Der "neue Irak"*
Wahlen, Militäroffensiven, Marionetten und Todesschwadronen
- Die Strategie der USA im Irak und die Struktur der Besatzungsherrschaft
nach den Wahlen.
Von Joachim Guilliard
13. Juni 2005
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Ein "dreifaches Hoch auf die Bush-Doktrin" schrieb der
Pulitzerpreisträger Charles Krauthammer Anfang März im
Time Magazine. Die erfolgreiche Abhaltung von Wahlen im Irak seien
der endgültige Beweis für die Richtigkeit der Entscheidung
in den Irak einzumarschieren. Auch viele Kritiker hätten eingesehen,
dass es richtig gewesen sei, militärische Macht zur Durchsetzung
demokratischer Ideale einzusetzen und dadurch eine Transformation
der arabischen Welt in Gang zu setzen - von endloser Tyrannei und
Intoleranz zu anständiger Staatsführung und Demokratisierung.
Mit den "historisch einmaligen" Wahlen in Afghanistan
und Irak, der freien Wahl einer "moderaten" palästinensischen
Führung und der "Zedern-Revolution" im Libanon sei
die US-Administration mit ihrem "großen Projekt"
einer "pan-arabischen Reformation" vorangeschritten, einem
"gefährlichen, riskanten und, ja, arroganten aber notwendigen
Versuch, die Kultur des Mittleren Osten als solche" zu ändern,
um "die Türen zu Demokratie und Moderne zu öffnen."
Die Wahlen im Irak seien möglich geworden, weil die USA nach
"dem Schwert", das das alte Regime stürzte, nun den
"Schild bereitstellte, der acht Millionen Irakern die erste
Ausübung von Selbstregierung" ermöglichte (1).
Die Ausführungen des neokonservativen Kolumnisten der Washington
Post Krauthammer sind typisch dafür, wie offizielle US-amerikanische
Stellen und ihre Verbündeten die im Januar durchgeführten
Wahlen zur Rechtfertigung ihrer Politik ausnützen (2). Obwohl
diese Wahlen ganz offensichtlich demokratischen Standards nicht
genügten, wurden sie auch von den Regierungen Deutschlands
und anderer europäischer Länder anerkannt.
Selbst eine Reihe namhafter Kritiker der US-Politik, wie z.B. Noam
Chomsky, begrüßten - trotz Kritik im Detail - die Wahlen
grundsätzlich als Sieg über die Gewalt und als wichtigen
Schritt in Richtung Souveränität und Demokratie (3).
Doch sagt die Wahlbeteiligung etwas über die Qualität
von Wahlen? Haben diese tatsächlich die Chancen für eine
positive Entwicklung verbessert, oder legt nicht schon die Art und
Weise, wie die Wahlen von den USA ausgenutzt werden, nahe, dass
sie ganz im Gegenteil dazu dienen, die US-Pläne voranzutreiben
- nicht nur im Irak, sondern im gesamten Nahen und Mittleren Osten?
Der Mythos vom Showdown zwischen Terror und Demokratie
Ein genauerer Blick auf den Charakter der Wahlen und den so genannten
Übergangsprozess, d. h. auf die abschließenden Schritte
in der von den USA konzipierten Reorganisation des irakischen Staates,
zeigt, dass der neue Irak wenig mit Demokratie zu tun hat. Sie liefern
vielmehr die Fassade für die fortgesetzte Herrschaft der USA
und einen schmutzigen Krieg gegen all die, die sich den US-Plänen
entgegenstellen. Die dadurch geförderten Kräfte drohen
zudem eine Eigendynamik zu entfalten, die rasch zu einer weiteren
Eskalation der Gewalt führen kann.
In den westlichen Medien wurden die Wahlen als Showdown zwischen
gewalttätigem Widerstand und demokratiewilligen Irakern dargestellt,
die von den Besatzungstruppen geschützt wurden. Die rasch postulierte
hohe Wahlbeteiligung wurde nicht nur als Maß für die
Legitimität der Wahlen, sondern als Bestätigung der Besatzungspolitik,
wenn nicht gar als nachträgliche Rechtfertigung des Krieges
schlechthin interpretiert.
Dabei konnten die präsentierten Zahlen nicht von unabhängiger
Seite bestätigt werden, und vielen Berichten zufolge gingen
die meisten Wähler nicht zu den Urnen, um Zustimmung für
die Politik der Invasoren zu demonstrieren, sondern in der Hoffnung,
dadurch ihren Abzug zu beschleunigen.
Entgegen dem weit verbreiteten Bild setzten die meisten Wahlgegner
nicht auf Gewalt. Auch die wichtigsten bewaffneten Gruppierungen
hatten sich gegen Anschläge auf Kandidaten oder Wahllokale
ausgesprochen. Zwar gab es vielfältige Drohungen und eine Reihe
direkter Anschläge terroristischer Gruppen, die gewöhnlich
dem Kreis des Jordaniers Al Zarkawi zugeordnet werden. Es war aber
abzusehen gewesen, dass der Aktionsradius dieser zahlenmäßig
kleinen und isolierten Kräfte auf die üblichen Brennpunkte
beschränkt bleiben dürfte. Im größten Teil
des Landes waren Wahlwillige beim Gang zum Wahllokal kaum stärker
bedroht, als sie es im Alltag ohnehin schon seit Beginn der Besatzung
sind (4).
In der Frage einer Teilnahme an den Wahlen standen sich auch nicht
Schiiten und Sunniten gegenüber. Selbstverständlich war
der Boykott dort am stärksten, wo auch der Widerstand am stärksten
ist, d. h. im mehrheitlich von Sunniten bewohnten mittleren Teil
Iraks. Doch hatten landesweit auch viele schiitische Organisationen,
wie z.B. die Bewegung Moktada al Sadrs, zum Boykott aufgerufen.
Die Boykottbewegung richtete sich zudem nicht - wie in den westlichen
Medien oft unterstellt - gegen Wahlen an sich. Im Gegenteil: Die
rasche Durchführung von Wahlen - allerdings selbst organisierte,
freie und faire Wahlen unter unabhängiger internationaler Aufsicht
- war von Anfang an eine zentrale Forderung aller Besatzungsgegner
gewesen.
Wahlen, um die Besatzung zu ölen
Ein Urnengang zu einem - aus Sicht der USA - so frühen Zeitpunkt
war zunächst ein Zugeständnis der Besatzungsmacht an die
Besatzungsgegner. Dies ist auch einer der Gründe, warum Noam
Chomsky die Wahlen positiv wertet. Angesichts massiver Proteste
gegen die Verweigerung landesweiter Wahlen, an deren Spitze sich
das einflussreiche geistliche Oberhaupt der Schiiten, Großayatollah
Ali al Sistani, setzte, gaben die USA nach. Konfrontiert mit einem
rasch wachsenden militärischen Widerstand, konnte es sich Washington
nicht leisten, auch noch die Anhänger Al Sistanis in die offene
Rebellion zu treiben (5).
