magazin info3/archiv/September 1998

Ein Ketzerbrief

Für eine Wiederentdeckung des frühen Rudolf Steiner

Von Felix Hau

Siddharta Gautama hatte früh sein Leben der Suche nach Wahrheit verschrieben. Er suchte Erkenntnis um jeden Preis und fand sie schließlich - nach vielen gescheiterten Versuchen - durch Beschreiten des "mittleren Weges". Nicht Askese, nicht Überfluß - das ausgeglichene Leben in der Wirklichkeit und der Wille zur Wahrheit sind die Basis seiner Initiation gewesen. Als er sich auf den "Diamantthron" niedergelassen und eine üppige Mahlzeit genossen hatte, steigerte er seinen Erkenntnisdrang in solche Höhen, daß er die endgültige Erleuchtung erlangte. Niemand half ihm dabei, keinem ist er gefolgt; er selbst bahnte sich den Weg ins Nirvana und erkannte schließlich: "Zerstört ist die Wiedergeburt, ich führe den Wandel der Heiligkeit, getan ist, was zu tun war; nicht gibt es etwas anderes nach dieser Existenz." 2

Erst dann - als Buddha - entschied er sich für ein Leben als Bettelmönch. Er verkündete die vier edlen Wahrheiten als Zentrum der buddhistischen Lehre (dharma) und gründete den ersten Mönchsorden (sangha). All dies tat er in der Absicht, jedes Wesen vom Rad der Wiedergeburt zu befreien; er zeigte einen - wie er glaubte - allgemein gangbaren Weg zur Erleuchtung auf. 3 Was dabei leicht übersehen wird, ist die Tatsache, daß er selbst die Buddhaschaft auf viel direkterem Wege erlangte. Er war weder Mitglied eines Ordens, noch scherte er sich darum, "Gutes" zu tun, um sein Karma zu verbessern; er folgte keinem Guru und hielt sich an keine Lehre. Siddharta Gautama war Individualist. Und nur als solcher konnte er den Weg zur Weisheit finden.

An Gottes Stelle den freien Menschen!!!

Auch Rudolf Steiner war Individualist. In seinem Frühwerk gibt er sich als vehementer Fürsprecher des Individualismus als der einzig wahren Form des Menschseins zu erkennen. 1892 - zwei Jahre vor dem Erscheinen der Philosophie der Freiheit - präsentiert er auf einem als Gesellschaftsspiel gedachten Fragebogen sein Lebensmotto: "An Gottes Stelle den freien Menschen!!!" 4

Diese Forderung ist keine abstrakte, sondern eine lebendige, aus dem eigenen Erleben geborene. Sein Initiationserlebnis, seine Erfahrung des Zur- Welt-Werdens des Ich, beschreibt Steiner 1881 in einem Brief an einen Freund: "Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis halb ein Uhr Mitternacht mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: 'Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen, und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.' - Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben - geahnt habe ich es ja schon längst -; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen einen solchen Fund!" 5

Unter "Lieblingscharaktere in der Poesie" vermerkt Steiner in dem oben genannten Fragebogen "Prometheus" , den goetheschen Spötter jeder ihn beherrschen wollenden göttlichen Macht. Auf die Frage "Wer möchtest Du sein, wenn nicht Du selbst?" antwortet er "Friedrich Nietzsche vor dem Wahnsinn". 6 - Das verwundert nicht weiter, beschäftigt er sich doch in dieser Zeit vornehmlich mit Nietzsches Werken und erkennt in ihm einen seelenverwandten "Kämpfer gegen seine Zeit". 1895 erscheint Steiners Nietzsche-Buch, in dessen Vorrede er schreibt: "Als ich vor sechs Jahren die Werke Friedrich Nietzsches kennen lernte, waren in mir bereits Ideen ausgebildet, die den seinigen ähnlich sind. Unabhängig von ihm und auf anderen Wegen als er, bin ich zu Anschauungen gekommen, die im Einklang stehen mit dem, was Nietzsche in seinen Schriften: "Zarathustra", "Jenseits von Gut und Böse", "Genealogie der Moral" und "Götzen- Dämmerung" ausgesprochen hat." 7 Die Worte Zarathustras: "Ihr sagt, ihr glaubt an Zarathustra? Aber was liegt an Zarathustra! Ihr seid meine Gläubigen: aber was liegt an allen Gläubigen! Ihr hattet Euch noch nicht gesucht: da fandet ihr mich. So tun alle Gläubigen; darum ist es so wenig mit allem Glauben. Nun heiße ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren" kommentiert Steiner so: "Nietzsche ist kein Messias und Religionsstifter; er kann deshalb sich wohl Freunde seiner Meinungen wünschen; Bekenner seiner Lehren aber, die ihr eigenes Selbst aufgeben, um das seinige zu finden, kann er nicht wollen." 8

