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AKTUELLES - Pressemitteilungen

016/2010
11.03.2010

Abschlussbericht des Sonderausschusses „Winnenden“ eingebracht

Vorsitzender Christoph Palm erläutert im Plenum
Handlungsempfehlungen und Handlungsfelder

Stuttgart. Den Abschlussbericht des Sonderausschusses „Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen – Jugendgefährdung und Jugendgewalt“ hat der Landtag in seiner Sitzung am Donnerstag, 11. März 2010, beraten. Zur Einbringung des Berichts hielt der Vorsitzende des Ausschusses, der CDU-Abgeordnete Christoph Palm, folgende Rede:

>>Ein Kernthema der Politik ist, den bei uns lebenden Menschen größtmögliche Sicherheit zu gewähren. Leib und Leben eines jeden Einzelnen zu schützen und somit das Ganze zu sichern war in der Antike der Anstoß zur Gründung der griechischen Polis, von der sich die Worte Politik und Politiker direkt herleiten. Die Gefahr, vor der der Einzelne durch die Gemeinschaft geschützt werden sollte, lag einst in erster Linie in äußeren Aggressoren. Bei Amokläufen haben wir es mit einer Bedrohung zu tun, die innerhalb der Gesellschaft entsteht.

Selten geht es in der Parlamentsarbeit so konkret um diesen politischen Nukleus. Oft, allzu oft sind wir aufgefordert oder fordern uns selbst auf, Lebensbereiche, die bereits stark ausdifferenziert sind, weiter zu optimieren.

Keiner von uns hätte noch vor einem Jahr und einem Tag daran gedacht, dass wir uns dieser Aufgabe stellen mussten und weiterhin müssen. Wir taten dies als direkte politische Reaktion auf einen Amoklauf – im Übrigen als erstes Parlament in Deutschland in dieser Tiefe und Breite.

Leben zu schützen rechtfertigt höchsten Einsatz. Einsatz zu bringen waren die 18 Mitglieder des Sonderausschusses „Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen – Jugendgefährdung und Jugendgewalt“ in den vergangenen zehn Monaten gerne bereit, auch wenn wir alle auf den schrecklichen Anlass sehr, sehr gerne verzichtet hätten. Der vor genau einem Jahr stattgefundene Amoklauf in Winnenden und Wendlingen ist immer noch unfassbar und unbegreiflich. Geleitet von der Trauer um die unschuldigen Opfer, vom Mitgefühl mit den Hinterbliebenen, vom Respekt vor der Arbeit der professionellen und ehrenamtlichen Helfer und von der Verantwortung für die in Baden-Württemberg lebenden Menschen, speziell für alle Lernenden und Lehrenden hat der Landtag von Baden-Württemberg den Sonderausschuss im April letzten Jahres einstimmig eingesetzt. Die Mitglieder des Sonderausschusses haben ihren Beitrag ebenfalls ganz in diesem Geist geleistet. Uns war und ist bewusst, dass die Aufarbeitung des Amoklaufs von Winnenden und Wendlingen denkbar ungeeignet ist für parteipolitisches Kalkül oder gar politisches Taktieren. Deshalb haben wir die Ausschussarbeit gemäß des Einsetzungsbeschlusses konsensual angelegt und so auch weitestgehend durchgeführt. Wo wir die Möglichkeit zu einer gemeinsamen Haltung aller sahen, haben wir die Chance ergriffen und den Konsens gesucht und gefunden, auch wenn es mehr als einmal ein zähes Ringen um die beste Lösung war.

Dass es ein schmaler Grat sein würde, auf dem wir uns zwischen ganz unterschiedlichen Erwartungshaltungen bewegen würden, war uns klar. Umsetzbare Entscheidungen wollten wir vorbereiten und nicht Wunschvorstellungen nachgehen. Ambitioniert und realistisch zugleich setzten wir uns das Ziel, einen wirksamen Beitrag zu leisten, um Amokläufe zukünftig weniger wahrscheinlich werden zu lassen. Amokläufe ganz verhindern zu können, ist leider unmöglich. Wir wollten nicht einmal den Anschein erwecken, dass wir dies für möglich hielten. Die Täterprofile sind dafür zu unterschiedlich, ebenso die bisherigen Tatverläufe.

Der Sonderausschuss hat sich in seinen Möglichkeiten nicht überschätzt. Ich bitte Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, nun die Ergebnisse unserer Arbeit aber auch nicht zu unterschätzen.