Erstmals schien damit die Eröffnung demokratischer Spielräume
und erste Schritte zur Rückgewinnung der Souveränität
in Aussicht. Die US-Administration konnte aber unbehelligt von Einwänden
seitens der UNO oder europäischer Staaten diese Spielräume
eng begrenzen und sich durch die Vorgabe der Spielregeln die volle
Kontrolle über den gesamten Prozess sichern.
Wahlen unter Besatzung müssten nach internationalem Recht von
einer neutralen "Schutzmacht", die von allen politischen
Kräften akzeptiert wird, überwacht werden. Der Urnengang
im Irak hingegen wurde von der Besatzungsbehörde konzipiert
und organisiert. Der damalige Statthalter Paul Bremer legte durch
entsprechende Dekrete die Art und Weise der Durchführung fest
und nahm die Besetzung der Wahlkommission vor. Die UNO spielte bei
alledem keine größere Rolle, sie war an der Vorbereitung
und Durchführung der Wahlen nur mit einer kleinen Zahl von
Beratern beteiligt (6).
Hinzu kamen die allgemeinen Bedingungen einer feindlichen militärischen
Besatzung, eines Monat für Monat verlängerten Ausnahmezustandes
und eines in weiten Teilen des Landes offenen Krieges. Freie und
faire Wahlen waren unter all diesen Umständen von vorneherein
nicht zu erwarten gewesen.
Das US-amerikanische Carter Center, das schon eine große
Zahl von Wahlen in der Welt überwachte, lehnte daher die Mitarbeit
im Irak kategorisch ab. Es nannte eine Reihe von Schlüsselkriterien,
mit deren Hilfe man die Legitimität von Wahlen beurteilen könne.
Keine dieser Kriterien, so ein Sprecher des Zentrums vor den Wahlen,
waren erfüllt. Weder gab es beispielsweise eine frei gewählte
unabhängige Wahlkommission, noch waren Kandidaten in der Lage,
ihren Wahlkampf in direktem Kontakt mit den Wählern zu führen
(7).
Die meisten Kandidaten bleiben geheim, und auch die Plattformen
der zur Wahl stehenden Parteien und Listenverbindungen blieben weitgehend
unbekannt. Als Orientierung blieb für viele nur die ethnische
und konfessionelle Zusammensetzung der Listen, wodurch erneut die
von der Besatzungsmacht von Beginn an forcierte politische Aufteilung
der Iraker in Schiiten und Sunniten, Kurden, Araber und Turkmenen
etc. gefördert wurde.
Die für die meisten Iraker brennendste politische Frage, der
Zeitpunkt des Abzugs der Besatzer - den laut Umfragen die überwiegende
Mehrheit der Iraker fordert (8)- stand nicht zur Wahl.
Ein weiterer Erfolg beim Einhegen des Wahlprozesses war die Bildung
einer schiitischen Megaliste, die auch die dem konservativen Klerus
um Al Sistani nahestehenden Kräfte einband. Ihre Spitzenplätze
nahmen aber die US-Verbündeten SCIRI, der pro-amerikanische
Flügel der Dawa-Partei und Chalabis Nationalkongress INC ein.
Auch die Spitzenpositionen der anderen maßgeblichen Listen
wurden von den Parteien besetzt, die mit der Besatzungsmacht verbündet
sind und bereits in der Interimsregierung saßen.
Diese Parteien wurden durch die Eigenheiten des Wahlprozesses in
vielfacher Hinsicht stark bevorteilt und zudem massiv materiell
und personell von US-amerikanischen Institutionen unterstützt.
Nur ihre Spitzenkandidaten konnten - als Mitglieder der Interimsregierung
- landesweit auftreten. Nur diese hatten auch einen direkten Zugang
zu den beiden größten Fernsehsendern des Landes, die
von der Regierung betrieben bzw. von den USA finanziert werden.
Dies in einem "Wahlkampf" der sich angesichts von Krieg
und Ausnahmezustand weitgehend auf Radio- und Fernsehspots beschränken
musste.
Unter den Bedingungen von Besatzung und Kriegsrecht hatten die
USA und ihre lokalen Hilfstruppen zudem völlig freie Hand.
Da die internationalen "Wahlbeobachter" den Urnengang
nur von Jordanien aus "überwachten" und sich auch
nur wenige unabhängige Journalisten im Lande aufhielten, fanden
die Wahlen weitgehend unter Ausschluss der internationalen Öffentlichkeit
statt. Inwieweit die veröffentlichten Ergebnisse mit dem tatsächlichen
Ergebnis übereinstimmen, ist daher nicht abschätzbar.
Anlässe für berechtigten Zweifel gibt es viele. So wurden
Wahlbeteiligungen von 50 % bis 70 % aus Wahllokalen gemeldet, die
Beobachtern zufolge den ganzen Tag nahezu leer blieben (9). Zweifelhaft
ist die schließlich verkündete 58-prozentige Wahlbeteiligung
auch dann, wenn die offizielle Zahl von 8,5 Mio. Wählern korrekt
wäre, da die Zahl der Wahlberechtigten deutlich höher
liegen dürfte als die zugrunde gelegten 14,6 Millionen. Die
wahlberechtigte Bevölkerung im Irak wird vielmehr auf 18 Millionen
Menschen und die Zahl der wahlberechtigten Auslandsiraker auf ein
bis zwei Millionen geschätzt (10). Dies würde eine Wahlbeteiligung
von 42 bis 47 % ergeben. Dies wäre an sich immer noch recht
beachtlich, taugt aber nicht für das Bild einer überwältigenden
Zustimmung.
Auch was die Stimmverteilung betrifft, sind Zweifel angebracht.
Viele Beobachter führen die zweiwöchige Verzögerung,
mit der das Ergebnis verkündet wurde, auf massive Auseinandersetzungen
hinter den Kulissen zurück. Der britische Independent berichtete,
dass die schiitische UIA-Liste nach ersten Angaben der Wahlkommission
nicht nur 48 %, sondern fast 60 % erhalten habe. Auch Scott Ritter
wurde von Gewährsleuten aus dem Irak, die aufgrund ihrer Tätigkeit
Einblick in die Vorgänge hatten, versichert, dass die UIA auf
56 % der Stimmen gekommen sei.
Letztlich entspricht die Sitzverteilung weitgehend der, die aufgrund
der Interessen der USA und dem Kräfteverhältnis der verbündeten
Parteien vorauszusehen war. Unter Berücksichtigung der 66-%-Klausel
bei der Wahl der Interimsregierung passt das präsentierte Ergebnis
nahezu perfekt. Die UIA hat demnach mit 140 von 275 Sitzen eine
knappe absolute Mehrheit in der Versammlung, und die kurdischen
Parteien verfügen mit 75 Sitzen (27 %) über eine ausreichende
Sperrminorität. Auch Allawi blieb mit 14 % durchaus noch im
Spiel.
"Ist irgend jemand überrascht, dass die gleichen Leute,
die mit den Amerikanern ankamen ... diejenigen sind, die nun als
Sieger aus den Wahlen hervorgehen?" fragte die irakische Bloggerin
Riverbend. "Jaffari, Talabani, Barzani, Hakim, Allawi, Chalabi
Exiliraker, verurteilte Kriminelle und War Lords. Willkommen im
neuen Irak." (11)
Die Sitzverteilung war für die Bush-Administration zweitrangig.
