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aus: EU.L.E.n-Spiegel 3-4/2006

Die Geschichte der Basenkost

Von Andrea Fock und Udo Pollmer

Es heißt, als erster habe der Holländer Jan Baptista van Helmont (1577-1644) herausgefunden, dass sowohl Magensaft als auch Urin sauer seien. Diese Einsicht führte zur Idee des Säuren-Basen-Gleichgewichtes, erstmals formuliert von Francis de la Boe Sylvius (1614-1672). Er sah die Verdauung als eine Serie von aufeinanderfolgenden Fermentationen an, die wiederum durch eine ausgewogene Produktion von Säuren (damals noch „kleine spitze Nadeln“) und Basen kontrolliert würden. Ein Ungleichgewicht der sauren und basischen Körpersäfte hatte seiner Auffassung nach allerlei Krankheiten zur Folge. Daraus ergab sich für die Ärzte ein logisches Behandlungskonzept: Manche Patienten musste man mit Säure behandeln, die anderen mit Laugen.
Im Laufe der Zeit wuchs natürlich das chemische und physiologische Wissen. Speziell Henry Bence Jones (1813-1878) widmete sich den Veränderungen des Urins in Abhängigkeit von der Nahrung. Er gelangte zur Erkenntnis, dass Sauerstoff im Körper eine Säurebildung verursacht und empfahl deshalb alkalische Mineralwässer. Die scheinbar einfache Idee griffen viele Ernährungsmediziner auf. Davon ausgehend ersann Howard Hay (1866-1940) in Amerika seine Trennkost. Der Japaner Sagen Ishizuka (1851-1910) entwickelte die „Makrobiotik“, nachdem er in der Säure-Basen-Idee das Prinzip von Yin und Yang erkannt haben wollte.

Mayrs Säuretod

In Europa prägte der österreichische Arzt Franz Xaver Mayr (1875-1965) den Spruch „die Säure ist das Zellgift schlechthin“ und setzte dann seine Mayr-Kur dagegen. Richtig populär wurde die Säure-Basen-Theorie aber erst durch den schwedischen Biochemiker Ragnar Berg (1873-1956), der die Rolle der Mineralstoffe im Körper systematisch zu erforschen begann. Er ermittelte den Säure- und Basengehalt der gängigen Lebensmittel, indem er in ihrer Asche den Anteil der Säure- und Basenbildner bestimmte. Nach damaliger Vorstellung waren Kationen Basen und Anionen Säuren. Während im Gemüse die (vermeintlichen) Basen bildner dominierten, fanden sich im Fleisch Phosphate und Sulfate (gebildet aus schwefelhaltigen Aminosäuren und Phospholipiden) im Überschuss, also Anionen, die Säuren wie Phosphorsäure und Schwefelsäure bilden konnten. Resultierte nicht vorwiegend pflanzliche Ernährung in alkalischem Harn und fleischreiche Kost in saurem Harn? Damit war die Verbindung perfekt.
Berg entwickelte seine Theorie aus den damals neuesten Erkenntnissen: Der Körper wandelt bestimmte Mineralstoffe wie Phosphor in Säuren (z. B. Phosphorsäure) um, die nur in Form von Salzen (z. B. Natriumphosphat) mit dem Harn ausgeschieden werden können. Bilden sich bei der Verdauung mehr anorganische Säuren als Basen (z. B. Natrium), baut sich im Organismus allmählich ein Säureüberschuss auf. Und weil die diabetische Ketoazidose zu jener Zeit als tödliche Erkrankung mit völlig unbekannter Ursache galt, war nunmehr bewiesen, dass eine Übersäuerung zum „Säuretod“ führt.
Für Berg war der Zusammenhang zwischen „falscher Ernährung“ und vielen unerklärlichen Krankheiten sonnenklar: Die neu gebildeten Säuren griffen das Körpereiweiß an! Den Beweis dafür sah Berg in der Bildung von giftigem Ammoniak im Stoffwechsel, der sich schließlich mit den Säuren zu Ammoniaksalzen vereinigen und so über den Urin ausgeschieden würde. Angesichts der damals bekannten Toxizität des Ammoniaks lag es auf der Hand, dass dies alles nicht gesund sein konnte. Die Eiweißzerlegung durch angriffslustige Säuren war aus Bergs Sicht als krankhafter Zustand zu beurteilen. Praktisch identisch mit dem Säure-Basen-Modell und damit um nichts „wissenschaftlicher“ ist das heutige Strickmuster von den „Radikalen im Körper“, die statt durch Basenpulver durch Antioxidanzien neutralisiert werden müssen.

