegen den
Amtsinhaber, den Sozialdemokraten Adolf Schärf, für das Amt des
Bundespräsidenten: Aussichtslos. Ein Jahr später, am 8. Jänner
1964 starb Julius Raab.
Seinem Wunsch gemäß sprach an seinem
Grab nur ein einziger Redner:
Leopold
Figl, Freund und politischer Wegbegleiter über lange Jahre. |