Mikrobiologie und mehr

(Folgender Artikel erschien in ähnlicher Form in der Deutschen Molkereizeitung: dmz 3/2004 S. 31 – 35)



Abbildung: Arbeitsplatz Mikrobiologie - Leuchttisch


8) Beurteilung von Keimen bei der Schadensfallanalyse

Wie man aus einer großen Zahl von Proben eine sinnvolle Auswahl trifft, diese Muster möglichst effizient untersucht und mit großem Gespür auswertet.

Herbert Seiler

In unserer Arbeitsgruppe werden Analysenaufträge bearbeitet und Identifizierungen durchgeführt. Zudem werden wir bei Schadensfällen als Gutachter gerufen. Unsere Leistungskapazität ist personell und technisch begrenzt. Somit sind wir gefordert, aus einer oft großen Zahl von Proben eine sinnvolle Auswahl zu treffen und diese Muster möglichst effizient anzusetzen. Diese Vorgabe erlaubt kein Arbeiten nach Standardkonzepten. Vielmehr müssen die Methoden und Arbeitsabläufe den spezifischen Gegebenheiten angepasst werden. Wir können und wollen auch bewachsene Agarplatten nicht mit einem mikrobiologischen Generalverdacht analysieren. Dies brächte Nachteile hinsichtlich des Arbeitsaufwands, der Analysendauer und der Kosten mit sich. Demnach kommen keine zertifizierten Schemata zum Einsatz.


Beschreibung der Problematik

Ein Auftrag bzgl. eines Schadensfalls sollte immer mit einer möglichst genauen Beschreibung der Problematik durch den Auftraggeber einhergehen. Leider ist das nicht immer gegeben - häufig heißt es im Anschreiben lapidar „Untersuchung auf Bakterien, Hefen und Schimmelpilze“. Handelt es sich um eine unspezifische Untersuchung, sollte die Fragestellung detailliert erklärt werden. Explizite Angaben vereinfachen die Untersuchung erheblich.

Bei Erhalt eines schadhaften Endprodukts stellt sich die Frage nach dem Produkttyp. Damit wird die Varianz der für eine Störung in Frage kommenden Taxa limitiert. In einem Sauermilchprodukt sind das vor allem Hefen und Schimmelpilze, in einem Neutralprodukt überwiegend Bazillen, Pseudomonaden und Enterobakterien. Naheliegend ist auch die Frage nach dem Schadenstyp: Gab es Bombagen oder Produktverfärbung? Im ersten Fall wird man bei sauren Produkten primär an fermentative Hefen, gaspositive Schimmelpilze, heterofermentative Milchsäurebakterien und überoxidierende Essigsäurebakterien denken. Für Produktverfärbungen sind häufig Essigsäurebakterien verantwortlich. Auch die Frage, ob es sich vielleicht um einen Serienschaden handelt und welche Kenntnisse diesbezüglich vorliegen, ist wichtig.

Die Tiefe der Laboransätze soll am unteren Limit liegen. Bei einem Endproduktschaden ist die Keimdichte nur eine Frage der Historie des Produkts: Wie alt ist es? Wie war die Lagertemperatur? Wurde das Produkt beim Transport geschüttelt? Meist reicht eine approximative Keimzahlbestimmung. Das Weglassen von Verdünnungsreihen erspart viel Material und Arbeit. Natürlich muss klar sein, dass bei einem bereits bombierten Produkt eine Keimzahl von ca. 1.000/g Hefen diese nicht die Bombageverursacher sein können, es sei denn sie wären bereits großenteils wieder abgestorben, was aber ohne zusätzliche Thermisierung eher unwahrscheinlich ist.

Eine vollständige Populationsanalyse kann qualitativ oder quantitativ sein. Bei ersterer wäre die prozentuale Verteilung zu bestimmen (etwa ~99% Saccharomyces cerevisiae und ~1% Issatchenkia occidentalis), bei letzterer wären für jedes Taxon absolute Zahlenwerte gewünscht. Die qualitative Frage lässt sich recht gut mit Verdünnung über einen 3-Platten-Ausstrich angehen, die Frage nach absoluten Zahlenangaben setzt eine komplette Verdünnungsreiche nach DIN/ISO voraus. Das ist ein erheblicher Unterschied hinsichtlich des Arbeitsaufwands.