Wie Nietzsches Zarathustra seinen Gläubigen gegen deren Glauben redet, wie Buddha seinem treuesten Jünger Ananda bis zu seinem Tod begreiflich zu machen trachtet, daß Ananda ihn verlassen muß, um erkennen zu können, so hat auch Rudolf Steiner darauf hingewiesen, daß das Individuum nur dann zur Freiheit gelangen kann, wenn es sich unabhängig weiß von jeglicher Bevormundung, von jeder erdenklichen Macht, die über dem oder außerhalb des eigenen Ichs angenommen wird. Der Mensch ist erst dann frei, wenn er das Ich als ursprünglich aus sich heraus schöpferisch - als göttlich - erkannt hat.

Seiner späteren zweiten Frau Marie von Sivers schreibt er 1904 in das Mabel Collins- Buch Licht auf den Weg als Widmung: "Suche nach dem Licht des Weges! Doch suchst du vergebens, so du nicht selbst Licht wirst." 9 Im Nietzsche-Buch drückt er es so aus: "Der Mensch ist in dem Augenblicke schon schwach, in dem er nach Gesetzen und Regeln sucht, nach denen er denken und handeln soll. Der Starke bestimmt die Art seines Denkens und Handelns aus seinem eigenen Werke heraus." 10

In Max Stirner findet Rudolf Steiner einen weiteren Gesinnungsgenossen. Stirners Werk Der Einzige und sein Eigentum macht einen starken Eindruck auf ihn, und er schreibt 1898 in seinem Stirner gewidmeten Essay Voilà un homme : "Und ich hatte eine Empfindung von der Seligkeit, welche die Brust des Mannes durchdrang, der da sagen konnte: 'Alle Wahrheiten unter mir sind mir lieb; eine Wahrheit über mir, eine Wahrheit, nach der ich mich richten müßte, kenne ich nicht.' (...) Ein Eroberer ohne gleichen ist Max Stirner, denn er steht nicht mehr im Solde der Wahrheit; sie steht in dem seinen." 11

Die Philosophie der Freiheit

1894 bereits war die Philosophie der Freiheit erschienen. Über sie sagt Rudolf Steiner in Mein Lebensgang im Rückblick: "Ich suchte in meinem Buche darzulegen, daß nicht hinter der Sinneswelt ein Unbekanntes liegt, sondern in ihr die geistige Welt. Und von der menschlichen Ideenwelt suchte ich zu zeigen, daß sie in dieser geistigen Welt ihren Bestand hat. (...) Erkennen ist nicht ein Abbilden eines Wesenhaften, sondern ein Sich- hinein-Leben der Seele in dieses Wesenhafte. Innerhalb des Bewußtseins vollzieht sich das Fortschreiten von der noch unwesenhaften Sinnenwelt zu dem Wesenhaften derselben. (...) In Wahrheit ist die Sinneswelt also geistige Welt; und mit dieser erkannten geistigen Welt lebt die Seele zusammen, indem sie das Bewußtsein über sie ausdehnt. Das Ziel des Erkenntnisvorganges ist das bewußte Erleben der geistigen Welt, vor deren Anblick sich alles in Geist auflöst." 12

Was schreibt nun Rudolf Steiner in seiner Philosophie der Freiheit, die innerhalb der Anthroposophischen Gemeinde oft auf wenig Willen zur Auseinandersetzung mit ihr stößt? Was findet man in dieser Schrift, die Steiner selbst für seine wesentlichste hielt?