Dass die dem Landtag nun vorgeschlagenen Maßnahmen, bestehend aus den von uns bewerteten Handlungsempfehlungen des Expertenkreises der Landesregierung, eigenen Handlungsempfehlungen und weiterreichenden Handlungsfeldern geeignet sind, das Amokrisiko zu reduzieren, ist meine feste Überzeugung. Diese Erkenntnis habe ich in den vergangenen zehn Monaten in den zwölf Sitzungen des Sonderausschusses, speziell in den fünf öffentlichen Anhörungen mit insgesamt 16 Expertinnen und Experten, aus den Stellungnahmen von einem guten Dutzend Vertretern von Verbänden, Institutionen und Kirchen, bei der intensiven Beschäftigung mit dem Schlussbericht des Expertenkreises unter der Leitung von Herrn Dr. Andriof und in vielen Gesprächen, z. B. mit nicht direkt betroffenen Jugendlichen und nicht zuletzt mit Betroffenen wie Schülern und Lehrern der Albertville-Realschule oder den Mitgliedern des Aktionsbündnisses, stellvertretend nenne ich Herrn Hardy Schober und Frau Gisela Mayer, erlangt.

Lassen Sie mich an dieser Stelle die emotionale Seite der Ausschussarbeit kurz beleuchten. Natürlich haben wir uns stets bemüht, unsere Arbeit an objektiven Maßstäben und Kriterien auszurichten. Ich bitte aber um Verständnis, wenn ich offen bekenne, dass auch wir Parlamentarier uns von unseren starken Gefühlen der Trauer, der Bestürzung, des Beileids, des Mitleids und des Mitleidens nicht freimachen konnten. Im Übrigen entsteht nach meiner Auffassung die beste Politik mit kühlem Kopf und heißem Herzen. Doch dass was wir an Gefühlen erlebten, ist nichts im Vergleich zu dem, was diejenigen, die den Amoklauf direkt erleben mussten oder als Angehörige von Opfern erlitten und bis heute erleiden, zu ertragen haben. Immer wieder durchfuhr mich beim Blick auf die anwesenden, konstruktiv mitarbeitenden Vertreter des Aktionsbündnisses und anderer Opfereltern der Gedanke, welch unglaubliche Leistung es ist, den Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen in so viel positive Energie umzuwandeln, um anderen ein ähnliches Schicksal zu ersparen. Ihnen allen, verehrte Leidtragende, spreche ich im Namen des Sonderausschusses unseren allergrößten Respekt und unsere ungeteilte Anerkennung für Ihre Beiträge zur Amokverhütung aus.

Meine Damen und Herren, wenn man dem komplexen Thema Amok gerecht werden will, muss man jedoch konstatieren, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Türknäufe allein verhindern keinen Amoklauf. Selbst das strengste Waffenrecht der Welt ist keine Garantie gegen eine solch schreckliche Tat.

Ein Amoklauf ist nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft keine Kurzschlusshandlung, sondern eine Tat, die sich lange, lange vor der Ausführung zu entwickeln beginnt. Sie setzt beim Täter eine weit überdurchschnittliche Kränkbarkeit, oft gepaart mit unterdurchschnittlich ausgeprägtem Selbstbewusstsein voraus. Hinzu kommt eine Handlung, ein Ereignis, das meist nur vom späteren Täter als so verletzend oder kränkend empfunden wird, dass es in ihm über Wochen, Monate oder Jahre derartig gärt und er schließlich den Entschluss zur Tat fasst. Dabei ist es dem Amokläufer wichtig, mit seiner Tat möglichst viele Menschen zu töten oder zu verletzen und so großes Aufsehen zu erregen. Seinen eigenen Tod plant er dabei mit ein oder nimmt ihn zumindest billigend in Kauf. Daher ist es auch extrem schwer, einen potenziellen Amokläufer von seiner Tat noch abzubringen, nachdem er den Tatentschluss gefasst hat. Zu Beginn der Kausalkette scheint eine Verhinderung eines solchen Verbrechens erfolgversprechender. Deshalb liegt hier auch ein Schwerpunkt der Empfehlungen des Sonderausschusses. Prävention und Früherkennung sind Schlüsselworte. Wir brauchen eine Kultur des Hinschauens. Niemandem darf jemand gleichgültig sein. Das gilt für diejenigen, die sich professionell mit Kindern und Jugendlichen befassen, das gilt aber genauso für die Gesellschaft insgesamt, wie auch für jede und jeden Einzelnen.

