"Die Gegner der Besatzung im Irak haben die
Mehrheit der Bevölkerung hinter sich".
Interview mit Joachim Guilliard, Mitinitiator der "Initiative
Internationales Tribunal der Völker über die Aggression
gegen den Irak" *
15. September 2005
Download-Version
gG: Zweieinhalb Jahre nach dem von US-Präsident
Bush offiziell verkündeten Kriegsende ist der Irak alles andere
als ein "befriedetes" Land. In den Verlautbarungen der
US-gestützten irakischen Regierung wie auch Washingtons ist
von einem zukünftigen demokratischen Modellstaat denn auch
nicht mehr die Rede. Sind die USA im Irak mit ihrem Latein am Ende?
Guilliard: Auch aus dem konservativen
Lager der USA melden sich immer mehr Experten und Politiker zu Wort,
die überzeugt sind, dass der Krieg im Irak nicht mehr zu gewinnen
ist. Doch ist der Irak für die "Neokonservativen",
die die Bush-Regierung dominieren, strategisch viel zu wichtig,
als dass sie in absehbarer Zeit nachgeben werden. Daher hält
die Besatzungsmacht an ihrem Kurs fest, d. h. Ausbau fester Militärbasen
für die langfristige Präsenz von gut 100.000 Soldaten
und Etablierung eines irakischen Regimes, das wie auch die irakischen
Armee unter US-Kontrolle bleibt.
Um gegenüber dem Widerstand aus der Defensive zu kommen, setzen
die USA neben brutalen Angriffen auf ganze Städte, wie aktuell
in Tal Afar, zunehmend auch auf die "Salvador Option",
d. h. einen schmutzigen Krieg, ähnlich wie in Mittelamerika
in den 1980er Jahren, nicht nur gegen den bewaffneten Widerstand
und seine mutmaßlichen Unterstützer, sondern auch gegen
die die Besatzung ablehnende zivile Opposition. Sie stützen
sich dabei auf Milizen der verbündeten Parteien und neue paramilitärische
irakische Einheiten, darunter regelrechte Todesschwadronen, gebildet
zum guten Teil aus Angehörigen von Sondereinheiten des alten
Regimes.
gG: Im Streit um den irakischen Verfassungsentwurf
wurden die Spannungen zwischen den Volks- bzw. Religionsgruppen
der Schiiten, Sunniten und Kurden zunehmend sichtbar. Ist die staatliche
Einheit des Irak in Gefahr, bzw. droht dem Land gar ein Bürgerkrieg?
Und welche Konsequenzen hätte ein Auseinanderfallen des Landes
für die Region?
Guilliard: Von Spannungen zwischen Bevölkerungsgruppen
würde ich nicht reden. Im Irak stehen sich politisch nicht
Schiiten, Sunniten und Kurden gegenüber, sondern wie überall
Parteien, die unterschiedliche Interessen vertreten. Für die
meisten Iraker steht die Religions- oder Volkszugehörigkeit
nicht an erster Stelle. Es ist daher z. B. auch Unsinn zu sagen,
mit der Hinzuziehung von 15 Sunniten, wären "die Sunniten"
an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt worden. Die Sunniten
haben die Wahlen mehrheitlich boykottiert und lehnen es gleichfalls
ab, unter Besatzungsbedingungen und unter US-Hoheit eine Verfassung
auszuarbeiten.
Beim Streit um die Verfassung geht es zum einen um die unterschiedlichen
Interessen der US-amerikanischen Verbündeten, die aufgrund
der Mehrheitsverhältnisse den Ton angeben. Das sind die beiden
kurdischen Parteien, die ihre Herrschaftsbereiche auf die ölreiche
Region um Kirkuk ausweiten wollen und die beiden reaktionären
schiitischen Parteien in der Interimsregierung, SCIRI und Dawa,
deren zentrales Anliegen die Einführung islamischen Rechts
ist. Einig sind sich diese Parteien im Ziel, den Irak in eine lose
Föderation auf ethnisch/konfessioneller Grundlage zu verwandeln,
die dem Zentralstaat nur wenige Befugnisse belassen würde.