Die Philosophie der Freiheit holt den Leser dort ab, wo er steht: in einer dualistischen Welt- und Lebenssicht, auf einem Standpunkt, von dem aus betrachtet hier ich bin und dort die Welt ist. Dieser vermeintlich feste Grund des eigenen "Vor-der-Welt-Stehens" gerät auf rund 250 Seiten zunächst ins Schwanken, um schließlich gänzlich zu zerbröseln. Der Autor der Philosophie der Freiheit schafft das Jenseits ab, tötet jeden externalisierten Gott und verhilft dem lebendigen Denken gegenüber dem Fühlen und anderen menschlichen Sensationen zu einer Vormachtstellung. Die Philosophie der Freiheit ist ein radikales Bekenntnis zum Monismus, ein Plädoyer für die Individualität, ein Wegweiser zum Gottsein des Menschen; es ist die Aufzeichnung der Selbsterkenntnis Gottes.

"Der Mensch hat nicht den Willen eines außer ihm liegenden Wesens in der Welt, sondern seinen eigenen durchzusetzen; er verwirklicht nicht die Ratschlüsse und Intentionen eines andern Wesens, sondern seine eigenen. Hinter den handelnden Menschen sieht der Monismus nicht die Zwecke einer ihm fremden Weltlenkung, die die Menschen nach ihrem Willen bestimmt, sondern die Menschen verfolgen, insofern sie intuitive Ideen verwirklichen, nur ihre eigenen, menschlichen Zwecke. Und zwar verfolgt jedes Individuum seine besonderen Zwecke. Denn die Ideenwelt lebt sich nicht in einer Gemeinschaft von Menschen, sondern nur in menschlichen Individuen aus. Was als gemeinsames Ziel einer menschlichen Gesamtheit sich ergibt, das ist nur die Folge der einzelnen Willenstaten der Individuen, und zwar meist einiger weniger Auserlesener, denen die anderen, als ihren Autoritäten, folgen. Jeder von uns ist berufen zum freien Geiste, wie jeder Rosenkeim berufen ist, Rose zu werden." 13

Jede Vorstellung des Ausgeliefertseins des Menschen an ihm fremde Schicksalsmächte lehnt Steiner rigoros ab. Das Menschenleben "hat nur den Zweck und die Bestimmung, die der Mensch ihm gibt. Auf die Frage: was hat der Mensch für eine Aufgabe im Leben? kann der Monismus nur antworten: die, die er sich selbst setzt. Meine Sendung in der Welt ist keine vorherbestimmte, sondern sie ist jeweilig die, die ich mir erwähle. Ich trete nicht mit gebundener Marschroute meinen Lebensweg an." 14

Anthroposophie als Ideengestaltung

Karen Swassjan betrachtet die Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft als eine Geschichte des Mißverstehens der Philosophie der Freiheit : "Das Scheitern der Anthroposophischen Gesellschaft (wohlgemerkt nicht der Anthroposophie selbst, die als Christusbewußtsein der Welt keinem Scheitern unterliegt) nach 1925 und bis zum heutigen Tag ist durch nichts anderes verursacht denn durch das unrichtige Lesen der Philosophie der Freiheit." 15 Er stellt in Bezug auf Rudolf Steiner die Frage: "Wer ist denn dieser, der das einmalige und von keinem Sterblichen auch nur erträumte Wort von sich geben darf: 'Die Ideenwelt ist mein Erlebnis. Sie ist in keiner anderen Form vorhanden als in der von mir erlebten. '?" 16


Ich möchte diese rhetorische Frage mit Blick auf Steiners weiteres Leben und seine Begründung der Anthroposophie ergänzen: Was macht Gott, wenn er sich als solcher erkannt hat?

Die Antwort ist eindeutig: Er erschafft die Welt.


Und was sagt Rudolf Steiner selbst in der Rückschau auf sein weiteres Leben? "Für mich war mit der Philosophie der Freiheit dasjenige von mir abgesondert und in die Außenwelt hineingestellt, was der erste Lebensabschnitt durch das schicksalsgemäße Erleben der naturwissenschaftlichen Daseinsrätsel an Ideengestaltung von mir verlangt hat. Der weitere Weg konnte nunmehr nur in einem Ringen nach einer Ideengestaltung für die geistige Welt selbst sein." 17 . Er schreibt in Mein Lebensgang zwar in der ihm später eigen gewordenen - theosophisch gefärbten - blumigen Sprache, aber es kommt dennoch klar zum Ausdruck, welche Rolle er selbst seinen anthroposophischen Schriften zuweist. Präzisiert wird das ganze durch die das Ende seiner Weimarer Zeit kommentierende Äußerung: "Und die Frage wurde Erlebnis: muß man verstummen ?" 18


Muß man verstummen?