Wesentlich war das in den USA und in den internationalen Medien
verbreitete Bild von einer überwältigenden Zahl von Irakern,
die trotz der Drohungen des Widerstands in die Wahllokale strömten
und dadurch die Wahlen zu legitimieren schienen.
Sie verschafften den USA und Großbritannien auf internationaler
Ebene und innenpolitisch dadurch die dringend benötigte Legitimation
für ihre Politik. Obwohl die neue Regierung kaum mehr Befugnisse
als die alte haben wird, hat sie nun die internationale Anerkennung,
die ihren Vorgänger-Administrationen fehlte. Mit ihrer Hilfe
kann Washington endlich völkerrechtlich verbindliche Abkommen
zur Umgestaltung der irakischen Wirtschaft abschließen.
"Eine Wahl, um die Besatzung zu ölen", urteilte
Salim Lone, einst hochrangiger Mitarbeiter des ermordeten UN-Sondergesandten
im Irak, Sergio Vieira de Mello. "Hätten die Wahlen in
Zimbabwe stattgefunden, hätte sie der Westen verurteilt."
Für den bekannten US-Historiker Edward S. Herman, Autor eines
1984 erschienen Buches über US-gestützte Wahlen, gleichen
die Irakwahlen in vieler Hinsicht denen in Vietnam 1967 oder El
Salvador Anfang der 1980er Jahre. Diese dienten dazu, die Macht
der eingesetzten Führer zu festigen und der heimischen Öffentlichkeit
zu zeigen, dass man in den besetzten Länder auf dem richtigen
Weg sei.
Wie im Irak wurde eine nicht überprüfbare Wahlbeteiligung
als Maß für die Glaubwürdigkeit der Wahlen und die
Zustimmung zur US-Politik dargestellt. Auch damals haben dies die
westlichen Medien bereitwillig übernommen. Und auch damals
gingen viele Einheimische in der Hoffnung zur Urne, damit einen
Beitrag zum Frieden zu leisten. Sie erhielten jedoch eine brutale
Diktatur und eine Eskalation des Krieges. (12)
Der Übergangsprozess - ein "neokoloniales
Model"
Nicht nur die Wahlen, auch die Grundlagen, auf der die neu gewählten
Institutionen arbeiten sollen, wurden von der Besatzungsmacht vorgegeben.
Mehr als 100 Verordnungen und Erlasse, die der einstige Statthalter
Bremer vor der Übergabe der formalen Regierungsgewalt an die
erste Interimsregierung erließ, regeln die wesentlichen Bereiche
in Staat und Wirtschaft. US-Juristen hatten im Wesentlichen auch
die provisorische Verfassung entworfen. Hier wurde eine Zweidrittelmehrheit
für die Wahl der Übergangsregierung und eine Dreiviertelmehrheit
für Änderungen an der Verfassung oder Bremers Erlassen
festgelegt. Zudem ist stets auch die einstimmige Zustimmung des
dreiköpfigen Präsidentenrates nötig. Damit wurde
den kurdischen Verbündeten starke Hebel zur Wahrung der eigenen
wie der US-Interessen in die Hand gegeben und sichergestellt, dass
das Parlament selbst bei ungünstigem Wahlausgang den von der
Besatzungsmacht vorgegeben Weg nicht verlassen kann. (13)
Selbst Juan Cole, ein US-amerikanischer Nahostexperte, der den Wahlen
an sich positiv gegenübersteht, sprach in diesem Zusammenhang
voll Zorn von einem "neokolonialen Modell", das den Irakern
auferlegt wurde, ohne "die irakische Öffentlichkeit jemals
darüber zu befragen." In allen Ländern, die er kenne,
genüge z. B. eine einfache Mehrheit, um eine Regierung zu bilden.
Er wäre nicht überrascht, wenn diese "Supermehrheiten"
nur in einem einzigen Staat gelten würden: im "amerikanischen
Irak". (14)
Irakische Wahlgewinner
In den westlichen Medien wurde viel Aufhebens von dem großen
Stimmenanteil schiitischer Organisationen gemacht, manche sahen
hierin sogar einen Rückschlag für die USA. Sie übersahen
dabei den engen Spielraum der Beteiligten aufgrund der von USA gesetzten
Spielregeln und der realen Machtverhältnisse und dass es sich
um enge Verbündete der USA handelt, die deren prinzipielle
Ziele mitzutragen bereit sind.
Generell verheddern sich die meisten in der realitätsfernen,
klischeehaften Einteilung der irakischen Gesellschaft in Schiiten,
Sunniten und Kurden, eine Sichtweise, die von der Besatzungsmacht
von Anfang an gefördert wurde. Selbst renommierte unabhängige
Experten, wie der bereits erwähnte Juan Cole, sind davon nicht
frei und reden von einer schiitischen Mehrheit im Parlament. Mit
derselben Logik könnte man auch von einer katholischen Mehrheit
im bayerischen Landtag reden.
Wahlsieger im Irak wurde ein Bündnis schiitischer Parteien,
das nur einen Teil der Schiiten repräsentiert und auch keineswegs
homogen ist. Es reicht von den beiden dominierenden radikalislamischen
Parteien SCIRI und Dawa über die Anhänger des konservativen
Klerus und unabhängigen Gruppen bis zum "Nationalkongress"
Achmed Chalabis, dessen einzige Religion Geld und Macht.
Zwei Dutzend Abgeordnete, die auf hinteren Listenplätzen ins
Parlament kamen, haben sich bereits zu einem oppositionellen Block
zusammengeschlossen, der für ein rasches Ende der Besatzung
eintritt. Die beiden Kurdenparteien repräsentieren ebenfalls
längst nicht alle Kurden im Lande, nicht die im Norden und
noch weniger die in Bagdad und anderen südlicheren Städten.
Und sowenig nun "die Schiiten" herrschen, sowenig haben
zuvor "die Sunniten" geherrscht. Die Herrschaft Saddam
Husseins stützte sich nicht auf eine Konfession, auf allen
Führungsebenen von Staat und Wirtschaft waren stets auch Schiiten
vertreten gewesen. (15)
Selbstverständlich wurden mit den Wahlen die Positionen der
radikalen schiitischen Parteien SCIRI und DAWA, sowie des konservativen
schiitischen Klerus um Al Sistani gestärkt. Das war zu erwarten
gewesen und schafft auch keine grundlegend neue Situation. Auch
vorher war der Bush-Administration klar gewesen, dass sie diesen
Kräften in einigen, für diese wichtigen Punkten, wie der
Rolle des Islams, entgegenkommen muss, um ihre Unterstützung
bzw. Duldung zu behalten. Das dürfte den USA aber kein allzu
großes Kopfzerbrechen bereiten. Weder die beiden Parteien,
noch der einflussreiche Ayatollah streben eine direkte Herrschaft
des Klerus an und, was für Washington noch wichtiger ist, auch
keine auf nationale Entwicklung ausgerichtete, staatlich kontrollierte
Wirtschaft wie im Iran.