Auch die regionalen Sicherheitskräfte würden letztlich
von den Milizen dieser Parteien gestellt werden. Dagegen machen
die Kommissionsteilnehmer mobil, die gegen die Besatzung sind, sich
aber dennoch an der Verfassungsdebatte beteiligen. Sie haben dabei
die Mehrheit der Iraker hinter sich, nicht nur Sunniten, sondern
beispielsweise auch die große Anhängerschaft Muktader
al Sadrs. Würden so weitgehende föderale Regelungen eingeführt,
würde dies sicherlich den Widerstand weiter anheizen. Die Gefahr
von bürgerkriegsähnlichen Zuständen wächst tatsächlich.
Zum einen in der Region Kirkuk, die die kurdischen Parteien gegen
den Willen der mehrheitlich turkmenischen und arabischen Bevölkerung
an die von ihnen beherrschten Nordprovinzen anschließen wollen,
zum anderen durch den Einsatz kurdischer und radikaler schiitischer
Milizen den Widerstand in den überwiegend sunnitischen Provinzen.
gG: Unter Saddam Hussein war der Irak
ein weitgehend laizistischer Staat. Das hat sich spätestens
mit der US-geführten Invasion grundlegend geändert. Aus
der Ferne betrachtet, drängt sich der Eindruck auf, dass islamistisch-extremistische
Kräfte im Irak zunehmend die Oberhand gewinnen. Ist dieser
Eindruck richtig?
Guilliard: Der Islam hatte auch schon
im letzten Jahrzehnt, unter Saddam Hussein, an Bedeutung gewonnen,
nicht zuletzt aufgrund der elenden Lebensbedingungen unter dem Embargo
und dem Hass auf den Westen, der für die Fortsetzung des Elends
verantwortlich war.
Das Bild, das man sich hier vom Einfluss der Religion macht, ist
aber stark übertrieben. Für die meisten Iraker ist Religion
nach wie vor Privatsache. Im zivilen wie militärischen Widerstand
überwiegen zwar die islamisch orientierten Kräfte, es
handelt sich aber überwiegend um einen moderaten und volkstümlichen
Islamismus. Eine Herrschaft der Ayatollahs strebt hier niemand an.
Zudem gibt es auch starke säkulare Kräfte.
Die islamistischen Terrorgruppen, die hierzulande das Bild bestimmen,
werden von den meisten Irakern nicht zum Widerstand gezählt.
Zahlenmäßig machen sie kaum 5 % der bewaffnet operierenden
Kräfte aus.
Die einflussreichsten islamistisch-extremistischen Kräfte sind
aktuell die mit den USA verbündeten, pro-iranischen Schiitenparteien.
gG: Obwohl formal unabhängig, ist
der Irak de facto immer noch ein besetztes Land. Unsere Mainstream-Medien
zeichnen vom Widerstand der irakischen Bevölkerung gegen die
anhaltende Besatzung ein weitgehend negatives Bild. Widerstand wird
in der Regel mit Terrorismus gleichgesetzt. Werden Entführungen
von Journalisten und Anschläge auf Zivilisten tatsächlich
von allen am Widerstand beteiligten Gruppen gebilligt? Wie ist das
Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Organisationen
einzuschätzen?
Guilliard: Sowohl zivile Organisationen
als auch militärische Widerstandsgruppen haben Entführungen
von und Anschläge auf unbeteiligte Zivilisten stets eindeutig
verurteilt. So betonte beispielsweise Hadi al Khalessi von der "Irakischen
Nationalen Gründungskonferenz" (INFC), einer Dachorganisation
des zivilen Widerstands, die auch von vielen Guerillagruppen als
politisches Sprachrohr anerkannt wird, dass alle Aktionen, die sich
nicht eindeutig gegen die Besatzer richten, letztlich diesen nützen.
Auf einer Konferenz in Berlin waren sich die irakischen Vertreter
einig: "Alles, was sich gegen die Zivilbevölkerung richtet,
ist Terrorismus und hat mit dem Widerstand nichts zu tun."
Ähnliches ist auch in Stellungnahmen bewaffneter Gruppen zu
lesen. So verurteilt die "Islamische Front des irakischen Widerstands"
("Jama") in ihren Einsatzrichtlinien das "Abschlachten
von Geiseln" und das "Vergießen irakischen Blutes,
unabhängig unter welchem Vorwand und unabhängig davon,
ob es sich um Zivilisten oder Angehörige der Polizei oder Nationalgarde
handelt."
