Kyōkai: Des Sonnenursprung-Reiches Buch von Geistwundern sichtbar-gegenwärtiger Vergeltung des Guten und Bösen

日本國現報善悪霊異記

„Legenden aus der Frühzeit des japanischen Buddhismus“

übersetzt von Hermann Bohner

EINLEITUNG

Im Original S. 1-5

Den von dem buddhistischen Kleriker Kyōkai (景戒) kurz nach der Narazeit (710-784) oder wahrscheinlich teilweise schon während derselben aufgezeichneten und als Nippon-koku-gembō-zenaku-Ryō-i-ki [heute öfter: Nihon Rei-i-ki] vereinigten buddhistischen Legenden wird von seiten japanischer Forscher in mehrfacher Hinsicht Bedeutung zugemessen: erstens wird das Werk von ihnen als erstes seiner Art, d.i. als älteste existierende japanische buddhistische Legendensammlung angesprochen, wobei vielleicht eine minimale Anzahl eng lokal-pragmatisch gerichteter Schriften außer Betracht bleibt [.pdf Chronologie japanischer Legendenliteratur]. Zweitens: wiewohl in chinesischen Zeichen und demgemäßer Diktion verfaßt, wird es das erste Werk der sogenannten Setsuwa-bungaku genannt, d.i. Literatur der Ursprünglich mündlich gesprochenen, dann in schöner Form aufgeschriebenen „Erzählung“ (im literargeschichtlichen Sinn ; vgl. „fabula“ in ursprünglicher Bedeutung: Kurz-Erzählung mit ihrer in alten Zeiten unvermeidlichen lehrenden, unterrichtenden, erbauenden Abzweckung). Mehr noch: wenn diese Literatur sich im Laufe der Zeiten immer mächtiger entfaltet, bis sie auf der Höhe des Mittelalters zu wahren Riesenwerken aufblüht, von wo aus sie sich dann, stark abgewandelt, in die verschiedenartigsten literarischen Gestaltungen hinein fort und fort variiert, so haben jene Werke als Ausgangspunkt, als Anlaß, ja zum guten Teil auch geradezu als Hauptzellkern, um den sich alles andre schließt, das Ryō-i-ki.

Drittens – (darauf ist der Hauptwert zu legen, während das obrige dahingestellt sein mag): vertieft man sich in eines jener großen späteren Werke, liest man für Tage in demselben, geht man dann zu den zeitlich davorliegenden Werken über, folgt man, durch die Werke selber gewiesen, dem Erzählungsstrom aufwärts, bis man in der Region der Quellen innerhalb des Japanischen, eben bei dem Ryō-i-ki, steht, so stellen sich, auf diesem besonderen Gebiete, die Zeitalter des japanischen Wesens so plastisch vor den Blick, daß es – um für den mit dem Osten weniger Vertrauten einen Vergleich zu gebrauchen – ist, als gehe man von der Höhe des europäischen Mittelalters, von jener Zeit, da schon leise der Niedergang der Kreuzzüge einsetzt, zurück über Barbarossa und die Salier, die Ottonen bis in die Zeit Karls des Großen, ja der Vorkarolinger. Das Ryō-i-ki aber gibt uns, von dieser besonderen Seite her, wie kaum ein anderes Werk, die für die japanische Geschichte und das japanische Wesen einzigartig grundlegende japanische Frühzeit: die Nara-Zeit. Die 30 Faszikel der „Śaka-Bücher aus (der Periode) Genkō“ (1321-23; 元享釋書) z.B. zeigen uns, andeutungsweise gesagt, wie das Stadium der Versachlichung, in der Überlieferungs- und Erzählungssammlung, zu höchster Fülle gediehen, in Geschichtswissenschaft überzugehen strebt. Die von mir in den Anmerkungen mehrfach aus diesem Werke gegebenen Proben, Übersetzungen ganzer Geschichten, die ursprünglich dem Ryō-i-ki angehörten, werden hier dem Beobachter vieles zeigen. Ungleich deutlicher natürlich zeigt es ein Vergleich der Urtexte, der Zeichen. Man denke sich etwa eines der bekannten Grimm'schen Märchen auf sieben bis acht Zeilen verdichtet: so voll Prägnanz und Gehalt werden die Zeichen, so kurz der Bericht. Das eigentliche „Erzählen“ schwindet; Versachlichung, straffste Geschlossenheit tritt an die Stelle. Eine ganze scholastische Welt steht hinter dem Buche, und es ist nicht Zufall, daß der Verfasser, Shiren mit Namen (師錬), der Zen-Lehre angehört, die im Grunde alle schriftliche Tradition für nichtig erklärt gegenüber dem in jedem Lebendigen wahren Buddha-Wesen. Dieser japanische Mönch, wird erzählt, aus dem Kloster Kaizōin (海蔵院), der Rinzaisekte zugehörig, sei in dem Kenchōji (建長寺) von Kamakura, mit einem chinesischen buddhistischen Gelehrten zusammengetroffen. Letzterer habe derart eindrücklich, vortrefflich und unerschöpflich von den großen buddhistischen Mönchen Chinas und von dem in China Geschehenen und Erlebten gesprochen, daß Shiren beschämt nicht habe gewußt, was erwidern. „Hat unser Land denn nicht auch solch große Mönche, solche Wundererweisungen?“ So fragend, durchforschte er alle Überlieferungen, Tempel-, Statuen-, Mönchsberichte, und in zehnjähriger Arbeit schuf er das riesige Werk, welches er sodann im 2. Jahre Genkō 1332 – daher der Name des Werkes – dem großen Godaigo Tennō vorlegte (Vgl. auch hernach Kōkai!).