Die hauptsächlichen Gewinner sind aber die kurdischen Parteien,
die ihren Einfluss weit über den zahlenmäßigen Anteil
der Bevölkerung, die sie vertreten, ausdehnen konnten.
Schon im Vorfeld konnten PUK und KDP ihren Griff auf Kirkuk verstärken.
Sie konnten beispielsweise durchsetzen, dass mehr als 200.000 Kurden
von außerhalb dort ihre Stimmen abgegeben konnten, nicht nur
für die nationalen, sondern auch für die lokalen Wahlen.
Sie dominieren jetzt trotz geringerem Bevölkerungsanteil die
lokalen Gremien der Stadt. (16)
Die Kurdenparteien sind bestrebt, die Stadt und ihre Ölquellen
an die von ihnen kontrollierten Provinzen anzuschließen. Da
der Ölreichtum der Region um Kirkuk eine solide wirtschaftliche
Basis für einen unabhängigen Staat darstellen würde,
hat die Stadt für sie eine enorme Bedeutung. Sie begründen
ihren Anspruch mit dem angeblichen kurdischen Charakter der Stadt.
Diese ist aber entgegen ihren Behauptungen nicht mehrheitlich kurdisch
und war dies auch vor der Machtübernahme der Baath-Partei nicht
gewesen. (17)
Die Zugeständnisse an PUK und KDP in Bezug auf Kirkuk, wo es
bereits zu gewaltsamen Vertreibungen arabischer und turkmenischer
Familien kam, schaffen dort eine hochexplosive Situation.
Kampf um Einfluss und Pfründe
Mit der Präsentation der Wahlbeteiligung war die Erfolgsgeschichte
der Wahlen bereits zu Ende und die US-Administration mit neuen Schwierigkeiten
bei der Umsetzung ihres "Übergangskonzeptes" konfrontiert.
Um das mühsam gewonnene Bild eines demokratischen Prozesses
nicht wieder zu zerstören, musste sie ihre Verbündeten
an einer längeren Leine laufen lassen, wodurch aber deren Rivalitäten
und divergierenden Ziele viel stärker zum Tragen kommen. Es
vergingen drei zähe Monate, in denen die US-Verbündeten
hinter verschlossenen Türen um die Verteilung von Posten, Macht
und Einfluss feilschten, bis die neue Regierung präsentiert
werden konnte.
Die Kurden beharrten lange auf verbindliche Zusagen über einen
baldigen Anschluss Kirkuks an die kurdischen Autonomiegebiete und
die "Umsiedlung" arabischer Familien. Neben dem Posten
des irakischen Präsidenten forderten sie das Außen- und
auch das Ölministerium für sich. Letzteres ist nicht nur
politisch bedeutend, es gilt auch im mittlerweile wieder aufgeblühten
Patronagesystem als besonders lukrativ. Die Vertreter der schiitischen
UIA-Liste lehnten dies ab und forderten ihrerseits vergeblich die
Auflösung der als autonome Streitkräfte agierenden kurdischen
Peshmerga-Truppen, bzw. ihre Eingliederung in die neue irakische
Armee. (18)
Zeitweilig sah es so aus, als würde Washingtons Favorit, der
bisherige Premier Allawi, als Kompromisskandidat im Amt bleiben
können. Schließlich zogen die schiitischen und die kurdischen
Parteien die umstrittenen Forderungen zurück und einigten sich
auf PUK-Chef Jalal Talabani als Staatspräsidenten. Seine Stellvertreter
wurden Adel Abdel Mahdi vom SCIRI und der bisherige Präsident
Ghazi al Yawer, ein reicher und einflussreicher sunnitischer Stammesführer.
Zum neuen Regierungschef wurde Dawa-Chef Ibrahim Jaafari bestimmt,
der aus Sicht Washingtons akzeptabelste Kandidat aus der UIA-Liste.
Jaafari gilt als moderater Schiit und enger Verbündeter der
USA. Er steht im Gegensatz zu dem SCIRI-Führer auch nicht im
Verdacht enger Verbindungen zum Iran. "Er ist unser Junge,
nicht der des Iran", verlautete es aus dem Weißen Haus.
(19)
Die Auseinandersetzung um die Verteilung der weiteren Posten zog
sich über weitere Wochen hin. Einer der wesentlichen Streitpunkte
war die Einbeziehung des noch amtierenden Ministerpräsidenten
Allawi, wobei es vor allem um die Zusammensetzung und Führung
der neuen Sicherheitsapparate ging, die Allawi aufgebaut hat. Allawi
verlangte mindesten fünf Ministerien, darunter vor allem das
Innenministerium, das er im vergangenen Jahr massiv durch kollaborationswillige
Angehörige aus den Sicherheitsdiensten des alten Regimes verstärkt
hatte.
Die Kurdenparteien unterstützten Allawi, dessen säkulare
Organisation auch ein Gegengewicht zu den radikalislamischen Partien
bilden würde. SCIRI und Dawa haben allerdings kein Interesse
daran, dass sich säkulare, ehemals baathistische Kräfte
einen eigenen Machtapparat aufbauen. Sie sind im Gegenteil bestrebt,
das Verteidigungs- und das Innenressort selbst zu übernehmen
und kündigten an, die Ministerien und Sicherheitsdienste von
allen zu säubern, die führende Positionen in der Baath-Partei
oder im alten Staat innehatten.
Dies zwang die US-Regierung, massiver in die Verhandlungen einzugreifen.
US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld flog Anfang April persönlich
nach Bagdad und drängte die Vertreter der schiitischen Parteien
ihre Opposition gegen ehemaligen Baathisten in den Ministerien aufzugeben
und machte klar, dass die irakischen Sicherheitskräfte für
die neue Regierung tabu sind. Die einstigen Mitglieder von Saddam
Husseins geheimer Polizei seien die "kompetentesten" Kräfte,
um den Widerstand zur Strecke zu springen.
Die UIA-Vertreter ließen sich zwar verpflichten, die Sicherheitsdienste
in Ruhe zu lassen, waren aber trotz des US-Drucks nicht bereit,
Allawis Forderungen nachzugeben. Dieser trat daraufhin aus der Koalition
aus.
Der Glanz der Wahlen war ziemlich verblasst, als Jaafarai am 29.
April endlich eine Kabinettsliste präsentieren konnte, bei
der die umstrittensten Posten zunächst aber noch unbesetzt
blieben.
Der neue Regierungschef und Washington präsentierten sie als
eine Regierung der nationalen Einheit, da sie grob der konfessionellen
und ethnischen Zusammensetzung des Landes entsprach.
Während es in Deutschland absurd klänge, bei der Regierungsbildung
die Anzahl katholischer, evangelischer und bayerischer Minister
aufzuführen, scheint dies westlichen Medien im Falle des Irak
völlig angemessen. Die meisten Berichte begnügten sich
bei der Vorstellung des neuen Kabinetts, zu berichten, dass sich
17 Schiiten, 8 Kurden, 6 Sunniten und ein Christ die 32 schon vergebenen
Posten teilen. (20)
Das neue Kabinett
Das Ausscheiden Allawis ist die einzige Überraschung bei dieser
neuen Regierung. Er wird dennoch der wichtigste Mann Washingtons
beim Aufbau irakischer Kapazitäten zur Aufstandsbekämpfung
bleiben und aufgrund persönlicher Loyalitäten die Kontrolle
über die neuen "Sicherheitskräfte" behalten.
