Mikrobiologie und mehr

(Folgender Artikel erschien in der Deutschen Molkereizeitung: dmz 12/2006 S. 25-27)

2) Blaue Milch – gibt es die wirklich?

Blaue Milch durch eine Biovariante von Pseudomonas fluorescens

Herbert Seiler

Eine Scherzfrage von Kindern lautet: „Warum ist die Milch weiß, wo doch die Kuh grünes Gras frisst“? Antwort: „Stimmt gar nicht. Weiße Kühe geben weiße Milch, schwarze Kühe geben den Kaffee, braune Kühe geben den Kakao und gescheckte Kühe die Bananenmilch“. Und was ist mit der „Lila Kuh“, gibt die auch Milch? Eigenartig, soviel „Lila Kuh“ und lila Milch hat fast noch niemand gesehen. Aber, man glaube mir, es gibt sie wirklich, wenngleich auch sehr, sehr selten. Und warum ist diese Milch lila oder blau? Hat die Kuh im Übermaß Blaubeeren gefressen, und wäre dann die blaue Milch von den Blaubeeren so blau geworden? Spaß beiseite – lasst uns das Rätsel lösen!

Schon W. Henneberg schrieb in seinem Leitfaden „Bakteriologie für den Molkereipraktiker, 1929“ folgenden Satz: „Eine gelbe, blaue oder rote Verfärbung der Milch, die auf verschiedene Bakterienarten zurückzuführen ist, wird heutzutage nur noch selten beobachtet, da die Milchverarbeitung seit der Zentrifugenverwendung viel schneller vor sich geht und die Sauberkeit in den Molkereien im allgemeinen besser geworden ist“. Demnach dürfte - es wäre so schön - die Hygiene, gemessen an der Häufigkeit des Auftretens von blauer Milch, im neuen Millennium kein Thema mehr sein. Tatsächlich ist heutzutage diese Verfärbung der Milch nahezu rein historischer Natur oder Bestandteil neuerer Scherzliteratur (siehe Kishons „Blaumilchkanal“). Blicken wir noch weiter zurück: Im „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 1932“ finden wir eine Notiz zur Zauberkraft des Sonnentaus Drosera rotundiflora: „Auf abergläubische Anschauungen geht es wohl auch zurück, wenn man in Schlesien die von Kuhpilzen blau gewordene Milch des Rindviehs dadurch reinigte, dass man sie durch ein mit Sonnentau angefülltes Sieb laufen ließ (Milchzauber)“ (Zitat aus einem Buch von 1776). Im deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm lesen wir die Zitate: „der küster (...) verkauft ein mittel wider die blaue milch, und will die bösen geister vertreiben können (...)“ (Möser), und „nichts gessen, dann ein heidelprei – und dazu auch eine blawe milch“ (H. Sachs). Offenbar hatte dieser Milchfehler früher keinen Seltenheitswert.

Was ist nun richtig, Bakterienarten, Kuhpilze oder böse Geister? Zauber ist es sicherlich nicht. Richtig ist die Benennung von Mikroorganismen als Ursache, wobei abgesehen davon, dass früher die Bezeichnungen „Pilze“ bzw. „Bazillen“ Synonyme für den heutigen Begriff „Keime“ waren, sowohl Schimmelpilze als auch Bakterien für dieses Erscheinungsbild verantwortlich sein können. Den Blau-Grün-Schimmelpilz Penicillium roqueforti als typischen Vertreter für eine Blaufärbung in Lebensmitteln kennen wir alle vom Blauschimmelkäse. Warum sollte der nicht auch Milch blau färben können. Allerdings wäre diese Färbung auf das Myzel beschränkt und somit keine wirkliche Verfärbung der Milch. Die Milch würde peptonisieren und wäre mit einer blaugrünen Schimmelpilzhaut bedeckt. Morphologisch sehr ähnliche Arten wie P. commune, P. expansum, P. glaucum, P. italicum oder P. verrucosum können zudem bei Kühlschranktemperaturen recht gut wachsen. Blaue Hefen gibt es nicht.


Abb. 1: Pseudomonas fluorescens Biovar IV Stamm G2654 in UHT-Milch (10, 5 und 3 Tage Bebrütung bei 30 °C) und auf PC-Agar


Blau pigmentierte, wasserlösliche Farbstoffe werden dagegen von Bakterien produziert. Sehr bekannt sind solche Pseudomonaden, die vor allem unter Eisenmangel die löslichen blauen und grün bis blaugrün fluoreszierenden Eisenkomplexbildner Pyoverdine (Fe(III)-Siderophore) Pyocyanin, Pyoverdin (Fluorescein), Pyochelin, Pyomelin, Ferrioxamin E usw. synthetisieren. Dies sind vor allem die Arten Pseudomonas aeruginosa, P. beteli, P. chlororaphis (Chlororaphin), P. cichorii, P. fluorescens, P. putida, P. syringae und P. viridiflava. Einzig P. aeruginosa (aerugo, lat. = Grünspan) bildet gleichzeitig Pyocyanin, Pyochelin, Pyorubin, Pyomelanin und Pyoverdin. Die Art P. cepacia erzeugt diffusible, nicht fluoreszierende Chromophore (Pyomelanin, Pyorubin etc. = grün, braun, rot, purpurfarben, violett). P. fluorescens Biovar IV und P. viridiflava produzieren auch ein nicht lösliches, nicht fluoreszierendes, blaues Pigment. Weiter zu nennen sind die gramnegativen Gattungen Alteromonas (mit Violacein bei A. luteoviolacea und A. denitrificans), Azomonas (A. agilis), Chromohalobacter (C. marismortui), Jodobacter und Janthinobacterium (früher Chromobacterium fluviatile bzw. C. lividum) sowie Chromobacterium (C. violaceum). Sie zeigen meist schleimig-glasige, beige bis blau pigmentierte Kolonien. Alle diese chemoorganotrophen Arten werden als psychrotolerant eingestuft und sind somit in kalt gelagerter Milch mehr oder weniger gut vermehrungsfähig. P. fluorescens und P. chlororaphis wachsen noch bei 4 °C. Als lebensmittelrelevante, grampositive Bakterienarten sind blau pigmentierte Micrococcus spp. („M. caeruleus“ etc.) und Brevibacterium iodinum (Iodinin) erwähnenswert.