Nein. Man muß nicht.

Während das erkennende Ich sich in einem Akt der Egoität immer mehr kon-zentriert, um zuletzt in der Erleuchtung punkthaft, zeit- und raumlos nichts mehr zu sein, wird das erkannte Ich - nach gelungenem Quantensprung - zu einem egozentrischen Umkreis; es ist nicht mehr statisch, sondern in zunehmender Ausdehnung begriffen. Willensimpulse werden zu Weltbewegungen. Rudolf Steiners ganzes Sinnen und Trachten ist es nach seinem Einweihungserlebnis, nach seiner Selbsterkenntnis, Welt zu gestalten. Er ist noch über Prometheus hinausgewachsen, den Goethe zuletzt sagen läßt: "Hier sitz' ich, forme Menschen nach meinem Bilde. Ein Geschlecht, das mir gleich sei: zu leiden, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich. Und Dein nicht zu achten - wie Ich." Prometheus verachtet und zweifelt - aber er richtet seine Schmährede dennoch an eine über ihm thronende Macht, von der er sich lösen will, die er aber - um sich von ihr zu befreien - als gegeben anerkennen muß. Steiner erkennt das erweiterte Ich als diese Macht.

Steiner als "Gesellschaftsmensch"

In der Theosophischen Gesellschaft findet er ein Wirkungsfeld, das ihm zunächst Übungsgelände wird und ein Publikum, das nach Geistigem geradezu lechzt - und dies oft sehr unkritisch. Er paßt sich im Duktus den theosophischen Bräuchen an und ebnet auf diese Weise langsam, aber sicher den Weg zur Gestaltung seines ureigenen Lebenswerkes: der Anthroposophie. Am 4. Dezember 1906 schreibt er an Marie von Sivers: "Wenn wir die Logentreiberei als etwas anderes betrachten, denn ein notwendiges Übel, so treiben wir in einen philiströsen Sumpf hinein. Das einzige, auf das es ankommt, ist, daß den Leuten geistiges Leben zugeführt wird. Was sie gegenseitig in den Logen schwatzen, ist nicht zu vermeiden, aber zu gar nichts nütze." 19


Viel später - zu spät eigentlich - wird Rudolf Steiner erkennen, daß er nun über vier Jahrsiebte lang etwas lebt, das nicht seiner ursprünglichen Intention entspricht : Die Menschen, denen er geistiges Leben zuführen will, die er befreien will vom Gängelband einer selbstevozierten Schöpfergestalt, werden zu seinen Anhängern; er selbst entfernt sich zunehmend von sich und lebt ausschließlich für die persönlichen Belange der anderen. 20

Ende 1922 zieht er die Notbremse. Am 31.Dezember - wenige Stunden vor dem Brand des Goetheanums - sagt er im Sylverstervortrag in lange nicht mehr gewohnter Deutlichkeit: "(...) indem der Mensch sich überläßt seinen Spiegelgedanken über die äußere Natur, wiederholt er nur die Vergangenheit, lebt in Leichnamen des Göttlichen. Indem er seine Gedanken selbst belebt, verbindet er sich durch seine eigene Wesenheit, kommunizierend, die Kommunion empfangend, mit dem die Welt durchdringenden, ihre Zukunft sichernden Göttlich-Geistigen. (...) Insofern die Sternenwelt ruhendes Wesen ist, zum Beispiel sich in den Bildern des Tierkreises ruhig im Weltraum zur Erde verhält, insofern ist der Mensch zusammenhängend mit diesen Formgebilden des Weltenraumes. Aber indem er in sie, in diese Formgebilde einströmen läßt sein Geistig- Seelisches, wandelt er selber die Welt. (...) Jedes Jahr trifft neue Gräber - tief wahr ist es! Aber ebenso wahr ist es: Jedes Jahr trifft neue Wiegen." 21