Ansonsten unterscheidet sich die neue Regierung wenig von der alten.
Der größere Teil ihrer Mitglieder hatte schon ein Amt
in den vorherigen provisorischen Kabinetten inne. Die meisten hatten
die Jahrzehnte davor im Ausland verbracht und sind erst mit den
Besatzungstruppen in den Irak zurückgekehrt.
Die Kontinuität ist ohnedies gewährleistet. In allen Ministerien
bleiben die vom ehemaligen Statthalter Bremer eingesetzten US-amerikanischen
"Berater" im Amt und sorgen dafür, dass keines vom
rechten Weg abkommt.
Mit dem kurdischen Warlord Jalal Talabani gelangte einer der wendigsten
irakischen Politiker an die nominelle Spitze des Staates, mit einer
langen Geschichte zwielichtiger Bündnisse mit jedem, der ihm
gerade nützlich schien. "Er hat so oft die Seiten gewechselt,
dass es sehr ermüdend für mich wäre, jede Wendung
aufzuzählen", charakterisierte ihn Dilip Hiro in einem
Interview. In den westlichen Medien wird Talabani gern als "entschiedener
Saddam-Gegner" und als großer Demokrat gefeiert. Auch
dieses Bild trügt. Er herrscht als Warlord genauso autokratisch
über seinen Teil des Autonomiegebietes wie auf der anderen
Seite KDP Chef Mahssud Barzani. Auch mit Saddam Hussein ging er,
wie sein kurdischer Rivale, immer wieder Bündnisse ein. Die
letzten Bilder, auf denen sich Talabani und Hussein herzten, stammen
vom Juni 1991. (21)
Die wichtigste Rolle dürfte für Washington aber Talabanis
Stellvertreter Adel Abdel Mahdi (SCIRI) zukommen. Der einstige Maoist,
der sich zum freien Marktwirtschaftler im radikalislamischem Gewand
wandelte, war bisher provisorischer Finanzminister gewesen. Er hatte
die von Paul Bremer verordnete Schocktherapie durchgeführt,
die die irakische Wirtschaft völlig deregulierte und dem ausländischen
Kapital öffnete. Mahdi gilt als der Mann, der die Fortsetzung
von Bremers Arbeit garantieren soll. (22) Als Vizepräsident
kann er im Bedarfsfall jede Änderung an den Verordnungen der
Besatzungsbehörde mit seinem Veto blockieren.
Zur Seite wurde ihm als Finanzminister Ali Abdel Amir Allawi gestellt,
Chef einer erfolgreichen Londoner Investmentfirma und Berater der
Weltbank. Sein Vater war während der Monarchie Gesundheitsminister
gewesen. Ali Allawi, der mütterlicherseits ein Neffe Ahmed
Chalabis und väterlicherseits ein Cousin von Iyad Allawi ist,
hatte den Irak 1956 als Neunjähriger verlassen.
Alarmierend für Iraker ist die Rückkehr des unverwüstlichen
Ahmed Chalabi. Dem in Jordanien wegen Millionenbetrugs verurteilten
Chef des Irakischen Nationalkongresses wurde neben dem Amt des stellvertretenden
Ministerpräsidenten zunächst auch kommissarisch das Ölministerium
übergeben, bevor es seinem Vertrauten, Ibrahim Bahr al-Uloum,
zugeteilt wurde. Obwohl der einstige Pentagonliebling aufgrund seiner
zwielichtigen Machenschaften und mutmaßlichen Verbindungen
zum iranischen Geheimdienst in Ungnade gefallen war, wird dennoch
vermutet, dass die US-Administration bei der Besetzung des Ölministeriums
die Hand im Spiel hatten - Widerstände gegen Privatisierungsmaßnahmen
sind von Chalabis Seite nicht zu erwarten.
Auch die Ernennung von Baqir Jabr zum Innenminister verheißt
wenig Gutes. Sein eigentlicher Name ist Bayan Sulag - Baqir Jabr
ist sein Kriegsname, den er als führendes Mitglied der Badr
Brigaden, dem bewaffneten Arm des SCIRI, erhielt. Einen Einblick
in seine früheren Aktivitäten gibt ein Bericht von Radio
Free Europe vom Mai 2000 über einen Raketenangriff auf einen
der Regierungspaläste in Bagdad. In einem Interview übernahm
Jabr im Namen von SCIRI die Verantwortung für den Anschlag,
der mehrere Opfer unter den Angestellten gefordert hatte.
Die Badr-Brigaden wurden im Iran ausgebildet, die meisten der zum
Teil sehr jungen Milizionäre sind auch im Iran aufgewachsen
und Anhänger der Ideen Ayatollah Khomeinis. Sie führten
in den 1990er Jahren eine ganze Reihe von Anschlägen im Irak
aus, denen auch eine größere Zahl von Zivilisten zum
Opfer fiel. Sie stehen in dem Verdacht, mit Beginn der Besatzung
Todesschwadronen aufgebaut und eine große Zahl ehemaliger
Baath-Mitglieder und Funktionäre, sowie sonstige politische
Gegner ermordet zu haben.
Der SCIRI und die Badr-Brigaden haben sich bisher wie die beiden
Kurdenparteien einer Auflösung ihrer Milizen widersetzt. Sie
sprechen sich dafür aus, verstärkt ihre Milizen zur Bekämpfung
des Widerstands einzusetzen, wodurch der Krieg tatsächlich
zunehmend bürgerkriegsähnliche Züge annehmen würde.
PUK und KDP verfügen über je 15.000 Vollzeitkämpfer
in quasi regulären Armeeinheiten und weitere 20.000 bis 25.000
Stammesmilizionäre, insgesamt also über 75.000 Mann. (23)
Sie stellen damit nach den US-Truppen die mit Abstand größte
Streitmacht im Irak. Die Badr-Brigaden werden auf eine Stärke
von bis zu 15.000 Mann geschätzt, die ebenfalls gut ausgebildet
sind. Auch Dawa und Chalabi, sowie weitere US-Verbündete unterhalten
eigene Milizen.
"Diese Leute bedrohen uns mit einem Warlord-System, das unser
ganzes Land zerstören könnte", urteilt zu Recht Wamidh
Nadhmi, Sprecher des Irakischen Nationalen Gründungskongresses.
Auch die Aufteilung nach ethnisch/konfessionellen Kriterien führt
zu heftigen Protesten, auch innerhalb der Nationalversammlung. Hashim
Abdul-Rahman al-Shibli, der als "Minister für Menschenrechte"
nominiert worden war, um die Zahl der Sunniten im Kabinett zu erhöhen,
weigerte sich, auf dieser Basis in die Regierung einzutreten; "die
Konzentration auf konfessionelle Identitäten", führe
"zu Spaltungen in Gesellschaft und Staat" (24), begründete
er seine Entscheidung.
