Mikrobiologie und mehr


1) Rötliche Milch – Fakten und Fiktionen

Über Rötekeime, rote Milch, Blutzeichen, Transsubstantiation und Blutwunder

Herbert Seiler

P. Andries schrieb 1893 folgende Zeilen: „In der Milchwirtschaft stößt man auf Milch von allen möglichen Farben, es giebt blaue Milch (...), gelbe Milch, rote Milch, grüne Milch, endlich auch noch violette Milch. Damit ist die Zahl der Regenbogenfarben ziemlich erschöpfend und der Physiker könnte mit Recht sagen, um weisse Milch zu erhalten, brauche man nur all diese verschiedenen Milchsorten zu mischen, da bekanntlich die Regenbogenfarben vereinigt wieder weiss liefern. Es ist klar, dass alle diese farbigen Milcharten gesundheitsschädlich sein müssen, da ihre verschiedenen Farben die Folgen fauliger Zersetzung sind. (...) Giebt es ein solches (Nahrungsmittel), das gleich gefährlich ist, inbezug auf die Erzeugung von Krankheiten, besonders Tuberkulose? Giebt es ein solches, das schon nach wenigen Stunden so schlecht riecht und schmeckt wie die Milch?“

Das sind nicht die Zeilen eines passionierten Biertrinkers oder Ausdruck von dogmatischem Veganismus. Vielmehr ist die Milch für Mikroorganismen ein nahezu ideales Nährmedium und neigt bekanntlich zum schnellen Verderb, insbesondere wenn die Rohmilchkeimzahl hoch und keine effektive Kühlung möglich ist. Die Milch war ein beachtliches Keimreservoir und eine primäre Kontaminationsquelle für viele mit Milch zubereitete Speisen. Rötliche Milch gab es früher sicherlich häufig. Vor allem die Bauern kannten dieses Erscheinungsbild, wenn - wie wir heute wissen - die Milch infolge blutender, Mastitis-entzündeter Milchdrüsen rötlich wurde. Dieses damals unerklärliche Phänomen kam quasi aus heiterem Himmel und gab Anlass zur Mythenbildung. Man glaubte gerne an Hexerei. In einer alten Quelle liest man vom gefürchteten Krötenzauber: Wenn die Bufo rana Menschen beißt, anseicht oder anpustet, entstehen dort schwer heilende Geschwüre. Die Kröten beißen auch oft Kühe, so daß sie dann rote Milch geben. In der Voralberger Sage „Der bestrafte Fürwitz“ wird der heimliche Ungehorsam der Bauernmeiggi (Magd) gegenüber dem Rutschifenggenmännle (Bauern) dadurch offenbar, dass die Kühe rote Milch gaben. Darauf wurde sie noch in derselben Nacht fortgejagt. In einer Dornbircher Sage wollte der Bauer dem Schweizer seine Tochter nicht zur Frau geben, worauf dieser ihn verfluchte. Die Kühe gaben nur noch rote Milch, und eine Schlange dick wie ein Arm und lang wie ein Schaufelstiel mit der Stimme des toten Großvaters erschien. Eine andere Legende erzählt von einer Kuh in Unterdorf, die nur rote Milch gab. Der Bauer schlug mit einer Haselrute kräftig in den Rahm der roten Milch. Am nächsten Tag war die Milch wieder rein weiß, aber die Nachbarin hatte grüne und blaue Augendeckel. Andernorts heißt es „(die Hexen) machen schwanzlose Mäuse; sie verwandeln sich gerne in dreibeinige Hasen und zaubern rote Milch.“ Peter Rosegger erzählt „In der Christnacht“ von der Hexe Mooswaberl: “(...) wollte Moos verkaufen, und da sie keine Geschäfte machte, weinte sie und verfluchte das Leben. Kinder, die sie ansah, fürchteten sich entsetzlich vor ihr, und viele wurden gar krank; Kühe tat sie an, daß sie rote Milch gaben.“


Das Mastitis-bedingte Phänomen ist trotz mikrobieller Aspekte grundsätzlich verschieden zur nachträglichen Verfärbung der Milch und soll hier nicht erörtert werden. Vielmehr wollen wir die Pigmentbildung aufgrund von mikrobiellen Kontaminationen der gemolkenen Milch kurz beleuchten. In Frage kommen Mikroorganismen mit roter Eigenpigmentierung oder mit Produktion rötlicher Stoffwechselprodukte. Der früher für dieses Schadensbild als Bacterium erythrogenum gehandelte Keim wurde später in Brevibacterium linens umbenannt. B. linens bildet lediglich orange Kolonien; das carotinoide Pigment wird nur mit konzentrierter Lauge rot. Eine rötliche Verfärbung von Milch durch diesen Lactose-negativen Keim ist höchst unwahrscheinlich. B. linens ist auch nicht pathogen. Demnach ging wohl das ursprüngliche Isolat verloren. Rote Mikroorganismen gibt es allerdings reichlich.