Potenzielle Amokläufer sind meist nicht die Lauten und vordergründig Aggressiven. Mögliche Täter sind verschlossen, zurückgezogen und unauffällig. Deshalb liegt die Schwierigkeit beim Erkennen eines möglichen Amokläufers im Erkennen des Auffälligen im Unauffälligen. Ich betone nochmals: Hinschauen, Aufmerksamkeit und Zuwendung sind die wichtigsten Eigenschaften zur Amokprävention. Dazu braucht es Personen, die dies zu ihrem Beruf machen oder in ihren Beruf einfließen lassen. Hier die richtigen Weichen zu stellen, ist Aufgabe der Politik. Es braucht aber auch Anstrengungen aller in unserer Gesellschaft Lebender. Jeder ist aufgerufen, ganz gleich ob Eltern, Nachbarn, Freunde, Schul- oder Sportkameraden. Dies zu fördern und zu fordern ist ebenfalls Aufgabe der Politik.

Nun zu den konkreten Ergebnissen des Sonderausschusses:

Der Sonderausschuss gelangte während seiner Arbeit zu dem Schluss, dass einzelne isolierte Maßnahmen nicht ausreichend sein können, sondern dass tief greifende Präventionsmaßnahmen erforderlich sind. Im Kern steht die Erkenntnis, dass ein enges Miteinander von Schulen, Eltern und Gesellschaft notwendig ist, damit speziell an den Schulen des Landes eine Kultur des Vertrauens, der Anerkennung und des Zuhörens gelebt werden kann. Deshalb hat der Sonderausschuss nicht nur 39 eigene, landespolitisch relevante Handlungsempfehlungen erarbeitet, sondern daran anknüpfend auch acht weitergehende Handlungsfelder aufgezeigt.

Die vom Sonderausschuss in seinem Abschlussbericht gemachten Empfehlungen haben kurz- bis mittelfristig ein Finanzvolumen von gut 30 Mio. Euro, die jährlich im Landeshaushalt veranschlagt werden sollen. Er beinhaltet auch eine abschließende Bewertung der vom Expertenkreis der Regierung vorgelegten Handlungsempfehlungen. Ich kann und will Ihnen hier nicht alle rund 100 Empfehlungen, die Sie dem Abschlussbericht detailliert entnehmen können, erläutern. Dazu ist das mir vorgegebene Zeitbudget zu knapp. Ferner würde ein Herausgreifen einzelner Punkte den Blick auf den eigentlichen Wert unserer Arbeit verstellen. Mit dem Abschlussbericht liegt nämlich erstmals ein umfängliches, ganzheitliches Gesamtkonzept zur Amokverhütung vor.

Auf ein paar besondere Aspekte aus den unserer Arbeit zugrunde liegenden fünf Themenfeldern gehe ich jedoch genauer ein. Als größere Maßnahmen schlägt der Sonderausschuss die Schaffung von rund 250 zusätzlichen Stellen für Beratungslehrkräfte und Gewaltpräventionsberater sowie zusätzliche 100 Stellen für Schulpsychologen vor. Bereits zum kommenden Schuljahr 2010/11 sollen die ersten 30 neuen Schulpsychologen eingestellt werden. Wir empfehlen die Gründung eines Stiftungslehrstuhls zur Amokforschung an einer baden-württembergischen Hochschule und einen Studiengang „Schulpsychologie“ an einer Universität. Wir wollen die Mobile Jugendarbeit verstetigen, Erziehungspartnerschaften zwischen Schulen und Eltern stärken, die Jugendverbandsarbeit mit mehr Mitteln ausstatten und wir wollen vor allem ein sehr gut evaluiertes Gewaltpräventionsprogramm nach dem norwegischen Psychologen Dan Olweus flächendeckend und verbindlich einführen. Ziele dieses Programms sind: unmittelbare und mittelbare Gewalt zu vermindern oder zu verhindern, bessere Beziehungen zwischen Gleichaltrigen an den Schulen herzustellen, Bedingungen zu schaffen, die Opfern wie Gewalttätern ein besseres Zurechtkommen innerhalb und außerhalb der schulischen Umgebung ermöglichen.

Für diese und etliche weitere Maßnahmen, die im Jahr 2010 umgesetzt werden sollen, ist eine Mittelbereitstellung im Rahmen des Nachtragshaushaltes vorgesehen. Den Mitgliedern des Sonderausschusses ist bewusst, dass rund 30 Mio. € viel Geld sind. Bedenken Sie jedoch mit uns, dass die Mittel neben der Amokvorbeugung auch der Eindämmung des negativen Phänomens der grassierenden physischen und psychischen Gewalt unter Jugendlichen und durch Jugendliche dienen und positive Standards im Umgang miteinander gesetzt werden, hinter die keiner mehr zurück kann.

