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Anmerkungen zur Entwicklung der Anthroposophie

Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen

Von Bodo von Plato

In den infoseiten Anthroposophie kommen regelmäßig engagierte Menschen der anthroposophischen Bewegung zu Wort, die sich zur Lage des anthroposophischen Kulturimpulses äußern. Diesmal ist Bodo von Plato, Kulturwissenschaftler und Mitglied des Vorstandes der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum in Dornach, unserer Einladung gefolgt.

Von der Wiederholung zur Vergegenwärtigung
Anthroposophie ist nie das, was sie war. Deshalb ist es auch nicht so leicht, sie zu identifizieren und leicht, sie mit ihren früheren Lebens- oder Erscheinungsformen zu verwechseln. Es ist natürlich gut zu verstehen und naheliegend, bei Rudolf Steiner nachzuschauen, wenn man sich für Anthroposophie interessiert. Denn schließlich schilderte er sie zum ersten Mal, brachte sie durch seine Schilderung ins Leben – und offensichtlich kannte und lebte sie niemand seither so umfassend und vielgestaltig wie er. Daher ist der Bezug zu Rudolf Steiner entscheidend in dem Verstehen der Anthroposophie und es ist in jeder Hinsicht folgenreich, wie diese Beziehung aussieht. Wenn es aber zutrifft, dass Anthroposophie – wie jedes lebendige geistige Wesen – nie das ist, was sie einmal war, dann ist sie heute auch nicht mehr das, was Rudolf Steiner beschrieb oder lebte. Oder gibt es doch noch etwas Immer-Gültiges, etwas, das nicht der Verwandlung unterworfen ist, dem ein zeitloses Sein zugesprochen werden kann, das in der Wiederholung authentisch auflebt und keine Vergegenwärtigung nötig hat?

Jedenfalls ist das Lesen und Studieren der Anthroposophie in den Worten und Taten Rudolf Steiners ein anderes, wenn vorausgesetzt wird, dass man dabei der gegenwärtigen Wirklichkeit der Anthroposophie begegnet, oder wenn man davon ausgeht, dass man etwas wahrnimmt, dessen Wirklichkeit erst in der Vergegenwärtigung durch die individuelle Verwandlung entsteht. Der Lesende selbst ist ein anderer, wenn er sich in der ersten oder in der zweiten Art der überlieferten Anthroposophie zuwendet – und die in ihm sich bildende Anthroposophie auch.

Es scheint mir, als sei es für erstaunlich lange Zeit möglich gewesen, dass Menschen und Gruppen die Bücher, nachgeschriebenen Vorträge und Hinweise Rudolf Steiners lesen konnten und das Gelesene unmittelbar für wirklich hielten, ohne dadurch in eine gefährliche Illusion zu geraten – ja im Gegenteil, dass es ihre Ideen und Taten wirklich anthroposophisch inspirierte. Allerdings begann auch schon zu Lebzeiten Rudolf Steiners die bis heute verbreitete Praxis, dass jemand eine Wiederholung von Wortlauten Rudolf Steiners für dasselbe hält wie das, worauf Rudolf Steiner wies, ohne zu merken, dass er damit, oft in bester Absicht, eine Unwahrheit ins Leben ruft. Bereits 1913 inszenierte Rudolf Steiner diese Problematik und die daraus hervorgehenden spirituellen und sozialen Verwerfungen im ersten Bild seines Mysteriendramas „Der Seelen Erwachen“.

Die zwei Geheimnisse der Jetztzeit
Es gehört wohl zu den großen, uns allen offenbaren und doch so schwer zu begreifenden Entwicklungsgeheimnissen der Gegenwart, dass es immer wichtiger wird, wer etwas sagt oder tut. Dasselbe Wort ist ein anderes, je nachdem wer es ausspricht, es wirkt anders und wird anders verstanden. Wer etwas sagt, ist heute für das Gesagte meistens wichtiger als das Wie, gelegentlich kann man sogar beobachten, dass selbst das Was an Bedeutung verliert und vor allem die Tatsache wiegt, dass in einem bestimmten Augenblick ein bestimmter Mensch etwas sagt. Wenn es sich um geistige, um ideelle oder um Inhalte handelt, in denen soziale Bezüge eine Rolle spielen, dann sind zudem der konkrete Zeitpunkt, der Ort, die genaue Situation besonders wichtig. Ein nur wenig geänderter Kontext lässt dasselbe Wort bereits anders klingen, es muss anders gedeutet werden, hat andere Voraussetzungen, andere Konsequenzen. Das Wort ist heute in seiner Bedeutung menschen- und kontextabhängiger als zu irgendeiner anderen Zeit.