Die USA setzen sich fest
Das Image der neuen Regierung hat auch bei ihren Wählern durch
das monatelange Geschacher stark gelitten. Die einzige Möglichkeit,
sich unter den Irakern Glaubwürdigkeit zu verschaffen, wäre,
ernsthaft einen verbindlichen, engen Zeitplan für den Abzug
der US-Amerikaner zu fordern. Da sie sich ohne deren Schutz nicht
halten könnte, wird sie dies aus Eigeninteresse nicht tun.
Die tatsächliche Macht im Land üben weiterhin die USA
mit 140.000 Soldaten und umfangreichen zivilen und militärischen
Einrichtungen in der Green Zone Bagdads aus. Jeder, der den Irak
bereist, kann sehen, wie sich die Besatzungsmacht auf Dauer im Land
festsetzt. Beispielsweise im Camp Victory North, in der Nähe
des Flughafens von Bagdad. Hier baut die Halliburton Tochter Kellog,
Brown & Root (KBR) seit über einem Jahr an einer ganzen
Stadt, bestehend aus klimatisierten Bungalows, Burger King, Turnhallen,
dem größten Supermarkt (PX) des Landes und allem, was
sonst noch zum US-amerikanischen Way of Life gehört. Die Stadt
beherbergt bereits 14.000 Soldaten, fertig gestellt wird das Camp
doppelt so groß wie Camp Bondsteel im Kosovo sein, eine der
größten US-Basen in Übersee. Insgesamt werden zur
Zeit vierzehn permanente Basen ausgebaut, die über 100.000
Soldaten aufnehmen sollen.
Diese permanenten Einheiten sollen längerfristig auch die
militärische Basis der von Krauthammer erwähnten "pan-arabischen
Reformation" sein, jenem "Versuch, die Kultur des Mittleren
Osten als solche" zu ändern, d. h. die arabischen und
islamischen Staaten von Nordafrika bis zum kaspischen Meer in prowestliche,
neoliberale Marktwirtschaften zu verwandeln.
Noch sind aber alle US-Kräfte im Irak gebunden. Von durchschnittlich
mehr als 60 Angriffen täglich berichten die US-Kommandeure
vor Ort, (25) Teile des Landes sind seit langem der Kontrolle der
US-Armee weitgehend entzogen. Weder mit breitgefächerten Großoffensiven
noch mit massiven Angriffen auf mutmaßliche Hochburgen des
Widerstands konnte die US-Armee den Widerstand schwächen. Er
wurde im Gegenteil ständig zahlenmäßig stärker
und militärisch effektiver. Der Aufbau einer US-geführten
irakischen Armee bleibt zahlenmäßig weiterhin deutlich
hinter den Erwartung zurück. Die Einsatzbereitschaft der neuen
Polizei und Armeeeinheiten ist schwach und die tatsächliche
Loyalität ungewiss. Die erste Maßnahme der US-Truppen
während ihrer Militäroffensive "Operation River Blitz"
gegen den Widerstand in den Städten am Euphrat z. B. war, so
der Christian Science Monitor, die Gefangennahme der Polizeibeamten
der Stadt.
Nach wie vor tappen die Besatzer über ihren Gegner weitgehend
im Dunkeln. Nach Schätzungen von General Muhammed Shahwani,
dem von Paul Bremer eingesetzten Chef des neuen irakischen Geheimdienstes,
stehen ihnen 40.000 "Hardcore-Kämpfer" gegenüber,
unterstützt von 150.000 Irakerinnen und Irakern, die als "Teilzeitguerillakämpfer",
Kundschafter und logistisches Personal arbeiten würden. Diese
können, so Schahani, auch auf Unterstützung oder Duldung
großer Teile der Bevölkerung zählen. (26) Man kann
davon ausgehen, dass Shahwani weiß, wovon er spricht. Er war
unter Saddam Hussein bereits Geheimdienstchef in Bagdad gewesen,
bevor er das Land verließ und sich Ijad Allawis National Accord
anschloss.
"Salvador Option"
Auch die US-Administration hat erkannt, dass die US-Truppen im
Irak einem breiten Widerstand aus der Bevölkerung gegenüberstehen,
der mit regulären militärischen Mitteln allein nicht zu
besiegen ist. Sie setzt daher zunehmend auf einem verdeckten, schmutzigen
Krieg.
Bereits im Dezember 2003 enthüllte Seymour Hersh entsprechende
Programme der US-Regierung, die Geheimdienstexperten an die "Operation
Phönix" in Vietnam erinnern.
Das Pentagon bezeichnet, gemäß einem Artikel der US-Zeitschrift
Newsweek, die diesbezüglichen Pläne lieber als "Salvador
Option" - in Anknüpfung an die erfolgreichere Anwendung
des Einsatzes von staatlichem Terror, Folter und Todesschwadronen
gegen oppositionelle Kräfte in Mittelamerika. (27)
Wie Hersh herausgefunden hatte, war schon im Herbst 2003 mit Hilfe
von Experten der israelischen Armee mit der Ausbildung von Spezialeinheiten
zur gezielten Liquidierung von Besatzungsgegnern begonnen worden.
(28) Hinzu kommt der massive Einsatz von privaten Söldnern,
darunter viele frühere Geheimdienstoffiziere und ehemalige
Angehörige von Sondereinheiten der Armee, die keiner Kontrolle
unterliegen.
Für Peter Maass von der New York Times steht nach seinen Recherchen
vor Ort fest, dass die Vorlage für den heutigen Irak nicht
Vietnam, sondern El Salvador ist, wo ab 1980 eine rechtsgerichtete
Diktatur mit US-Unterstützung eine linksgerichtete Befreiungsbewegung
bekämpfte. Über 70.000 Menschen wurden in dem 12-jährigen
Krieg getötet, die meisten von ihnen Zivilisten. (29)
Im Irak entsteht aber eher eine Mischung aus beidem, denn Maas übersieht,
dass Irak nach wie vor ein militärisch besetztes Land ist,
in dem 140.000 US-Soldaten im direkten Einsatz gegen eine Widerstandsbewegung
sind, die sich in erster Linie gegen diese Besatzung wendet.
Der verdeckte Krieg soll im Wesentlich von den verbündeten
Irakern selbst geführt werden, koordiniert von der Übergangsregierung.
Ijad Allawi hat hierfür in seiner Amtszeit u. a. mit Kriegsrecht
und dem Aufbau eines neuen "Sicherheitsapparates" die
entscheidende Vorarbeit geleistet. Vieles davon verrät die
Handschrift von Botschafter John Negroponte, der als Botschafter
in Honduras auch in Mittelamerika die Fäden zog und eine Reihe
von "Beratern" mit einschlägigen Erfahrungen aus
dieser Zeit in die Ministerien entsandt hat.
"Special Police Commandos" - neue Avantgarde
im Kampf gegen den Widerstand?