Bei den Schimmelpilzen sind in erster Linie die diversen Penicillium-Arten zu nennen, z.B. P. aurantiacum, P. brunneo-violaceum, P. brunneo-rubrum, P. diversum var. aurum, P. erythromellis, P. purpurogenum, P. rubrum und P. thomii. Weitere häufige Schimmelpilze mit rotem Koloniepigment sind z.B. Aspergillus japonicus, Chrysonilia sitophila (roter Brotschimmel), Fusarium spp., Gloeophyllum separium, Monascus purpureus und Scopulariopsis brevicaulis. Etliche Arten scheiden rote, lösliche Pigmente aus (z.B. P. adametzioides, P. atro-sanguineum, P. aurantiogriseum, P. corylophilum, P. phoeniceum, P. purpurogenum, P. rubrum, P. vinaceum, P. viridi-cyctopium), andere sind nur von der Kolonieunterseite betrachtet rot (z.B. Chaetomium globosum, Emericella nidulans, Epicoccum purpurascens, P. marneffei). Die Pigmentausprägung ist stark von den Kultivierungsbedingungen abhängig.


Die fermentative Hefenart Metschnikowia pulcherrima produziert das wasserlösliche, rote Chromophor Pulcherrimicin. Viele nicht fermentative Hefenspecies haben eine nicht diffusible, rote bis pinkfarbene Eigenpigmentierung. Dies sind vor allem die Rhodotorula-Arten R. glutinis, R. graminis, R. minuta und R. mucilaginosa. Sie kommen auf jedem Melkgeschirr und überall im Luftstaub vor. Aufgrund der ausgeprägten Schleimhülle sind sie gut gegen Austrocknen geschützt; das Pigment schirmt zudem die UV-Strahlung ab. Weiter sind von den etwa 25 Hefen-Taxa mit teils roter Koloniepigmentierung die Gattungen Bullera, Cryptococcus, Rhodosporidium, Sporidiobolus und Sporobolomyces in Lebensmitteln nachweisbar.


Abb. 1:
Rhodotorula glutinis und R. minuta auf YGC-Agar



Es gibt zahlreiche Bakteriengattungen mit rötlich, orange-rot, rot oder pink pigmentierten Arten. Wir wollen die häufig vorkommenden Gattungen hier auflisten: Acetobacter, Acidiphilium, Actinomyces, Agrobacterium, Alteromonas, Aureobacterium, Bradyrhizobium, Brevibacterium, Clostridium, Cytophaga, Erwinia, Erythrobacter, Exiguobacterium, Flavobacterium, Flexibacter, Gordona, Malonomonas, Marinobacter, Methylobacterium, Methylomonas, Micrococcus, Microscilla, Mycobacterium, Nocardia, Propionibacterium, Pseudoalteromonas, Pseudomonas, Rhodococcus, Rhodopseudomonas, Roseobacter, Rugamonas, Sarcina, Serratia, Sphingomonas, Streptomyces (Actinorhodin), Thermomicrobium, Thermus, Vibrio und Xanthomonas. Doch welche Arten könnten die Milch rot verfärben? Unseres Wissens hat dies noch niemand unter Berücksichtigung der aktuellen Taxonomie systematisch untersucht und wäre somit eine reizvolle Aufgabe. Anders als bei Schimmelpilzen und Hefen ist uns kein Bacterium mit wasserlöslichen, roten Chromophoren bekannt, vielmehr liegt immer eine bloße Koloniepigmentierung vor. Wasserlösliche rotbraune Pigmente sind dagegen bei Bakterien nicht selten.


Abb. 2: Serratia marcescens–Stämme auf PC-Agar



Abb. 3: Kocuria (Micrococcus) rosea–Stämme auf PC-Agar


Rote Milch wurde unserem mikrobiologischen Labor im Gegensatz zu blau verfärbter Milch (Deutsche Molkereizeitung, dmz 12/2006, S.25-27) nie als zu beurteilendes Schadensbild vorgelegt. Somit kennen wir keinen Praxisfall. Wir versuchten jedoch, mit einigen ausgewählten Keimen im Labor die Rotverfärbung von Milch nachzuvollziehen. Durch rote Serratia marcescens-Stämme wurde Milch an der Oberfläche schnell und durch Kocuria rosea langsam rot. Einflüsse der Kultivierungsbedingungen waren gegeben. Bei 25 - 30 °C waren Säuerung, Koagulation oder Proteolyse stärker als die Pigmentbildung, bei 10 - 15 °C war das Wachstum insgesamt schwach. Die deutlichste Verfärbung der Milch erzielte man bei Raumtemperatur. Einige Stämme von S. marcescens wuchsen auch bei 10 °C recht gut und färbten die Milch rosa. Keine Reaktion zeigten Rhodotorula spp., Rhodococcus erythropolis, Methylobacterium sp., Brevibacterium linens und Exiguobacterium acetylicum.