Das Jahr 1923 ist geprägt von Steiners Hin- und Hergerissensein. Am 6. Februar spricht er in Stuttgart über das richtige Lesen der Philosophie der Freiheit: "Immer kommt es darauf an, daß eine gewisse Seelenhaltung eintritt, nicht bloß das Behaupten eines anderen Weltbildes als man es im gewöhnlichen Bewußtsein hat. Das hat man eben nicht mitgemacht: die Philosophie der Freiheit anders zu lesen, als andere Bücher gelesen werden. Und das ist es, worauf es ankommt. Und das ist es, worauf jetzt mit aller Schärfe hingewiesen werden muß, weil sonst eben einfach die Entwicklung der Anthroposophischen Gesellschaft ganz und gar zurückbleibt hinter der Entwicklung der Anthroposophie. Dann muß die Anthroposophie auf dem Umwege durch die Anthroposophische Gesellschaft von der Welt ja gänzlich mißverstanden werden! Und dann kann nichts anderes herauskommen als Konflikt über Konflikt." 22

Ende März gibt er in einem Brief an Edith Marion seiner Überlegung Ausdruck, sich gar endgültig von der Anthroposophischen Gesellschaft zu trennen. "Für die Gesellschaft habe ich eigentlich nur zu sagen, daß ich am liebsten mit ihr nichts mehr zu tun haben möchte. Alles, was deren Vorstände tun, widert mich an." 23 Schließlich entscheidet er sich für eine Neubegründung der desolaten Gesellschaft, in der Hoffnung, man werde dann ein besseres Fundament haben können. "Und doch hängt jetzt alles davon ab, daß die Weihnachtsveranstaltung am Jahrtage des Brandes eine würdige werde, auch durch die Zahl der Teilnehmer. Wenn das nicht der Fall sein würde, so hielte ich es für das beste, überhaupt nicht mehr zu bauen." 24

Er beginnt seine Autobiograpie Mein Lebensgang. Doch ganz hat er sich noch nicht wieder gefunden. So schreibt er auf der ersten Seite: "(...) Denn es war stets mein Bestreben, das, was ich zu sagen hatte, und was ich tun zu sollen glaubte, so zu gestalten, wie es die Dinge, nicht das Persönliche forderten. Es war zwar immer meine Meinung, daß das Persönliche auf vielen Gebieten den menschlichen Betätigungen die wertvollste Färbung gibt. Allein mir scheint, daß dies Persönliche durch die Art, wie man spricht und handelt, zur Offenbarung kommen muß, nicht durch das Hinblicken auf die eigene Persönlichkeit. Was aus diesem Hinblicken sich ergeben kann, ist eine Sache, die der Mensch mit sich selbst abzumachen hat. Und so kann ich mich zu der folgenden Darstellung nur entschließen, weil ich verpflichtet bin, manches schiefe Urteil über den Zusammenhang meines Lebens mit der von mir gepflegten Sache durch eine objektive Beschreibung in das rechte Licht zu rücken." 25

In Friedrich Nietzsche - Ein Kämpfer gegen seine Zeit konnte er hingegen noch begeistert schreiben: "(...) Das ist vornehme Bescheidenheit. Sie geht freilich denjenigen wider den Geschmack, deren verlogene Demut sagt: ich bin nichts, mein Werk ist alles; ich bringe nichts von persönlichem Empfinden in meine Bücher, sondern ich spreche bloß aus, was die reine Vernunft mich aussprechen heißt. Solche Menschen wollen ihre Person verleugnen, um behaupten zu können, daß ihre Aussprüche die eines höheren Geistes sind. Nietzsche hält seine Gedanken für Erzeugnisse seiner Person und für nicht mehr." 26


Die Weihnachtstagung von 1923 stellt einen letzten Versuch Steiners dar, seinem "Kind" - der Anthroposophischen Gesellschaft - den rechten Weg zu weisen. Doch er bleibt in der Zwickmühle gefangen: Einerseits will er eine allgemein menschliche, eine Welt-Gesellschaft, die ohne Hierarchien und ohne Geheimbündelei die für jedes Individuum offene Trägerin der Wahrheit sein soll, andererseits kann er sein Geschöpf nicht gänzlich von der Leine lassen, sieht er doch weit und breit keinen Menschen, der schon frei wäre und alleine laufen gelernt hätte. Diese seine Zerrissenheit führt ihn einerseits schließlich selbst in die Krankheit und überträgt sich andererseits auf die Verfassung der Gesellschaft, die - spätestens mit dem Tod Rudolf Steiners am 30. März 1925 - in ein heilloses Durcheinander gerät und in diesem bis zum heutigen Tage gefangen bleibt. 27

Anthroposophie fordert Eigenständigkeit

Das eigentliche Problem der Anthroposophischen Gesellschaft ist aber nicht die Konstitutions-, sondern die Definitionsfrage.