Dass dies keine leeren Worte sind, kann man auch Statistiken über
die Art von Anschlagszielen entnehmen. Über 90 % aller Angriffe
richten sich nach internen Angaben der US-Armee unmittelbar gegen
Besatzungstruppen oder irakische Hilfstruppen.
gG: Die Drohungen Washingtons im Zusammenhang
mit dem Streit um das iranische Atomprogramm haben in jüngster
Zeit an Schärfe deutlich zugenommen. Bush schließt die
Anwendung von militärischer Gewalt gegen den Iran ausdrücklich
nicht mehr aus. Wie realistisch ist die militärische Option?
Und wie glaubwürdig sind andererseits die Friedensbekundungen
des deutschen Bundeskanzlers, der den USA und ihren Verbündeten
im Krieg gegen den Irak trotz verbaler Kriegsgegnerschaft Überflug-,
Lande- und Transitrechte eingeräumt hatte?
Guilliard: Die Drohungen sind sehr ernst
zu nehmen. Es verdichten sich die Anzeichen, dass ein Angriff auf
den Iran nur noch eine Frage der Zeit bzw. eines aus US-Sicht günstigen
Augenblicks sein könnte. Die vorbereiteten Pläne sehen
massive, mehrtägige Luftangriffe auf Ziele vor, die in irgendeiner
Weise mit der Kernenergie zu tun haben und selbstverständlich
auch auf die Verteidigungsanlagen des Irans.
Dem entgegen steht allerdings, dass die internationale Ablehnung
eines solchen Angriffs noch umfassender ist, als schon die des Irakkrieges
und dass die Bush-Regierung im Irak und Afghanistan noch genug Probleme
am Hals hat. Im Irak würde sie ein solcher Schritt in Konfrontation
mit zwei seiner wichtigsten Verbündeten, den bereits erwähnten
pro-iranischen schiitischen Parteien, bringen.
Eventuell soll das Säbelrasseln neben dem Aufbau von erpresserischem
Druck auf die iranische Führung zunächst einmal dazu dienen,
dass sich der Rest der Welt langsam an den Gedanken eines Angriffes
gewöhnt.
Mittlerweile ist US-Präsident Bush durch die vom Hurrikan Katrina
schonungslos aufgedeckten Verfehlungen seiner Regierung und dem
Zusammenhang, den die meisten US-Amerikaner nun zwischen der Vernachlässigung
von Katastrophenschutz auf der einen und den immensen Mitteln für
die militärischen Abenteuer auf der anderen Seite ziehen, derart
unter Druck, dass ein Angriff vorerst wohl nicht mehr zur Debatte
steht.
Die Bundesregierung hat natürlich bezüglich Iran noch
mehr Gründe, gegen einen umfassenden Krieg gegen das Land zu
sein als im Falle des Irak. Ist Iran doch einer der wichtigsten
Handelspartner in der Region. Doch unabhängig davon, wer die
Regierung demnächst stellen wird, ist es wenig wahrscheinlich,
dass sie einem begrenzten US-Angriff wirklich Steine in den Weg
legen würde. Prinzipiell sind sich Deutschland, EU und USA
in der Zielsetzung einig. Auch Deutschland verlangt vom Iran - unter
Missachtung internationalen Rechts und unter Androhung von Sanktionen
-, sich einer Sonderbehandlung zu unterwerfen, die man selbst nie
akzeptieren würde.
Nicht nur die Drohgebärden aus dem Weißen Haus in Washington,
auch der kürzlich von Deutschland, Frankreich und Großbritannien
vorgelegte Entwurf für ein Abkommen mit dem Iran kann man nur
als Eskalationsschritt werten. Verlangt wird darin vom Iran, endgültig
auf alles zu verzichten, was über den Betrieb von Atomreaktoren
zur Stromerzeugung hinausgeht. Das würde das Aus für die
Uran-Konversion, die Uran-Anreicherung, die Herstellung von Brennelementen
und den geplanten Schwerwasserreaktor in Arak bedeuten. Der Iran
sollte sogar vertraglich auf das Recht verzichten, den Atomwaffensperrvertrag
zu kündigen. Einen solchen einseitigen Souveränitätsverzicht
hat noch kein Staat der Erde freiwillig unterschrieben. Als Gegenleistung
wollte das Trio nur garantieren, dass der Iran nicht mit Atomwaffen
von EU-Mitgliedsstaaten angegriffen würde. Von den USA war
aber nicht die Rede.