Die Schnittstelle zwischen reiner Amokprävention und Antworten auf die Frage, in welcher Welt wir leben wollen und unsere Kinder und Jugendliche leben sollen, ist nicht immer klar zu definieren. Wir haben uns jedoch stark bemüht nicht auszuufern und unter dem Etikett der Amokprävention jeden noch so nachvollziehbaren Wunsch nach Verbesserung eines gesellschaftlichen Missstands oder jede gute oder gut gemeinte Anregung zur Beschlussempfehlung werden zu lassen.

Nicht zuletzt aufgrund der zeitnahen Initiative der Landesregierung von Baden-Württemberg haben die damalige Bundesregierung und der Bundestag schnell reagiert und bereits im Juli 2009 das Waffenrecht als Reaktion auf den Amoklauf von Winnenden und Wendlingen verschärft. Das deutsche Waffenrecht ist damit eines der strengsten weltweit. Bevor weitere Änderungen des Waffenrechts gefordert werden, möchte eine Mehrheit des Sonderausschusses sehen, wie sich diese letzte Änderung des Waffenrechts in der Praxis auswirkt. Die Umsetzung der neuen Gesetzeslage durch die zuständigen Behörden ist entscheidend für ein noch höheres Maß an Sicherheit im Umgang mit legalen Schusswaffen.
Vollzugsdefizite bei der Überprüfung der Einhaltung der Aufbewahrungsvorschriften im Zuge einer umfassenden Evaluation müssen identifiziert und behoben werden. Der Sonderausschuss betrachtet es als notwendig, dass möglichst frühzeitig gesicherte Erkenntnisse über die Effizienz und Effektivität der Aufbewahrungskontrollen vorliegen. Auf dieser Datengrundlage können gegebenenfalls frühzeitig bedarfsgerechte Optimierungen der Aufbewahrungskontrollen erfolgen.

Dazu sollen umfassend die Erfahrungen der Betroffenen sowie der durchführenden Stelle mit den Aufbewahrungskontrollen erfasst werden. Die Waffenbehörden sollen dazu aufgefordert werden, alle Kontrollen nach § 36 Abs. 3 Waffengesetz, die vom 01.01.2010 bis 30.06.2011 durchgeführt werden, zu erfassen und dem Landtag bis zum 15.09.2011 über die Erfahrungen der Waffenbehörden mit den Aufbewahrungskontrollen zu berichten. Der Sonderausschuss empfiehlt weiterhin, die Schützenvereine aufzufordern, ihre Mitglieder bei der Umsetzung der Aufbewahrungsvorschriften zu beraten.

Der Sonderausschuss fordert die Landesregierung ferner auf, bei den unteren Waffenbehörden den Ansatz zu befördern, bei der Gebührenerhebung zwischen verdachtsabhängigen Kontrollen einerseits und verdachtsunabhängigen Kontrollen andererseits zu differenzieren und bei letzteren nur im Falle von Beanstandungen Gebühren zu erheben. Die Landesregierung soll außerdem eine Bundesratsinitiative ergreifen, um eine nochmalige, zeitlich begrenzte Strafverzichtsregelung bei der freiwilligen Abgabe illegaler Waffen entsprechend der am 31.12.2009 ausgelaufenen Amnestieregelung in § 58 Abs. 8 Waffengesetz zu erreichen.

Aufgrund vereinzelter, doch ziemlich absurder Medienberichte in den letzten Tagen möchte ich zur Empfehlung eines Modellprojekts zur Gewaltprävention durch Sport, die wir vom Expertenkreis übernommen und ausformuliert haben, Stellung beziehen.