Hier wird greifbar, wie stark die Individualisierung im Laufe des 20. Jahrhunderts fortgeschritten ist und wie das konkret Situative gegenüber dem Allgemeingültigen an Bedeutung gewonnen hat. Damit sind zwei Phänomene angedeutet, die eng mit der Anthroposophie zusammenhängen. An diesen beiden Phänomenen – der Individualisierung und der wachsenden Bedeutung des Situativen und Wandelbaren – möchte ich Aspekte aus dem gegenwärtigen Entwicklungsmoment der Anthroposophie und ihrer Perspektiven skizzieren.

Von männlichen zu weiblichen Qualitäten
Anthroposophie setzt das kritische, emanzipierte und autonome Individuum voraus. Sie bringt es nicht hervor, aber sie rechnet mit ihm. Hinter die drei großen Fähigkeiten der Moderne, die der Individualisierung zugrundeliegen, möchte sie nicht zurücktreten: Der kritische Geist lebt aus dem Gegenübersein, er prüft, wägt ab, lotet aus, er hinterfragt, unterscheidet und bewertet; Kritikfähigkeit geht Hand in Hand mit Rationalität, Erfahrungsorientierung und Intellektualität, sie sucht die Verifikation und Falsifikation, sie ist Voraussetzung und der erste Schritt zu Freiheit und Emanzipation. Emanzipation beschreibt die Loslösung von umgebenden, gewordenen oder natürlichen Verhältnissen durch einen ab- oder zurückweisenden Gestus; man weist etwas zurück, löst und trennt sich von etwas, mit dem man bis dahin verbunden war, gründet sich auf sich selbst und möchte unabhängig von fremden Einflüssen werden. Die Emanzipation führt in die Autonomie, diesen Zustand der Selbstgesetzlichkeit – so die ursprüngliche griechische Bedeutung –, in dem man sich selbst bestimmt statt bestimmt zu werden; in der verantwortlichen Selbstbestimmung ist schließlich die ganze Herausforderung der Menschlichkeit im individuellen Menschen zu entdecken. Die Würde des Menschen als ein allgemein-menschliches, jedem zukommendes Gut wurde erst aus der Erkenntnis des Zusammenwirkens dieser Qualitäten formulierbar.

Heute aber erleben wir bereits schmerzlich die Zuspitzungen dieses Individualismus, wo er den Einzelnen in eine alles negierende Kritiksucht treibt, ihn in kalte Isolation und öde Selbstgerechtigkeit führt. Im persönlichen und privaten Leben wird die Unerträglichkeit dieses übertriebenen Individualismus meistens früher empfunden, als beispielsweise im ökonomischen oder wissenschaftlichen Betrieb, wo er u.a. als Wirtschaftsliberalismus und Methoden-Reduktionismus herrscht. Und dennoch geht der Menschlichkeit etwas Unwiederbringliches verloren, wenn sie diese Früchte der Moderne einfach aufgibt, um ihren extremen Ausformungen nicht zum Opfer zu fallen.

Anthroposophie wurde gerade zu der Zeit geboren, als die Zuspitzungen dieser eigentlich wunderbaren aufklärerischen Qualitäten begannen. Sie wollte sie aufgreifen und erweitern, wollte ihnen nicht etwa ausweichen oder sie ablehnen wie andere soziale, religiöse oder spirituelle Bewegungen. Wo Kritikfähigkeit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung im anthroposophischen Milieu dennoch nicht geschätzt werden, macht sich rasch Aberglaube und Irrationalismus breit, lässt die Offenbarungssehnsucht jeden selbst gegangenen Erkenntnisschritt als nichtig erscheinen und kann die eigentlich ganz natürliche und selbstverständliche Orientierung an dem Begründer der Anthroposophie recht merkwürdige Formen des Personenkultes oder der Selbstaufgabe annehmen.