Dieser Entstehungsbericht birgt viel Wahres in sich: nicht nur Buddhistisches, zumal buddhistische Berichterstattung, ist nämlich hier auf einem ihrer Höhepunkte, sondern ebenso jenes andere, von Konfuzius schwer zu Trennende, in europäische Wortform schwer zu Kleidende: das ausgesprochen Chinesische, chinesische Schrift und Diktion, chinesisches Hsüeh-wen (Wissen, Bildung; 學交). Kein Wunder, wenn das Werk daher bei den Kennern größte Schätzung genießt; dies Werk, sagt das (japanische) Grosse Buddhistische Lexikon, ist in unserm Lande in der Tat der erste Anfang einer systematischen, (wissenschaftliche) Vollständigkeit darbietenden sōden („Kirchengeschichte“, „Berichterstattung über Kleriker“ u.s.f.). Übersetzung des Werkes macht große Schwierigkeiten, ähnlich wie eine solche alter chinesischer Werke, bei denen Kommentare fehlen. Man sollte jeweils die breitere Erzählungsform im voraus kennen, um die enigmatisch-kurze zu verstehen.

Solchem Werke gegenüber stellt sich das breit-ausführliche und viel deutlicher als Fortsetzung, ja als Höchstgestaltung des Ryō-i-ki erscheinende Konjaku-monogatari (今昔物語集 „Erzählungen aus alten Zeiten“) mit seinen über 1400 Geschichten in 31 Bänden, dessen Entstehung um die Mitte des 12. Jahrhunderts1 text- und quellengeschichtlich darzulegen eine umfangreiche Monographie erfordern würde. Welch ungeheure Fülle birgt dies Werk! Wieviel umfassender sind die Kenntnisse als die des Ryō-i-ki! um wieviel gehobener die ganze Kulturlage! wieviel breiter der Landesbereich, aus dem her erzählt wird! Wieviel verzweigter sind weltliche und geistliche Ämter, Staat und Kirche! Welche Fülle der Lehren! Das Werk schwillt über von Gläubigkeit! Aber der alte Glaube des Ryō-i-ki ist es nicht mehr; die Einfachheit ist dahin. Tausendfaches wird berichtet und erzählt; aber das Tausend wiegt leichter als vordem das Hundert. Mit den Schriftzeichen ist es nicht anders; ihr Zauber ist im Schwinden; die schweren, im Ryō-i-ki manchmal wie Blöcke hingeworfenen, versteht man nicht mehr, läßt sie abschreibenderweise einfach beiseite. Der Stil ist verwaschener, aber auch zeitentsprechend gefälliger. Was dem Verfasser des Ryō-i-ki mit als das Wichtigste erschien, das „es stehet geschrieben“ der Sutrazitate, übergeht man, macht anstatt dessen ein paar fast populär-salbaderisch zu nennende Sätze. Wie liebevoll, wie voller Gefühle fühlt und gibt man sich! Alles ist und geschieht „grenzenlos“; „über alle Maße“ ; bei jeder Gelegenheit fließen die Tränen in Strömen, bei alt und jung, hoch und nieder. Der Zeitstil will es so. Vieles auch „sagt man nicht mehr“, man braucht dem Leser des Ryō-i-ki nicht eigens zu sagen was; man ist „feiner“, fortgeschrittener. Vieles von Ochs und Fuchs und dergl. ist „auch wirklich nur mehr Erzählung.“ Anderes wieder, das im Ryō-i-ki nur volksliedartig-kurz gegeben ist, wird zur kunstvoll ausgesponnenen Novelle (vgl. hier besonders NR II 34). – So ließe sich fortfahren. Die in den Anmerkungen fort und fort gegebenen Besprechungen der jeweiligen Parallelen aus diesem Werke müssen hier ein übriges tun.