Die Handlungsempfehlungen des Sonderausschusses beinhalten in keinem Punkt den Vorschlag, Jugendliche im Rahmen eines Projekts verstärkt an Waffen auszubilden. Wer so etwas annimmt, hat die Empfehlungen gründlich missverstanden. Vielmehr will der Sonderausschuss die erfolgreiche Jugendarbeit im Sportjugendbereich grundsätzlich stärken. Durch die Entwicklung eines solchen Modellprojekts am Beispiel Biathlon kann eine Versachlichung der öffentlichen Diskussion erreicht werden. Es ist vorgesehen, in die Fortbildungsmaßnahmen für Lehrer, Eltern und Trainer die beteiligten Verbände aktiv einzubinden. Im Alltag sogenannte Sekundärtugenden wie Ausdauer, Konzentration, Motorik, Leistungsfähigkeit und Disziplin sollen gestärkt und gefördert werden. Der Umgang mit der Waffe wird unter den Aspekten Vorsicht und Behutsamkeit thematisiert. Außerdem sollen die an dem Projekt teilnehmenden Jugendlichen verstärkt für das Ehrenamt als sinnvolle Freizeitbeschäftigung gewonnen werden. Dieses Projekt will dabei helfen, den Jugendlichen, die bereits in Schützenvereinen sind, klar zu machen, welch hohes Maß an Verantwortung sie im Umgang mit ihren Sportwaffen tragen.

Im Umgang mit elektronischen Medien und Computerspielen setzt der Sonderausschuss neben Maßnahmen zur Verstärkung der Strafverfolgung von Internetkriminalität vor allem auf medienpädagogische Elemente.
Machen wir uns nichts vor, ob wir wollen oder nicht, die Welt unserer Kinder ist zu weiten Teilen eine elektronische, unübersichtliche, nahezu frei verfügbare. Verbote alleine können daran wenig ändern. Notwendige Regeln müssen national oder besser international gelten. Für uns müssen Aufklärung und Erziehung im Vordergrund stehen.

Zur Stärkung der Medienpädagogik macht der Sonderausschuss daher insbesondere nachstehende Empfehlungen:

Die medienpädagogische Erziehung und Präventionsarbeit an Schulen bedarfsgerecht weiterentwickeln.
Eine Hotline zu medienpädagogischen Fragestellungen einrichten.
Bedarfsgerecht finanzielle Mittel zur nachhaltigen Verankerung erfolgreicher Projekte wie Media@culture bereitstellen.

Zum Jugendmedienschutz verweise ich auf die entsprechende gemeinsame Erklärung des Sonderausschusses.

Auch zur Medienberichterstattung von Amokläufen hat der Sonderausschuss eine gemeinsame Erklärung verfasst. Dabei geht es uns gar nicht so sehr darum, sog. Sensationsjournalismus einzudämmen. Ich erwähnte es bereits: Ein Amokläufer setzt bereits bei der Planung seiner verbrecherischen Tat auf ein möglichst großes mediales Interesse. Im Internet können Sie dazu Ranglisten von Amokläufen finden. Viel Aufmerksamkeit, wenigstens bei seinem inszenierten Abgang von dieser Welt, ist wichtiger Teil seiner Motivation zur Tat. Ich appelliere an dieser Stelle eindringlich an alle Medienvertreter, sich ihrer ganz besonderen Verantwortung bei der Berichterstattung von Amokläufen bewusst zu sein. Möge Ihnen allen die Gratwanderung zwischen berechtigtem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und einer sicher ungewollten Förderung von Täteranliegen stets gelingen.

Eltern spielen auch bei der Amok- und Gewaltprävention eine ganz entscheidende Rolle. Sie sollen bei der Erfüllung ihres immer vielschichtiger werdenden Erziehungsauftrags noch besser unterstützt werden. Dies u. a. durch Beratungsmodule für Rat suchende Eltern in typischen Umbruchphasen des Kinderlebens. Viel Erfahrungswissen wird heute aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr von einer Elterngeneration auf die nächste weitergegeben. Junge Eltern haben zahlreiche Fragen, deren Nichtbeantwortung zu Unsicherheit führt, was wiederum bei der Erziehung der Kinder hemmt. Mit dem Landesprogramm „STÄRKE“ erhalten Eltern eine Unterstützung bei Fragen der Kleinkindentwicklung.
Für typische Umbruchphasen des Kinderlebens (Schulwechsel, Pubertät) bestehen noch keine adäquaten Angebote für Rat suchende Eltern. Der Sonderausschuss regt die bedarfgerechte Entwicklung von Fortbildungsmodulen zur Erziehungsberatung für diese prägenden Lebensphasen an, die Eltern eine pädagogische sowie entwicklungspsychologische Orientierung ermöglichen. Darüber hinaus wäre es aus Sicht des Sonderausschusses wichtig, werdenden Eltern bereits vor der Geburt ihres Kindes, wenn oft mehr Zeit zur Verfügung steht als nach der Geburt, eine Teilnahmemöglichkeit am Angebot STÄRKE zu schaffen.

Auf die gemeinsame Erklärung des Sonderausschusses zur Sozialpsychiatrischen Diagnostik und Beratung sei in diesem Zusammenhang verwiesen.