Bei unseren Analysen ist die jeweils anzusetzende Probenmenge nicht standardisiert. Zeigt das Produkt deutliche Auffälligkeiten, wie z.B. Bombage, wird nur eine Öse voll oder weniger auf die Agarmedien überführt. Ist die Probe völlig unauffällig, wird mehr Material auf die Platten oder in die Bouillonröhrchen gegeben. Es ist sinnvoll, ein unauffälliges Endprodukt zunächst ungeöffnet zu bebrüten. Dies vermeidet das Risiko, dass beim Öffnen im Untersuchungslabor die Probe kontaminiert wird und man später die Laborkontamination als Schadkeim identifiziert. Bei manchen Produkttypen muss evtl. 100 g oder mehr angesetzt bzw. angereichert werden. Grundsätzlich werden unauffällige Proben vor auffälligen bearbeitet; dies reduziert das Risiko von Kreuzkontaminationen.


Medienwahl und Kultivierungsbedingungen

Weiter ist die Frage der Medienwahl zu klären. Sucht man Milchsäurebakterien, wäre natürlich ein Ansatz auf YGC-Agar überflüssig. Damit einher geht die Frage nach den Kultivierungsbedingungen. Handelt es sich bei den Schadkeimen vermutlich um Milchsäurebakterien, wäre die aerobe Bebrütung nicht das Mittel der Wahl. Ebenso könnte einerseits die Bebrütungstemperatur 25 °C und andererseits 37 °C besser zum Ziel führen. Will man gasbildende Milchsäurebakterien nachweisen, wird man gleich zu Analysenbeginn neben den Agarplatten auch Flüssigmedien mit Durhamröhrchen beimpfen. Orientierungshilfen sind die gängigen Methodenhandbücher. Als Entscheidungshilfe für die Wahl geeigneter Methoden dient jeweils die mentale Interpolation von Schadensfallbeschreibung des Auftraggebers, Kenntnis der Problematik mit der vorliegenden Produktgruppe und Beurteilung des konkreten Schadensbildes. Im Zweifel werden die Proben mikroskopiert; häufig sieht man im Präparat, ob es sich um ein Problem mit z.B. Bazillen, Hefen oder Streptokokken handelt. Das Mikroskopieren kann viel Arbeitsaufwand ersparen helfen.


Mikroskope

Der Markt bietet heute digitale Mikroskope, die alle Raffinessen dieser Technik beinhalten. Im milchwirtschaftlichen Labor wird bestenfalls ein Mikroskop mit Hellfeld, Phasenkontrast und Interferenzkontrast stehen. Das Gerät ist im optimalen Zustand zu halten. Meist findet sich jemand, der eine noch so verborgene Schraube entdeckt und unbekümmert daran bis zum Anschlag dreht. Die Mikroskophersteller bieten Kurse an, bei denen man gegebenenfalls früheres Wissen auffrischen kann. Auf Folgendes ist besonders zu achten:

  • Objekttisch, Objektiv-, Okular- und Kondensorlinsen gründlich reinigen (kein verharztes, staubverkrustetes Öl auf der Linse).
  • Lichteintrag am Trafo optimieren, Lampe und Lichtkegel zentrieren.
  • Aperturblende, Kondensorblende optimieren und köhlern.
  • Phasenkontrastringe mit dem Hilfsmikroskop zentrieren.
  • Überschneidung der Einstellungen für Hellfeld, Phasenkontrast, Interferenzkontrast, Dunkelfeld etc. vermeiden.

Abb. 1. Möglichkeiten der Verknüpfung von Mikroskop und peripheren Geräten.


Die Herstellung mikroskopischer Präparate ist einfach, dennoch sind Fehler möglich. Färbepräparate wird ein Student oder Laborant nur noch in der Ausbildung kennen lernen, damit er die Bedeutung von gramnegativ und grampositiv versteht. Einige Punkte sind bei der Präparatefertigung zu beachten:

  • Das Deckglas soll nicht davonschwimmen und bei zu wenig Wasser trocknet das Präparat schnell ein.
  • Ausreichend viel Zellmaterial aber keine Zellklumpen vorlegen.
  • Nicht nur alte Zellen vom Koloniekern oder nur junge Zellen vom Kolonierand überführen.
  • Schimmelpilze mit Tesafilm abnehmen und evtl. den Kontrast mit Methylenblau verstärken.
  • Schmutz und Keimeintrag über Objektträger, Deckglas und Wassertröpfchen vermeiden.