Abb. 4: Rötliche UHT-Milch durch
Kocuria rosea (ganz links) und Serratia-Stämme



Abb. 5: Rotbrauner Joghurt durch
Acetobacter sp. G2593


Bekanntlich wurde von den Biologen die durch das Chromophor Prodigiosin blutrot pigmentierte Serratia marcescens für das Blutzeichen verantwortlich gemacht. Als solches wurde das unvermittelt auftretende und sich schnell ausbreitende „Blutigwerden“ der mit Brot, Kuchen, Kartoffeln, Bohnen, Polenta, Fleisch, Milch, Quark oder Käse zubereiteten Speisen bezeichnet. Dies geschah meist in Notzeiten, wo man überlagerte Lebensmittel ungern verfütterte oder verwarf. Das verängstigte, abergläubische Volk reagierte in dieser Lage besonders sensibel auf Hiobsbotschaften und wertete das Phänomen als Vorbote von erneuter Not, von Elend, Krankheit, Seuchen, Krieg und Tod. Die rot pigmentierten Arten S. marcescens und S. rubidaea werden heute der Risikogruppe 2 („können Krankheiten verursachen“) zugeordnet. Der Umgang mit diesen rotfleckigen Speisen war sicherlich für einige durch Mangelernährung konstitutionsinstabile Personen krankheitsauslösend, was den Irrglauben zusätzlich forcierte. Das Blutzeichen wurde vereinzelt den greisen Frauen angelastet und führte zu Hexenverbrennungen (www.collasius.org/WINKLE/04-HTML/blutwunder.htm). Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde das Phänomen von dem Italiener Bizio richtig gedeutet. Ehrenberg nannte den Keim Monas prodigiosa (lat., prodigium = Wunderzeichen, prodigiosus = voller Wundergestalten); wegen der zeitlichen Priorität ist heute der Name Serratia marcescens gültig (benannt nach dem Physiker Serrati und lat. marcescens = weich, zerfließend). Die mikrobiologische Deutung für die Blutzeichen konnten wir experimentell durchaus bestätigen. S. marcescens ist Lactose-negativ, während die anderen Serratia-Arten großenteils Lactose vergären. Demnach könnte in Milch auch die Lactose-positive S. rubidaea für die Rötung ursächlich gewesen sein. Allerdings bleibt die Rötung aus, wenn die Milch zu schnell säuert und koaguliert. Grundsätzlich handelte es sich wohl immer um ein komplexes Wirkgefüge von verschiedensten Keimarten. Bei einer gründlichen experimentellen Simulation sollte man nicht nur der Sterilmilch, sondern auch unsteril gemolkener Rohmilch Einstammkulturen zusetzen bzw. definierte Mischungen von nicht rötenden und rötenden Mikroorganismen in Sterilmilch geben.


Abb. 6: Rote Schmiere auf folienverschweißter Kochsalami durch
Serratia rubidaea G2656


Die Fiktion von der Transsubstantiation, der geheimnisvollen substanziellen Wesensverwandlung von Brot und Wein in göttliches Fleisch und Blut wurzelt wohl ebenfalls in den Blutzeichen. Bereits in den vorchristlichen Kulturen wurden Speis und Trank von Priestern gesegnet und in einem religiösen Ritual verzehrt. Man postulierte eine mystische körperliche Vereinigung mit der Gottheit des Weines (Bacchus), des Wassers (Sebak), des Maises (Cinteotl), des Reises (Inari), des Honigs (Zosim), der Feldfrüchte (Freya, Demeter) oder auch der Arzneien (Aesculapius). Die heutige Osterweihe von Eiern, Brot, Käse oder Schinken geht auf solche Traditionen zurück. Die Hindus tragen Lebensmittel als Opfergaben in den Tempel zum dortigen Verbleib. Manche Gläubige scheuten sicherlich einen sofortigen Verzehr der geweihten Speisen und legten diese auf den Hausaltar. Hier erschien dann gelegentlich ein „Blutstropfen“ auf dem Lebensmittel, also eine Kolonie von S. marcescens oder anderen Rötekeimen. Im Tempel kam es wohl auch durch Fliegen und andere Insekten zu Kreuzkontaminationen zwischen den damals wenig hygienisch zubereiteten Speisen, so dass das Phänomen schnell um sich griff. In Ermangelung einer rationalen Erklärung wurde dieses Mysterium als Auswirkung der Segnung und nicht als mikrobieller Verderb durch Überlagerung interpretiert: Nur im Gotteshaus geweihter Topfen etc. zeigte „Blutstropfen“, das konnte nur göttliches Blut sein. Demnach waren durch die Weihe die Götter in der Speise real („wahrhaft, wirklich und wesentlich“) präsent. Die Christen sahen hierin eine Analogie zur blutigen Kreuzigung des „menschgewordenen Gottessohns“ und etablierten die „Wandlung“ als „Sakrament der heiligsten Eucharistie“. Die Transsubstantiation wurde im Jahr 1215 als Dogma auf dem 4. Lateralkonzil formuliert und 1564 durch das Konzil von Trient bekräftigt. Der gemeinsame symbolische Verzehr von Brot und Wein durfte fortan nicht mehr als rein rituelle Erinnerungshandlung für das „letzte Abendmahl“ gesehen werden.