Unmittelbar nach seinem Amtsantritt hatte Allawi mit dem Aufbau
einer Geheimpolizei begonnen, die als Speerspitze bei der Aufstandsbekämpfung
fungieren soll. Als Sicherheitsberater, der den Aufbau des neuen
"allgemeinen Sicherheitsdirektorats" (General Security
Directorate, GSD) unterstützen sollte, ernannte er den Generalmajor
Adnan Thavit al Samarra'i, einen ehemaligen hohen Geheimdienstoffizier
Saddam Husseins, der sich an Allawis gescheitertem Putschversuch
1996 beteiligt hatte.
Anscheinend über Nacht traten bald darauf neue paramilitärische
Einheiten in Erscheinung, die ebenfalls mit der "Salvador Option"
in Verbindung gebracht werden und stark an die rechten Paramilitärs
in Kolumbien erinnern.
Mittlerweile agieren mindestens sechs dieser vom US-Militär
"Pop-Ups" genannt Milizen, verteilt über den gesamten
Irak. Die relativ gut bezahlten Kämpfer kommen überwiegend
aus den Sicherheitsdiensten und Sondereinheiten der Armee des alten
Regimes und haben den Korpsgeist und die Disziplin, die die USA
bei den regulären irakischen Militär- und Polizeikräften
so sehr vermissen. (30)
Die stärkste dieser stark bewaffneten Milizen, die "Special
Police Commandos", besteht aus 5.000 bis 10.000 Kämpfern.
Sie waren u. a. im letzten Oktober auf den Angriff auf Samarra beteiligt,
der als Probelauf für den Sturm auf Falluja galt. Die "Commandos"
agieren z.B. aber auch in Mossul und Ramadi und weiteren Zentren
des Widerstands.
Ihr Kommandeur ist der oben erwähnte Sicherheitsberater Adnan
Thavit, einer der engsten Verbündeten Allawis und Onkel des
bisherigen Innenministers Falah al-Naqib. Nach eigenen Angaben handelt
es sich bei seinen Leuten um Polizeikräfte, die bereits früher
"Erfahrungen im Kampf gegen Terrorismus" sammeln konnten,
sowie um Leute, die unter dem früheren Regime ein spezielles
Training erhalten hätten.
Mindestens zwei weitere dieser Milizen, die Muthana Brigade und
die "Defenders of Khadamiya". stehen in direkter Verbindung
zu Allawi. Sie erhalten alle mittlerweile massive direkte Unterstützung
vom Pentagon. Die Gesamtstärke dieser neuen irregulären
Brigaden, die von den US-Kommandeuren als neue Avantgarde im Kampf
gegen den Aufstand betrachtet werden, wird auf über 15.000
Mann geschätzt. Da die Loyalitäten der Milizionäre
aber ihren jeweiligen Führern und nicht der Besatzungsmacht
gelten, hat sich das Pentagon hier neue Warlords herangezüchtet.
(31)
Der Name "Pop-Ups" ist jedoch irreführend. Die Milizen
schossen nicht über Nacht aus dem Boden. Erste Pläne zu
solchen Einheiten wurden bereits Ende 2003 bei Treffen zwischen
CIA und Allawi geschmiedet und gehörten somit zum nicht-öffentlichen
Teil des damals beschlossenen "Übergangskonzeptes".
Allawi hatte den Aufbau solcher "Polizei-Spezialeinheiten"
noch vor seinem Amtsantritt ankündigt. (32)
Einheiten der US Marines unterhalten ihre eigenen Milizen, u.a.
die "Iraqi Freedom Guard" and the "Freedom Fighters".
Sie setzen sich vorwiegend aus radikalen Schiiten aus dem Süden
zusammen und wurden in Operationen der Marines in der Al Anbar Provinz,
einem der Zentren des Widerstand gegen sunnitische Widerstandskämpfer,
eingesetzt. (33)
Aufgrund von Äußerungen von General Wayne Downing, dem
nun in Ruhestand gegangenen früheren Chef aller Sondereinsatzkräfte
der USA, ist davon auszugehen, dass im Rahmen dieser neuen Kommandos
auch Todesschwadronen agieren. In einem Fernsehinterview hatte Downing
den Einsatz solcher paramilitärischen Einheiten in El Salvador
als zulässige und nützliche Taktik bezeichnet und ergänzt,
dass die USA nun auch "Special Police Commandos" im Irak
hätten, die "diese Art von Angriffsoperationen durchführen."
Eine ganze Reihe bekannter Vorfälle stützen diese Aussage.
(34)
Belegt ist auf alle Fälle, mit welcher Brutalität diese
Sonderbrigaden gegen Verdächtige vorgehen. Der bereits erwähnte
Peter Maass wurde selbst mehrfach Augenzeuge schwerer Misshandlungen
von Verdächtigen durch Thavits "Commandos", die stets
von einer kleinern US-Einheit begleitet werden, und hörte Berichte
von US-Soldaten über brutale Folter in den Gefängnissen.
(35)
Die US-Armee versucht die Brutalität als Folge irakischer Tradition
hinzustellen, die sie abzumildern suche. Dagegen spricht jedoch,
dass führende "US-Berater" der Milizen über
langjährige einschlägige Erfahrungen aus Mittelamerika
verfügen. Unmittelbar am Aufbau und Einsatz der neuen Milizen
beteiligt ist beispielsweise James Steele, der in den 80er Jahren
in El Salvador als Chef einer Sondereinheit des US-Militärs
die die dortigen Todesschwadronen der Regierung "beriet".
Eine ähnliche Karriere kann Steve Casteel vorweisen, "Berater"
im irakischen "Innenministerium", der sich den größten
Teil seines bisherigen Berufsleben über im schmutzigen Drogen-
und Antiguerillakrieg in Peru, Bolivien und Kolumbien engagierte.
"Indem die Medien die Wahlen als Triumph der Bush-Administration
darstellten," so Edward S. Herman, "und damit, wie in
den früheren vietnamesischen und salvadorianischen Wahlen,
teilweise als Rechtfertigung für Aggression und Besatzung (agression-occupation),
geben sie der Regierung freiere Hand." Die US-Regierung werde
"zuerst ihr Programm der Befriedung durch Gewalt intensivieren,
um den Aufstand zu marginalisieren und den Boden für die Herrschaft
der Gruppen zu bereiten, die den Invasoren/Besatzern zutiefst verpflichtet
sind", so Herman weiter. Wie Seymour Hersh in "We've Been
Taken Over By a Cult" aufgezeigt habe, "hat die Regierung
ihre Bombenangriffe Monat für Monat stetig eskaliert und so
den ganzen Irak zu einer Feuer-frei-Zone' verwandelt -
Treff' alles, töte jeden' - nahezu unberichtet in den
Medien, und wir können sicherlich noch mehr von dieser Art
erwarten."