In dieser Weise steht Werk an Werk einer an vielfältigen Bildungen reichen Literatur, jedes als eigentümlicher Repräsentant seines Zeitalters. Das Ryō-i-ki aber ist der erste Schritt hinein in diese Welt: es ist Nara-Zeit. Was dies heißt, wird der Fachmann werten und verstehen. Die gegen Ende dieser Einleitung gegebene Skizze einer Studie über die Totenweltsvorstellungen des Ryō-i-ki mag es weiter verdeutlichen. Der Kenner der Sutren liest aus dem im Ryō-i-ki Zitierten (Erläuterung jeweils bei den entsprechenden Legenden) eine ganze Welt. Wer die Nara-Welt kennt, wird gut verstehen, daß, ähnlich wie etwa Germanisten über den Heliand oder irgend ein Werk der karolingischen Epoche, so japanische Professoren ein Semester hindurch Sondervorlesungen über das Ryō-i-ki geben, wie dies z. B. der bedeutende Kenner des alten Buddhistischen, Prof. Tokushi an der buddhistischen Ryū-koku-Hochschule in Kyōto getan hat, der u.a. auch ein (auch für den Nichtkenner der Sprache) sehr intressantes Buch über die ältesten japanischen Holzschnitte veröffentlicht hat und der z.B. buddhistische Legenden bis Herodot hin verfolgt hat.

Den mit der Nara-Zeit jedoch weniger Vertrauten, gerade vielleicht solchen, die   Nara besucht und gesehen haben, insbesondere auch Hörern und Lesern früherer Ausführungen, Freunden, die es wünschten, glaube ich an dieser Stelle ein Wort über die Nara-Umwelt schuldig zu sein. Indem ich sie niederschrieb, wuchs es, nicht so sehr an Umfang, sondern vor allem auch an Eigenständigkeit, so daß es, hierher gestellt, den Rahmen dieser Einleitung völlig gesprengt hätte. Es soll darum gesondert später erscheinen und wird so, auch unabhängig von den Legenden, manchem Nara-Besuchenden willkommen sein2. Für viele Leser der Legenden aber wird es das eigentliche Vorwort zu den Legenden sein, ein Vorwort, das ihnen vielleicht überhaupt die Legenden erst aufschließt und als solches nicht übergangen werden mag, während die nun nachfolgenden notwendigerweise in fachwissenschaftliche Einzelheiten sich verbreitenden Zeilen für jene Leser nicht immer solche Wichtigkeit besitzen mögen.

Anmerkungen:
1) Heute wird von einer Entstehungszeit 1106-10 ausgegangen, bei 1103 enthaltenen Legenden. [ ]
2) In Bohners Werkverzeichnis   Abhandlungen Veröffentlichungen Ostasien betreffend, aus dem Jahre 1955, findet sich nichts derartiges. [ ]

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