Das Wachstumssubstrat ist nicht unerheblich, da die Kultivierungsbedingung das Erscheinungsbild der Zellen prägt. Alte und suboptimal kultivierte Bakterien sind untypisch, z.B. unbeweglich, leicht irregulär oder aufgrund von Zellwandschäden gar zu Kugeln aufgeschwollen. Bei Bazillen liegen nur noch Endosporen, bei Pilzen nur Konidiosporen vor. Demnach sollte man bei Bakterien in der Regel junge Kulturen von nicht-selektiven Medien für die Mikroskopierung abnehmen. Eine Ausnahme sind Bazillen, wo einerseits die Beweglichkeit nur bei jungen und andererseits Lage und Form der Endosporen nur bei älteren Zellen sichtbar sind. Bei Pilzen sind die Fruchtkörper nur in älteren Kulturen ausgebildet; hier muss eine Agarstückchen ausgeschnitten und unter dem Deckglas zerquetscht oder über der Flamme geschmolzen werden.

Das mikroskopische Bild kann auch falsch interpretiert werden. Häufige ist eine eventuelle Beweglichkeit nicht gut zu erkennen oder ein Drift wird als Eigenbewegung der Keime gewertet. Stärkekörner und Fetttröpfchen können mit Hefenzellen oder Ascosporen, Schimmelpilzkonidien mit Hefen verwechselt werden. Senkrecht stehende Stäbchen, Überlagerungen oder Loops werden als Endosporen angesehen.

Auf Agarplatten werden bei Verwendung eines Stereomikroskops bereits nach 12 h Bebrütung die Mikrokolonien sichtbar. Ein schwarzer Untergrund oder ein Leuchttisch kann alternativ vorteilhaft sein. Bei der Anschaffung eines Stereomikroskops ist auf die Möglichkeit unterschiedlicher Beleuchtungen zu achten. Sehr kleine Kolonien und Pilzmyzelchen lassen sich am besten mit indirektem Seitenlicht visualisieren; auch Unterschiede in Koloniedichte und -struktur werden hiermit gut erfasst. Es wird dann frühzeitig realisiert, ob die Probe positiv bzw. die Kultur homogen oder heterogen ist. Für das Auszählen von Kolonien bietet der Markt gute Koloniecounter, die zusammengewachsene Kolonien separat zählen und kleine und große Kolonien gleichermaßen erfassen.

Will man von identischen kolonie- und zellmorphologischen Einheiten nur repräsentative Vertreter abnehmen, reinigen und identifizieren, sind die Kolonien auf Gleichheit zu beurteilen. Diese Elektion verschiedener Formen erfordert eine sorgfältige Beurteilung der Kolonien. Dazu dürfen diese nicht zu jung sein, und u. U. müssen Salz, Licht und Sauerstoff das Wachstum stimuliert haben. Nur bei ausreichender Größe und gewissem Alter lassen sich Kolonien hinsichtlich Schleimbildung, Größe, Eigenfärbung, Farbstoffabgabe, Glanz, Randstruktur, Fluoreszenz, Oberfläche, Relief etc. charakterisieren. Schimmelpilze müssen bereits in sehr jungem Stadium mit Stereomikroskopunterstützung separiert werden, damit sie nicht ineinander wuchern. Selektivmedien sind für die Beurteilung der Koloniemorphologie meist weniger als Universalmedien geeignet. Die Farbe der Kolonien wird mit einer Farbskala, z.B. RAL-F2 beschrieben. Die optische Dichte der Kolonien vermittelt einen Eindruck, ob es sich um gram-positive oder gramnegative Bakterien handelt. Erstere haben opake, weiße oder leuchtend pigmentierte Kolonien, letztere durchscheinende, graue oder verwaschen pigmentierte Kolonien. Pigmentausscheidung findet sich fast nur bei Gramnegativen. Auch der Geruch von Agarplattenkulturen lässt gute Schlüsse zu.


Abb. 2: Acinetobacter (oben) und Micrococcus (unten) lassen sich mikroskopisch schlecht unterscheiden.


Fotografische Dokumentation

Die fotografische Dokumentation ist als Veranschaulichung bei der Auftragsvergabe und als Beleg bei der Berichterstattung von Bedeutung. Besonderheiten beim originären Untersuchungsmaterial sowie bei Agarplatten können mit einer handelsüblichen Digitalkamera fotografiert werden. Licht- und Stereomikroskop sollten mit Videocameras ausgerüstet sein. Das Foto wird auf einen Printer oder über den PC auf einen Drucker geschickt. Die Dokumentation im Computer erleichtert spätere Vergleiche. Das geprintete Bild kann man über den Scanner in die digitale Form überführen. Kleine Videoclips lassen sich mit Computer oder Videorecorder archivieren.