1 Charles Krauthammer, "Three Cheers for the Bush Doctrine
--History has begun to speak, and it says that America made the
right decision to invade Iraq", Time, 7.3.2005, http://www.time.com/time/columnist/krauthammer/article/0,9565,1035052,00.html
2 Bis zu den jüngsten Wahlen im Irak und unter den Palästinensern,
war die moderne arabische Welt weitgehend immun gegen die Winde
der Demokratie die überall sonst in der Welt geblasen haben",
schrieb z. B. auch Thomas L. Friedman in der New York Times vo 7.4.2005,
"Arabs Lift Their Voices"
3 Noam Chomsky, "Promoting Democracy In Middle East",
Khaleej Times, 6.3.2005
4 Gareth Porter, "The Real Story of the Iraqi Elections",
Foreign Policy in Focus (FPIF), 8.2.2005
http://www.fpif.org/commentary/2005/0502real.html
5 siehe J. Guilliard, "Im Treibsand Iraks", IMI-Studie
2004/03, http://www.embargos.de/irak/occupation/hintergrund/im_treibsand_jg_frm.htm
6 siehe J. Guilliard, "Wahlen als Waffe im Krieg - Ein Überblick
über den Wahlprozess im Irak, http://www.embargos.de/irak/occupation/hintergrund/wahlen_waffe_jg.htm
7 Phyllis Bennis, "Reading the Elections", Institute for
Policy Studies, 2. 2.2005 http://electroniciraq.net/news/1854.shtml
8 Die Seattle Times berichtete am 26.9.2004 über eine Umfrage,
wonach 98 % der Iraker den Abzug der US-Amerikaner fordern würden.
Nach einer Umfrage des Brookingsinstituts im Januar vor den Wahlen,
sind 69 % der schiitischen und 82 % der sunnitischen Bevölkerung
für einen baldigen Abzug.
9 "And Life Goes On...", Riverbend, 12.2.2005 http://riverbendblog.blogspot.com/2005_02_01_riverbendblog_archive.html#110815850766514443
10 "Priorities Of Power - The Real Meaning Of Elections In
Iraq", Media Lens, 8. 2. 2005, http://www.medialens.org/blog/archives/00000115.htm
11 Riverbend, "Groceries and Election Results", 18.2.2005
http://riverbendblog.blogspot.com/2005_02_01_riverbendblog_archive.html#110872871401791299
12 Edward S. Herman "The Election In Iraq: The U.S. Propaganda
System Is Still Working In High Gear", Znet, 13.2.2005, http://www.zmag.org/content/showarticle.cfm?SectionID=15&ItemID=7240
13 "Iraqi compromise fuels angry debate, Iraq's transitional
law under attack", BBC News, 6.4.2005, http://news.bbc.co.uk/1/hi/world/middle_east/4359559.stm
14 Juan Cole, Shiite-Kurdish Deal Collapses, 14.3.2005, http://www.juancole.com/2005/03/shiite-kurdish-deal-collapses-al-hayat.html
15 siehe Muhammad al-Baghdadi, "Lies about the ,oppression
of the Shi'ah' and others", 25.3.2005 http://www.albasrah.net/maqalat/english/0305/oppression-shiah_280305.htm
16 "There are documents and plenty of evidence showing that
fraud took place during the elections in Kirkuk, said a statement
which was distributed to protestors and signed by 16 Arab and Turkoman
groups." Zit. nach: "Allawi, Kurds Set to Form Coalition:
Report", Islam Online, 12.2.2005
17 "According to the accurate 1947 census and the officially
approved 1957 census, the majority were Turkoman." Zit. nach:
"In our hands", Ahl Ahram weekly, 17.3.2005, http://weekly.ahram.org.eg/2005/734/re7.htm
18 "Thorny issues loom for Iraqi leaders", Christian Science
Monitor, 8.4.2005
19 James Cogan, "Who is Iraq's new prime minister Ibrahim al-Jaafari?",
WSWS, 18.4.2005, http://www.wsws.org/articles/2005/apr2005/jaaf-a18.shtml
20 Das von den Besatzern eingeführte ethnische Proporzdenken,
das Karl Grobe treffend mit "Mittelalter statt Zivilgesellschaft"
charakterisierte hatte, spielte wie schon bei den ersten Institution
durchweg die entscheidende Rolle.
21 Dilip Hiro, "Iraq's New President Jalal Talabani: Ally of
CIA, Iranian Intelligence and Saddam Hussein", Democracy now!
7.4.2005, http://www.democracynow.org/article.pl?sid=05/04/07/1343226
22 Pepe Escobar, "What's behind the new Iraq" und "The
shadow Iraqi government", Asia Times, 8.4.2005 bzw. 21.4.2005
23 "Squabble over Iraqi militias", Asia Times, 23.4. 2005,
http://www.atimes.com/atimes/Middle_East/GD23Ak02.html
24 "Seven U.S. Servicemembers Killed in Iraq", May 9,
2005; 2:56 AM
25 "Iraq Insurgents Can Conduct 60 Strikes Daily -Pentagon",
Reuters, 17.2.2005 http://www.reuters.com/newsArticle.jhtml?type=topNews&storyID=7666210
26 so General Muhammed Shahwani, Chefs des neuen irakischen Geheimdienstes,
siehe "Iraq battling more than 200,000 insurgents", afp,
4.1.2005, http://www.dailystar.com.lb/article.asp?edition_id=10&categ_id=2&article_id=11487
27 "'The Salvador Option' - The Pentagon may put Special-Forces-led
assassination or kidnapping teams in Iraq", Newsweek, 8.1.2005,
http://www.msnbc.msn.com/id/6802629/site/newsweek/
28 siehe J. Guilliard, "Irak: Wirtschaftlicher Ausverkauf und
neokoloniale Diktatur, Marxistische Blätter 1/04, http://marxblaetter.placerouge.org/2004/04-1-16.html,
sowie "Im Treibsand Iraks" a.a.O.
29 Peter Maass, "The Way of the Commandos", New York Times,
1.5.2005
30 Greg Jaffe , Bands of Brothers New Factor in Iraq: Irregular
Brigades Fill Security Void, Wall Street Journal, 23.2.2005, http://www.informationclearinghouse.info/article8631.htm
31 Die "Special police commandos" kümmern sich auch
um die psychologische Kriegführung. Sie zeigen u.a. Verdächtige
in der täglichen TV show, "Terrorism in the Hands of Justice",
die vor laufender Kamera diverse Untaten gestehen. Vielen sieht
man noch die Spuren der Misshandlung an, die wahrscheinlich zu den
Geständnissen gebracht haben. Diese sind oft viel zu absurd
um glaubhaft zu sein: so gestehen die angeblichen islamistischen
Terroristen Schwulenorgien und Drinkgelage und ähnliches in
Moscheen.
32 A. K. Gupta, "Let A Thousand Militias Bloom", 21 April
2005, erscheint in der Mai-Ausgabe des Z-Magazine, eine upgedatete
Version steht unter http://www.commondreams.org/views05/0422-24.htm
33 Pepe Escobar, "Iraq's hostage cabinet", Asia Times,
30.4.2005
34 A.K. Gupta, a.a.O.
35 Peter Maass, "The Way of the Commandos", NYT, 1.5.2005
*Der Beitrag wurde leicht gekürzt in AUSDRUCK - IMI-Magazin,
Juni 2005, und auszugsweise in junge Welt vom 18. und 19.5.2005
veröffentlicht.
© www.globale-gleichheit.de
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