Was bedeutet Anthroposophie? Kann sie überhaupt etwas bedeuten, als "Erfindung" eines Einzelnen?

Ja. Kann sie. Recht verstanden ist Anthroposophie das durch Rudolf Steiner initiierte Bewußtsein des Menschentums. Zu diesem Bewußtsein gehört aber unabdingbar, daß sich diejenigen, die sich als Anthroposophen bezeichnen, mit dem Frühwerk des Gründers der Anthroposophie, mit den Grundpfeilern der Anthroposophie - mit den erkenntnistheoretischen Schriften - auseinandersetzen; sonst bleiben sie unbewußt und unfrei und verehren weiterhin, statt zu erkennen, glauben statt zu wissen, bleiben in leblosen Worthülsen gefangen, statt sie selbst schöpferisch zu beleben.

Man kann nicht oft genug betonen, daß Steiner selbst Steiner nicht gelesen hat, um zu der Erkenntnis zu gelangen, die er in seinen Büchern der Welt vermitteln will. Die gesamten theosophischen und anthroposophischen Schriften sind nichts wert, solange nicht erkannt wird, daß Steiner dort Ideen und Begriffe gestaltet. Die Philosophie der Freiheit enthält bereits alles, was zur Selbst- und Welterkenntnis des Menschen führen kann. Man tut Rudolf Steiner und vor allem sich selbst keinen Gefallen, wenn man überall sein Konterfei in Holzrahmen hängt, seines Geburtstages gedenkt, seine Sinnsprüche auswendig lernt, Eurythmie und biologisch- dynamische Landwirtschaft betreibt, Naturfasern bevorzugt und Fleisch meidet - ich denke bei alldem auch und vor allem an die Waldorfschulen -, aber dies alles in Unterwürfigkeit unter die Weitsicht des großen Meisters. Individualität ist gefragt, Ideengestaltungen des Einzelnen, nicht Verehrung eines Gurus und Pflichtgefühl gegenüber einer wie auch immer gearteten außermenschlichen und ewigen Moral. "Sind die Menschen imstande wirklich Formen zu verstehen z.B. die Geburt des Seelischen aus dem Wolkenäther der Sixtinischen Madonna: dann gibt es bald für sie keine geistlose Materie mehr. - Und weil man größeren Menschenmassen gegenüber Formen vergeistigt doch nur durch das Medium der Religion zeigen kann, so muß die Arbeit nach der Zukunft dahin gehen: religiösen Geist in sinnlich-schöner Form zu gestalten." 28


Steiner will uns mit jeder Zeile, die er schreibt, mit jedem Satz, den er spricht, begreiflich machen, daß die Ideenwelt des Menschen - sein intuitives Denken in Ideen und Begriffen - ebenso real ist, wie die sinnlich wahrgenommene und sogenannte "Außenwelt"; ja, mehr noch: die sinnliche Welt ist die geistige Welt - wir leben bereits darin und müssen es nur bewußt erfassen, den allen und allem gemeinsamen geistigen Leib erkennen. Wer die Philosophie der Freiheit durchdrungen hat, wird das verstehen und Steiner in seinen Schauungen folgen können. Wer allerdings in seiner Beschäftigung mit der GA - wenn sie schon erfolgt - nie zu den sogenannten "Jugendschriften" vordringt, wird sich bei Steiner und der Anthroposophie umsonst Hilfe für den individuellen Erkenntnisweg erhoffen; er bleibt im Glauben befangen und ersetzt lediglich die in die Hirnstrukturen eingefrästen common-sense-Denkmuster durch Steinertexte, die er immer und immer wieder in langen Zweigabenden durchnudelt und doch niemals begreifen wird. Auch so kann die ewige Wiederkunft des Gleichen aussehen. "Man kann auf den astralischen Leib namentlich dann wirken, wenn man den Leuten gegenüber so redet, daß man weiß, das hören sie gern." 29


- Wirken schon, lieber Herr Dr. Steiner, befreien kann man Menschen dadurch aber nicht, und ich unterstelle Ihnen in bezug auf den zitierten Satz eine dies durchaus wissende Ironie. Kann man es denn deutlicher sagen?


Schon Friedrich Nietzsche fragt ganz unverfroren in Jenseits von Gut und Böse: "Gesetzt den Fall, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit?" 30 - Damit sollte er manchen Anthroposophen zumindest in einen Zustand der Reflexion versetzen können.