Abb. 2: Pseudomonas aeruginosa G179 und P. beteli G2149 in UHT-Milch und P. aeruginosa auf PC-Agar


Betrachten wir einen Praxisfall. Wir erhielten von einer Molkerei eine in Bechern abgefüllte Trinkmilch mit Blauverfärbung zur mikrobiologischen Untersuchung. Die Milch war nicht gestöckelt oder ausgeflockt, also im pH-Wert wenig verändert, obwohl sie zur Gänze blau war. Diese Verfärbbarkeit ließ sich durch Überimpfen auf frische Milch übertragen. Sterile Milch wurde, je nach Impfmenge, in ein bis wenigen Tagen blau. Die Verfärbung begann an der Oberfläche und wanderte langsam nach untern; bei geschüttelter Milch wurde der gesamte Röhrcheninhalt schnell blau. Nach längerer Standzeit war eine beginnende Peptonisierung feststellbar. Im mikroskopischen Bild wurden kurze, schlanke, bewegliche Stäbchen gesehen. Die Identifizierung mit 16S-rDNA-Sequenzierung ergab Pseudomonas sp. (98,8% Homologie bei 880 Basen), später gefolgt von P. fluorescens (98,2%). In Frage kommt somit ein P. fluorescens des Biovars IV oder eine noch nicht beschriebene sehr ähnliche Variante. P. fluorescens ist hygienisch unbedenklich, ein Verderb von Molkereiprodukten ist dagegen nicht selten. Natürliche Standorte sind Brauchwasser, Oberflächenwasser, schlechtes Trinkwasser, Rohmilch, krankes Kuheuter, unzureichend gereinigte Oberflächen im Produktionsumfeld, Staub oder Erde. Die Kontamination erfolgte im konkreten Fall vermutlich über ein defektes Ventil. Eine ordnungsgemäße Pasteurisierung können Vertreter der Pseudomonaden nicht überleben.


Abb. 3: „Micrococcus caeruleus“ G4012 in UHT-Milch neben Negativkontrolle und auf CASO-Agar


Die experimentelle Stimulation dieses Erscheinungsbilds mit Janthinobacterium lividum G3909 erfolgte nur äußerst langsam und schwach. Der Stamm „Micrococcus caeruleus“ G4012 färbte die Milchoberfläche mäßig schnell blau. Dagegen verfärbten Pseudomonas aeruginosa G179 und P. beteli G2149 die Milch sehr schnell; allerdings wurde keine blaue Farbe entwickelt, vielmehr war die Milch grün, unter UV-Licht fluoreszierend und stark peptonisiert. Somit wird verständlich, dass dieser Effekt selten in Erscheinung tritt. Viele Bakterien mit blauen Chromophoren können dieses Phänomen nicht auslösen. Für eine schnelle, kräftige Blauverfärbung benötigt es offenbar diese spezielle Biovariante von P. fluorescens, die wohl nur selten vorkommt. Vermutlich war deren Populationsdichte unter früheren Milchgewinnungs-, Lagerungs- und Verarbeitungsbedingungen viel größer als dies heute der Fall ist.


Abb. 4: Janthinobacterium lividum G3909 in UHT-Milch und auf CASO-Agar


Wir können dieser Blaumilch einen gewissen ästhetischen Reiz nicht absprechen. Ist die Farbe blau doch eine Allegorie für die göttliche Reinheit, die Weite des Himmels, die Tiefe des Meeres, die Mystik des Eises und die Verführungskraft von Brillanten; blau steht für Könige und Adel, für Männlichkeit, Kraft, Treue, Romantik, Sehnsucht, Trunkenheit und Hoffnung. Die Literatur kennt auch das Wort „milchblau“: „ein Ring von milchblauen Perlen“ (Jean Paul) oder „ein milchbläulicher Edelstein“ (Campe). Hier könnte dieser Begriff lediglich die Farbe der „entrahmten Milch“ oder „Milchtropfen in Wasser“ bezeichnen, da verdünnte Milch bevorzugt das blaue Licht streut. Dass heutzutage eine deutsche Popgruppe sich „Blue Milk“ nennt, dass es in Frankreich ein Parfüm „L´Heure Bleue Lait“ gibt, dass ein italienischer Poet Gott blaue Milch trinken lässt (Cappi Alberto: “(...) ove bevve il Dio l´azzurro latte della notte (...)“) oder ein Spanier die „blaue nahrhafte Milch“ allegorisiert (Antonin Artraud: „(...) el cielo afluye las narices como azul leche nutricia (...)“), erklärt sich wohl ebenfalls aus dieser Symbolkraft. Ungeachtet dessen, wollen wir alle sicherlich keine Milch mit unnatürlichen Farbstoffen, sondern eine reinweiße Milch, akzeptieren aber gerne das blaue Dekor mancher Verpackungen.


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