Wo sie aber in die anthroposophische Arbeit integriert werden, lassen sich Metamorphosen beobachten, in denen viel von der Schönheit eines ethischen Individualismus sichtbar wird: Dort, wo die Kritikfähigkeit ihren Sitz hat, entsteht ein neues, nicht naives, aber ergebnisoffenes Sich-Wundern über die Welt, über das eigenartige Sosein jedes Menschen, das zu seiner Wertschätzung führt; wo der zurückweisende Gestus Emanzipation hervorbringt, lebt zugleich die Möglichkeit zur Empathie, die den Menschen nicht aus der Welt ausschliesst, sondern sie in die eigene Seele aufnimmt; wo die Selbstbestimmung nicht auf sich selbst konzentriert bleibt, wird sie zum freien Engagement für das, was tatsächlich zum eigenen Schicksal gehört, zur Liebe für jede einzelne Tat.
Die durch Kritik, Emanzipation und Autonomie bestimmte Individualisierung hat einen männlichen Charakter. Er hat unsere europäisch und nordamerikanisch dominierte Zivilisation geprägt und macht sie in seiner Einseitigkeit zunehmend unmenschlich. Eine der wesentlichen Perspektiven der Anthroposophie sehe ich in der Möglichkeit, nicht etwa den Individualismus aufzugeben, sondern einen Beitrag zur Wende in seiner Entwicklung zu geben. Diese Wende zielt auf einen eher weiblichen Charakter, der sich in den skizzierten Eigenschaften der Wertschätzung, der Empathie und Liebe zur Tat äussert. Es sind Eigenschaften, die das Verbindende und Verbindliche fördern, Gemeinwesen ermöglichen und vermutlich liegen hier kaum zu überschätzende Entwicklungsperspektiven für eine Anthroposophische Gesellschaft, die begründet wurde, um eine menschlich-gesellschaftliche Verbindung über die Grenzen der Weltanschauungen, Kulturen und Berufe hinaus zu ermöglichen.

Vom Wandel zu Entwicklung
Unmerklich hat sich in den letzten Jahrzehnten ein markanter Wandel vollzogen. Technik, Kommunikation oder Lebensgewohnheiten beispielsweise haben sich in den letzten 20 bis 50 Jahren so radikal gewandelt, dass die Welt, in der ich heute lebe, kaum noch etwas gemeinsam hat mit der, in der ich vor einigen Jahrzehnten geboren wurde. Das Entscheidende unserer Gegenwart aber scheint mir darin zu liegen, dass sich nicht nur etwas oder jemand gewandelt hat, sondern darin, dass der Wandel selbst zum alles bestimmenden Prinzip geworden ist.
Zuerst fiel die zunehmende Geschwindigkeit des Wandels auf. Was früher für Generationen Gültigkeit hatte, ist heute oft schon ungültig, ehe es überhaupt erkannt wird. Günther Anders nannte das die Antiquiertheit des modernen Menschen. Seine Studien in den 1950er Jahren Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution und Ende der 1970er Jahre Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution beschreiben die rasante Beschleunigung des Wandels aller Verhältnisse, die überall dort auftritt, wo nicht mehr die Natur, sondern der Mensch die Verhältnisse schafft. Je mehr die Welt, die den Menschen umgibt, von ihm selbst geschaffen ist, desto totaler herrscht sich beschleunigender Wandel. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die uns umgebende Welt, jedenfalls in den Industrieländern, menschengemacht – und somit nie das, was sie gerade noch war.

Diese rasante und permanente Veränderung führt zu einer existentiellen Verunsicherung. Sie wird zur Bedrohung, wo sie nur erlitten wird. In demselben Masse, in dem die Konstanz der Verhältnisse, Verbindlichkeit, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit verloren gehen, wächst die Sehnsucht nach ihnen, wächst das Bedürfnis nach gültigen Wahrheiten, nach beständigen Werten und vorgegebener Orientierung. Vergangenheitsorientierung und Fundamentalismus finden in dieser Seelennot verständlicherweise viel Anklang, auch in der anthroposophischen Bewegung.