Quellen:

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Textanfang Textmitte Textende 1 Rudolf Steiner weiter: "... Aber in ihr ist alles andere enthalten. Wenn jemand den dort geschilderten Freiheitsakt realisiert, findet er den ganzen Inhalt der Anthroposophie". Meyer, T. (Hrsg.):W. J. Stein / R. Steiner - Dokumentation eines wegweisenden Zusammenlebens. Dornach. S. 293 ff.

2 Dutoit 1906, 64. Zitiert nach Klimkeit, H.-J. 1990. Der Buddha - Leben und Lehre. Kohlhammer. Stuttgart - Berlin - Köln. S. 90.

3 Leiden; die Entstehung des Leidens; die Vernichtung des Leidens; der Weg, der zur Vernichtung des Leidens führt (der edle, achtfältige Pfad)

4 Lindenberg, Chr. 1992: Rudolf Steiner. Rowohlt. Hamburg. S. 51

5 Briefe Band I: 1881 - 1890. GA 38, p. 13

6 Lindenberg, Chr. 1992: Rudolf Steiner. Rowohlt. Hamburg. S. 51

7 Steiner, R. 1895: Friedrich Nietzsche - Ein Kämpfer gegen seine Zeit. GA 5, p. 9

8 Steiner, R. 1895: Friedrich Nietzsche - Ein Kämpfer gegen seine Zeit. GA 5, p. 16

9 Rudolf Steiner / Marie Steiner-von Sivers: Briefwechsel 1901 - 1925. GA 262, p. 45

10 Steiner, R. 1895: Friedrich Nietzsche - Ein Kämpfer gegen seine Zeit. GA 5, p. 25

11 Steiner, R. 1898: Voilà un homme. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884-1902. Dornach 1971. GA 32, p. 219ff

12 Steiner, R. 1923 - 1925: Mein Lebensgang. GA 28, p. 172

13 Steiner, R. 1894 / 1918: Die Philosophie der Freiheit. GA 4, p. 179

14 ebd., p. 186

15 Schulz, H. G.; Swassjan, K.1995:Weltmacht Rudolf Steiner - 1. Überwindung der Philosophie. Erschienen in der Reihe: Urphänomene - Denkschriften für Hinschauende. Rudolf Geering Verlag, Dornach. S. 51

16 ebd., S. 100

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Textanfang Textmitte Textende 17 Steiner, R. 1923 - 1925: Mein Lebensgang. GA 28, p. 174

18 ebd., p. 240

19 Rudolf Steiner / Marie Steiner-von Sivers - Briefwechsel 1901 - 1925. GA 262, p. 99

20 Siehe hierzu: Meyer, Th. (Hrsg.) 1985: W. J. Stein / R. Steiner - Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens. Dornach. S. 293 ff.

21 Steiner, R. 1922: Das Verhältnis der Sternenwelt zum Menschen und des Menschen zur Sternenwelt. GA 219; Vortrag vom 31.12.22

22 zitiert nach: Schulz, H. G.; Swassjan, K.1995:Weltmacht Rudolf Steiner - 1. Überwindung der Philosophie. Erschienen in der Reihe: Urphänomene - Denkschriften für Hinschauende. Rudolf Geering Verlag, Dornach. S. 50

23 Rudolf Steiner / Edith Marion: Briefwechsel. GA 263/1, p. 117

24 Rudolf Steiner / Marie Steiner-von Sivers - Briefwechsel 1901 - 1925. GA 262, p. 205

25 Steiner, R. 1923 - 1925: Mein Lebensgang . GA 28, p. 7

26 Steiner, R. 1995: Friedrich Nietzsche - Ein Kämpfer gegen seine Zeit . GA 5, p. 32

27 Siehe hierzu z.B. die diversen Publikationen von Wilfried Heidt (IAA) und Benedictus Hardorp zur Konstitutionsfrage der AAG

28 Rudolf Steiner / Marie Steiner-von Sivers - Briefwechsel 1901 - 1925. GA 262, p. 74

29 Steiner, R. 1924: Natur und Mensch in geisteswissenschaftlicher Betrachtung. GA 352, p. 151

30 Nietzsche, F.: Jenseits von Gut und Böse. Erstes Hauptstück, 1.

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