Abb. 3: Ungünstige Wachstumsbedingungen verursachen Zelldeformationen. Hier Wachstum des anspruchslosen, stäbchenförmigen Wasserkeims Xanthomonas auf einem reichen Agarmedium.


Identifizierung

Zur Identifizierung gelangt nur eine Auswahl von Stämmen. Alles andere würde unsere Möglichkeiten sprengen. Die Vorauswahl beruht auf der geschilderten kritischen kolonie- und zellmorphologischen Beurteilung. Das ist aber häufig nicht ausreichend. Trotz der langjährigen Erfahrung müssen wir unsere Beurteilung in der Regel absichern. Für diese Kontrolle werden die üblichen Grobdifferenzierungsreaktionen verwendet - das sind „Katalasetest“, „KOH-Fadentest“, „Oxidasetest“ und „OF-Glucose-Test“. Es schließt sich die Feindifferenzierung an - z.B. bei Enterobakterien mit „Indoltest“, „H2S-Produktion“ und „OF-Lactose-Test“. Diverse Differenzierungsschemata in der Literatur verweisen auf die wesentlichen Charakteristika für die Aufgliederung der vielfältigen Taxa lebensmittelrelevanter Keime.


Abb. 4: Der Käserindenkeim Halomonas wächst mit NaCl normal (links) und ohne NaCl untypisch (rechts).


Die Identifzierung erhalten wir mit FTIR-Makro-Spektroskopie. Nur ausnahmsweise wird eine 16S-rDNA-Sequenzierung durchgeführt. Für beide Methoden müssen Reinkulturen vorliegen - wie übrigens auch bei API-Testkits, Vitek oder Microstation. Zudem sollte schon im Vorfeld Klarheit über die Zugehörigkeit der Isolate zu Taxa und partiell auch zu Subgruppen bestehen, da bei der FTIR-Makromethode Formenkreis-spezifische Präparationsbedingungen und nachfolgend für die Auswertung spezifische Spektrenbibliotheken anzuwenden sind. Sind die Identifizierungsergebnisse von mehreren identischen kolonie- und zellmorphologischen Formen bei einer Einzelprobe oder bei Parallelproben des gleichen Standorts ohne Zweifel identisch, darf das Identifizierungsergebnis auf andere gleiche Formen extrapoliert werden; das ist jedoch im Bericht kenntlich zu machen. Generell ist eine Methodenbeschreibung beizufügen. Zu guter Letzt muss das Identifizierungsergebnis auf Plausibilität geprüft werden. Es wäre nicht zulässig, in einem Produkt, das z.B. durch Gasbildung auffiel, gasnegative Bakterien als Schadensverursacher zu identifizieren.

Ein Schadensanalytiker muss detektivische Fähigkeiten entwickeln. Er hat mehrere Hypothesen, aber einen engen Zeitrahmen, begrenzte Mittel und wenig Personal. Somit sind die Hypothesen zu gewichten und das Hauptaugenmerk ist auf die Hypothese mit der höchsten Priorität zu richten ohne die anderen Hypothesen aus dem Auge zu verlieren. Diese Vorgehensweise nach Präferenzen erfordert Erfahrung und Fingerspitzengefühl. Wird die falsche Ansatzmethode gewählt, wächst auf den Platten nichts oder nicht das Erwartete; man muss noch einmal mit anderen Bedingungen die gleiche Arbeit leisten. Dies widerspräche der Effizienzprämisse, da es unnötigerweise den Gesamtaufwand, die Untersuchungsdauer und die Kosten erhöht. Ein Untersuchungsablauf nach festen Schemata sowie die ‚Ermittlung in alle Richtungen’ wäre nur bei Akzeptanz deutlich erhöhter Laborkapazitäten und längerer Analysendauer durchführbar. Das begrenzte Jahresbudget von Produktionsbetrieben für die Qualitätssicherung erlaubt nur die Alternativen „wenige Analysen mit vollem DIN/ISO-Aufwand“ oder „viele Analysen mit jeweils eingeschränktem Umfang“. Fehlen gesetzlichen Vorgaben, wird man bei Routineuntersuchungen in der Regel die beiden Versionen kombinieren. Bei der Schadensfallbearbeitung im qualifizierten Analysenlabor ist eine dritte Version, nämlich „punktgenaue Analysen durch systematische Abwägung von Wahrscheinlichkeiten mit flexibler Vorgehensweise“ sicherlich die richtige Wahl.


Abb. 5: Grampositive Bakterien haben typisch opake Kolonien (links überwiegend), gramnegative typisch fahl durchscheinende Kolonien (rechts überwiegend).


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