Als letztem inhaltlichem Punkt wende ich mich dem Thema „Sicherheit an Schulen“ zu. Nach Anhörung von Experten und vielen Gesprächen mit Pädagogen, Schülern und Eltern setzen wir das deutliche Signal: „Schulen müssen Wohlfühlorte sein und bleiben.“ Ein Ausbau von Schulen zu Festungen, wie er in Amerika vielerorts Praxis ist, wird von kaum jemandem, der am Schulbetrieb teilnimmt, befürwortet. Eingangskontrollen ähnlich wie an Flughäfen sind abzulehnen, da der Zugewinn an (vermeintlicher) Sicherheit die damit einhergehende Verschlechterung des Schulklimas in keiner Weise rechtfertigt. (Dazu waren auch Zitate von Schülern der Albertville-Realschule zu lesen.)

Dies heißt nicht, dass die passive Sicherheit in Schulen nicht verbessert werden kann. Allerdings muss der Einsatz von Türknäufen, Schließsystemen oder anderen baulichen Elementen jeweils vor Ort individuell geprüft werden. Eine flächendeckende Einführung z. B. von Türknäufen könnte bei einer zukünftigen Bedrohungslage unwirksam, möglicherweise sogar kontraproduktiv sein. Wir sind sicher, dass das Land die Schulträger und Schulgemeinschaften überall in Baden-Württemberg durch polizeiliche Beratung in Fragen der passiven Sicherheit an Schulen gut und partnerschaftlich unterstützt. Ferner sollen Fortbildungsangebote für Lehrkräfte im Umgang mit Mobbing und aggressiven Schülern bedarfsgerecht ausgebaut werden.

Auch finanziell einsteigen sollte das Land bei der flächendeckenden Einführung eines elektronischen Alarmierungssystems, z. B. mittels sog. Pager. Alle Schulen, die ein solches direktes Alarmierungssystem haben, könnten sich auf Bedrohungslagen schneller einrichten sowie unmittelbar und schnell angesteuert werden.

Soweit in der gebotenen Kürze die wichtigsten aus lauter wichtigen Empfehlungen.

Erlauben Sie mir zum Schluss ein paar von Herzen kommende Dankesworte. Ich danke den Expertinnen und Experten, die uns an ihrem großen Fachwissen in den Anhörungen teilhaben ließen sowie allen die unsere Arbeit auch zu ihrer Sache gemacht haben. Ich danke dem Expertenkreis unter der Leitung von Herrn Dr. Udo Andriof für die sehr gute Vorarbeit. Ich danke den beteiligten Personen bei der Landtagsverwaltung, insbesondere Herrn Wegner, den parlamentarischen Beratern der vier Fraktionen, die an dieser Stelle unbedingt auch einmal namentlich genannt werden müssen, Herrn Thomas Hartmann, Herrn Helmut Zorell, Frau Ilka Raven-Buchmann und Herrn Jan Frederik Adriaenssens sowie den zuständigen Ministerien für die hervorragende Zuarbeit und für deren hohe, nein höchste Einsatzbereitschaft. Und schließlich danke ich besonders den Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen, die sich im Sonderausschuss mit weit überobligatorischem Engagement einbrachten und um der außergewöhnlichen Sache gerecht zu werden bereit waren, die sonst üblichen Schemata und Spielregeln der Parlamentsarbeit wohltuend auch einmal außer acht zu lassen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Sonderausschuss hat seinen Arbeitsauftrag erfüllt. Was jetzt rasch, aber unaufgeregt und mit der unbedingt notwendigen Gründlichkeit zu erfolgen hat, ist die Umsetzung der Empfehlungen.

Wenn wir im Anschluss an die Aussprache auch dem gemeinsamen Entschließungsantrag zur Einstellung der ersten 30 neuen Schulpsychologen zu Beginn des kommenden Schuljahres mit breiter Mehrheit zustimmten, dann wäre das das richtige Signal dafür, wie ernst wir es mit der zügigen Umsetzung aller Empfehlungen meinen. Ich bitte den Landtag im Namen des Sonderausschusses um entsprechende Beschlussfassung einschließlich der Empfehlung an den Landtag, die Landesregierung zu ersuchen, über die Umsetzung der Handlungsempfehlungen innerhalb vorgegebener Fristen zu berichten. Damit hätten wir für das immer komplizierter werdende Zusammenleben in unserer Gesellschaft Marken gesetzt, die Orientierung, mehr Halt und größere Sicherheit geben können.<<