Auch das Blutwunder wird von den Biologen einer Kontamination mit
Serratia zugeschrieben. An Ostern wurde der Tabernakel, der Aufbewahrungsort der „Elemente der allerheiligsten Eucharistie“ geöffnet. Die Wärme vieler Kerzen, verflüchtigtes Bienenwachs, Ruß, Schmutzpartikel, Pollen und feuchtwarme Frühlingsluft ließen auf der geweihten Hostie die blutrote Serratia wachsen, was als Blut Christi interpretiert wurde. Ob das wahr ist oder nur eine schöne Geschichte ist schwer zu beurteilen. Wir kennen keine Beweise für diese These; erhebliche Zweifel sind angebracht. Es ist kaum vorstellbar, dass Serratia allein von der Stärke sowie etwas Protein und Cellulose einer trockenen Scheibe ungesäuerten Weizenmehls (weiße Hostie) oder Roggenmehls (Brothostie) so gut wächst, dass blutstropfenähnliche, rote Flecken sichtbar werden oder gar Schleim abtropft. Enterobakterien brauchen > 0,96 Wasseraktivität, also in etwa die Feuchte von Leberwurst, während Brot bekanntlich nur durch Schimmelpilze mikrobiell verdirbt. Da müsste also schon jemand gelegentlich z.B. mit Eisenocker, Tomatenmark, Cochenille, Purpur, Pflanzenfarbe oder gar mit Tierblut nachgeholfen und ein Mirakel inszeniert haben. Bedeuteten doch die Blutwallfahrten im 13. Jahrhundert und später nach Sternberg, Wilsnack, Röttingen, Passau, Deggendorf, Brüssel, Paris, Neapel, Orvieto oder Bolsena mit dem dort praktizierten Ablasshandel sprudelnde Geldquellen für Kommunen und Klerus. Die Katholiken konnten imposante und prunkvoll ausgestattete Kathedralen finanzieren. Vielleicht gab es früher auch feuchte, zuckerhaltige Hefekuchen-Hostien, ähnlich den Stücken gesäuerten Weißbrots bei der Ostkirche; da wäre eine sichtbare bakterielle Verkeimung schon eher vorstellbar. Oder es tropfte bei undichtem Kirchendach Regenwasser auf die Monstranz bzw. die Hostie wurde bei der Karfreitagsprozession trotz Verhüllung und Baldachin durch Regen nass. Dieser Aberglaube wurde vielen unschuldigen Menschen zum Verhängnis. Das Blutwunder missbrauchten die wundergläubigen Christen zur blutigen Judenverfolgung. Einfältige Christen sollten analog zum Verrat des Apostels Judas Ischariot die geweihte Hostie gestohlen und für einige Silberlinge an Juden verkauft haben. Die jüdische Bevölkerung wurde beschuldigt, wie bei der Kreuzigung Christi während der „Hostienschändung“ diese Hostie nächtens so lange mit Nadeln und Messern traktiert zu haben, bis Jesu Blut austrat. Vermeintlicher Diebstahl, Verrat und Ritualmord wurden durch die geistig gefangenen, infantil Klerus-hörigen und somit leicht religiös fanatisierbaren Massen mit Fememord gerächt. Andernorts wurden die Juden enteignet und zwangsdeportiert. Die Machthaber als Profiteure wähnten sich bei den jüdischen Geldverleihern als entschuldet und konfiszierten obendrein deren Besitztümer.

Somit zieht sich ein „roter Faden“ von rötlich verfärbter Milch und anderen rotfleckigen Lebensmitteln zu Blutzeichen, Hexenverbrennung und christlichem Sakrament bis hin zu den Blutwundern und den dadurch initiierten mittelalterlichen Pogromen und lokalen Kapitalkonzentrationen. Die Rötemikroorganismen hinterließen tiefe Spuren in der abendländischen Kulturgeschichte und veränderten das Gesicht der Welt.

Literatur

Williamson N. R. et al. (2006): The biosynthesis and regulation of bacterial prodiginines. Nature Reviews , Microbiology 4, S. 887-899


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