Es könnte aber auch sein, dass ich den Wandel als bestimmende Kraft nicht nur erleide, sondern annehme und so meine eigene Wandlungsfähigkeit entdecke. Realisiere ich sie, verwandelt sich der in seiner Geschwindigkeit und Omnipräsenz menschenfeindliche Wandel – und wird zu Entwicklung. Diese Entwicklung als geistig-seelische Schulung im Lande der Wandelbarkeit zu wollen und zu befördern, gehört vielleicht zu den „ewigen Werten“ der Anthroposophie, wenn es sie denn geben sollte. Aber selbst hier gibt es nichts Prinzipielles, alles ist konkret und situativ. Im Zusammenhang mit dem ersten Mysteriendrama Die Pforte der Einweihung betont Rudolf Steiner: „Es gibt keine Entwickelung an sich, keine Entwickelung im Allgemeinen; es gibt nur die Entwickelung des einen oder des anderen oder des dritten, des vierten oder des tausendsten Menschen. Und so viele Menschen in der Welt sind, so viele Entwickelungsprozesse muss es geben. Daher muss die wahrste Schilderung des okkulten Erkenntnisweges im Allgemeinen einen Charakter haben, der in einer gewissen Weise sich nicht deckt mit einer individuellen Entwickelung.“ (GA 125, 31.10.1910). Damit sind wesentliche Grundlagen für die Arbeit der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft angedeutet, einer „esoterischen Institution“, in der diese Art der spirituellen Entwicklung ernst genommen wird.

Von Kulturinitiativen zu Gesellschaft und Hochschule
Vor über hundert Jahren, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, entstand Anthroposophie im Wirken Rudolf Steiners als Ausblick der abendländischen philosophischen Entwicklung. Sie entfaltete sich als westlich-christliche Esoterik in Gestalt der anthroposophischen Geisteswissenschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde aber als solche bis heute wenig beachtet. Schließlich brachte sie eine spirituell fundierte Berufs- und Kulturpraxis hervor, die heute, so klein sie auch nach globalen Massstäben ist, weltweit geschätzt wird.
Anthroposophie selbst aber blieb bisher die belächelte oder beargwöhnte Unbekannte im Hintergrund. In den letzten Lebensjahren ihres Begründers leuchtete an mehreren Stellen etwas auf, was heute vielleicht viel unmittelbarer verstanden werden kann – und gebraucht wird: So beispielsweise sein Wunsch, dass Anthroposophie jede Woche einen neuen Namen bekommt, damit nicht der Name eines Gewordenen mit der lebendigen Sache verwechselt werden könne; oder die Kennzeichnung der Anthroposophie als einer unvoreingenommenen, vorurteilslosen und dogmenfreien Versuchsmethode des allgemein Menschlichen. (GA 259, 19.8.1923) Vor allem aber setzte er seine ganze Kraft für den Aufbau einer Gesellschaft ein, in der das Allgemein-Menschliche gesucht, verstanden und bekräftigt werden möchte – und schuf damit eine weltweite Organisation für etwas, das sich seiner Natur nach eigentlich nicht organisieren lässt. In ihrer Mitte, als ihre „Seele“, gründete er mit einem mantrischen Lehrgang die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, die allgemeine und berufliche Esoterik miteinander verbindet – und schuf damit eine Institution für etwas, das sich seiner Natur nach eigentlich nicht institutionalisieren lässt.

In der weiteren Entdeckung, im Auf- und Ausbau dieser überraschenden Einrichtungen liegen noch kaum auszulotende Entwicklungsmöglichkeiten der Anthroposophie für die nächste und fernere Zukunft. Denn es handelt sich nicht um Einrichtungen, die für etwas, die zu einem Zweck geschaffen sind, sondern um Versuche, Bewegung und Form je aktuell zur einer größtmöglichen Deckung zu bringen. Es geht also um Identität, um eine kontinuierliche spirituelle Identitätsbildung auf individuellem, vor allem aber auf gesellschaftlichem Niveau. Damit ist ein reiches Entwicklungsfeld der Zukunft geöffnet.

Bodo von Plato, 1958 in Norddeutschland geboren, arbeitete mit Schwerbehinderten, studierte Geschichte, Philosophie und Waldorfpädagogik, war Oberstufenlehrer an der Steiner-Schule in Verrières le Buisson und baute eine sozio-kulturelle Initiative in Westfrankreich auf. 1989 gründete er mit Götz Deimann, Christoph Lindenberg und Karl-Martin Dietz die Forschungsstelle Kulturimpuls, seit 2001 ist er Mitglied des Vorstands der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und des Hochschulkollegiums der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum in Dornach.

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