Kreuzfidele Nierenmörder

Bergs Theorien fanden schnell Widerhall. Bereits 1931 stieß Bircher-Benner ins gleiche Horn: „Wächst der Säureüberschuss so hoch an, dass die Nahrungsbasen nicht mehr hinreichen, – und die Schwelle wird bei einer eiweissreichen Nahrung bald überschritten, – so gerät der Organismus nach und nach in Säurenot, bis sich schliesslich die Acidose, ein Zustand lebensgefährlicher Säurevergiftung, einstellt. ... Die Überlastung mit Eiweisszerfallprodukten, mit Harnsäure und mit anorganischen Säuren wirkt ganz selbstverständlich auf das ganze System. ... Im ganzen Systeme bereitet sich unter diesen Eiweissfaktoren der Sumpfboden vor, auf welchem unheilvolle chronische Krankheiten zu gedeihen vermögen, Krankheiten wie das Rheuma, die Arteriosklerose, die Gicht, die Zuckerkrankheit, die multiple Sklerose. Andere bekannte und noch unbekannte Faktoren wie Vitaminarmut und Mineralnot gesellen sich hinzu, wirken im gemeinsamen Konzert mit, das da bestrebt ist, in heimtückischer Weise den wundervollen Tempel des Lebens zu zerstören.“
Bei der Deutung seiner analytischen Befunde berief sich Berg auf Alfred W. McCann, einen New Yorker Gesundheitskommissar, der 1927 mit dem Buch Kultursiechtum und Säuretod – Vollernährung als Schicksalsfrage für die weiße Rasse für Aufsehen sorgte: „Wenn der Mensch sich im Übermaß mit Fleisch voll-stopft und gezwungen ist, die Abfallprodukte zu neutralisieren, die durch die Fleischverdauung entstehen, ... dann lebt er von unzulänglicher Nahrung.“ Auch für ihn lag der Grund auf der Hand: „Bei dem Abbau von Fleisch im Körper kommt es also zur Bildung starker Mineralsäuren sowie organischer Säuren ... Um diesen Säuren ihre Giftigkeit zu nehmen, müssen sie im Kör-per neutralisiert werden.“ Gelingt dies nicht, werde der Mensch krank: „Wir wissen, daß die Fleischdiät das Blut ansäuert und daß des Menschen einzige Verteidigungsmöglichkeit gegen die Angriffe von Krankheiten auf der normalen Alkalinität des Blutes beruht.“
Da die Ausscheidung von Säuren über die Nieren erfolgt, titulierte McCann die Fleischesser als „Nierenmörder“: „Mord ist unter Todesstrafe gestellt. Selbstmord gilt Millionen von Menschen als verabscheuungswürdiges, den göttlichen Gesetzen widersprechendes Verbrechen. Aber der Nierenmörder läuft kreuzfidel herum ... Unsere Nieren können nicht reden. Sie müssen einfach stumm bleiben, bis das Maß körperlicher Leiden und Störungen voll ist, und wir uns plötzlich nach irgend einer mysteriösen Krankheitsursache umschauen.“ Mit seinen Mitbürgern, die gerne Steaks aßen, ging er hart ins Gericht: „Nein, solche Leute sind keine Patrioten. Sie helfen uns den Krieg nicht gewinnen (gemeint war noch der 1. Weltkrieg, Anm. d. Red.). Sie sind die ‚Nierowiki’ von Amerika, und wenn das Chaos, über das sie herrschen, nicht durch ihren Unverstand herbeigeführt würde, müßten sie als Vaterlandsverräter erschossen, und ihr Fleisch als Dung für die vaterländische Erde verwendet werden.“

Protonenkiller Kartoffelschale

Bei Berg klangen die Konsequenzen der damaligen Forschungsergebnisse zwar nicht ganz so martialisch, aber nicht weniger eindeutig: „Eine gesunderhaltende Nahrung muss durchschnittlich mehr Verbindungsgewichte unorganischer Basen enthalten, als zur Absättigung der gleichzeitig eingeführten unorganischen Säuren notwendig ist.“ Und als hätte er die 5-am-Tag-Kampagne vorhergesehen, forderte er: „Eiweißstoffe enthalten stets mehr Säurebildner als Basenbildner, wes-halb eine eiweiß- und fettreiche Nahrung zur allgemeinen Übersäuerung führen muss ... Knollen und Gemüse sowie Früchte sind die wichtigsten, ja fast die einzigen Träger von Basen ... auf unserem Speisezettel.“ Da Gemüse beim Abgießen des Kochwassers vielfach seinen Basenüberschuss in Form von Kalium- und Calciumsalzen verliert, ergab sich daraus natürlich die Forderung nach dem Verzehr von Rohkost. Seine heutigen Epigonen hingegen empfehlen gegen eine Übersäuerung den Genuss einer Kartoffelschalensuppe!
Doch schon bald zeigte die biochemische Forschung, dass die Vorstellung von Berg, Bircher-Benner, McCann und anderen, Ammoniak sei eine gefährliche Stoffwechselschlacke, grundfalsch ist. Es handelt sich vielmehr um ein Stoffwechselendprodukt, das grundsätzlich beim Abbau stickstoffhaltiger Substanzen wie Aminosäuren entsteht und als Ammonium der Ausscheidung von sauren Protonen dient. Es entsteht aus jeder Art von Eiweiß, egal ob aus Wurst (angeblich „sauer“) oder Erbsensuppe (angeblich „basisch“). Was einst als „Beweis“ für die Gefährlichkeit von zu viel Fleisch und zu wenig Gemüse in der Nahrung angesehen wurde, ist heute Beleg für den gegenteiligen Tat-bestand: Für die Fähigkeit des Körpers, im „Normalbetrieb“ auch mit Zellgiften zu hantieren – ja, dass er ohne Zufuhr von ammoniakerzeugenden Stoffen, sprich Eiweiß, bald dem Tode geweiht ist.



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