Es ist schon bemerkenswert, wie Fischer und Schröder - trotz
der im Wahlkampf aufgelebten Friedensrhetorik - die Politik der
USA flankieren, wohl wissend, dass dies die Eskalation weiter vorantreibt.
gG: Vor zweieinhalb Jahren hat der drohende
Angriffskrieg gegen den Irak weltweit noch Millionen von Menschen
mobilisiert, die ihrem Protest gegen den Krieg auf Demonstrationen
und Kundgebungen Ausdruck verliehen. Davon ist heute nur noch wenig
zu spüren. Ist die Antikriegsbewegung eingeschlafen - oder
haben die Menschen ganz einfach andere Sorgen?
Guilliard: Eine solche Mobilisierung
kann natürlich nicht längere Zeit aufrechterhalten werden.
Die meisten haben dem drohenden Krieg angesichts der sehr zugespitzten
Situation für eine Weile Priorität eingeräumt und
sich anschließend wieder ihren eigentlichen Themen zugewandt.
Dass damals Millionen demonstriert haben, war zudem nicht nur das
Verdienst der Antikriegsbewegung. Ein wichtiges Moment damals war,
dass auch die meisten Medien und Regierungen gegen den Krieg eintraten.
Es war ja eine völlig ungewohnte Situation gewesen, als Argumente
und Aktionen der Friedensbewegung auch von den größeren
Zeitungen, vom Radio und vom Fernsehen aufgegriffen wurde. Mit Kriegsbeginn
war es mit diesen demokratischen Zuständen schnell wieder vorbei,
und Politik und Medien stellten sich wieder hinter die US-Politik.
Viele Kriegsgegner wussten angesichts der sehr einseitigen Berichterstattung
und der vermeintlichen Alternative "US-Besatzung" auf
der einen und "Chaos", "islamistischer Terror"
und "drohender Bürgerkrieg" auf der anderen Seite
nicht mehr, welche Haltung sie dazu einnehmen sollten und bleiben
seither in dieser Frage passiv.
gG: Haben es die Organisationen der Friedensbewegung
versäumt, der offiziellen Medienpropaganda die entsprechende
Aufklärung entgegenzusetzen? Oder sind sie in dieser Frage
selbst gespalten? So wurde Ihnen auch von verschiedenen Friedensgruppen
vorgeworfen, Sie würden mit dem Eintreten für das Widerstandsrecht
der irakischen Bevölkerung den Terror verharmlosen oder gar
unterstützen. Wie reagieren Sie darauf?
Guilliard: In der Friedensbewegung gab
es in dieser Frage von Anfang an unterschiedliche Meinungen. Viele
setzten den irakischen Staat und die irakische Armee mit Saddam
Husseins Regime gleich. Nachdem der Krieg begonnen hatte, schien
ihnen dessen Sturz und die Besatzung - zumindest zunächst -
als die bessere Alternative. Die Propaganda hatte es leicht, weil
das vermittelte Bild des Widerstands - "Saddam-Anhänger"
auf der einen und radikal-islamistische Kräfte auf der anderen
Seite - sich mit bestehenden Vorurteilen deckten. Hinzu kommt bei
vielen noch eine grundsätzliche Ablehnung von Gewalt, die ebenfalls
die Bereitschaft zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem
Thema minimierte.
Es scheint mir wichtig, zunächst einmal klarzustellen, dass
die terroristischen Aktionen, auf die sich die Berichterstattung
der Medien konzentriert, nicht Teil des Widerstands sind. Dieser
wächst auf Grund der rücksichtslosen und brutalen Besatzungspolitik
der USA, und ein Teil der Bevölkerung greift hierbei, häufig
provoziert durch persönliche Erlebnisse, zur Waffe. Das geschieht
unabhängig davon, ob wir das für richtig oder falsch halten.
Es steht momentan auch nicht zur Debatte, dass die Friedensbewegung
oder allgemein die deutsche Linke irakische Guerillaorganisationen
unterstützt. Wichtig ist aber, in der Öffentlichkeit deutlich
zu machen, dass die hauptsächlichen Ursachen der Gewalt der
Krieg und die Besatzung sind und dass die US-amerikanische Besatzungspolitik
keine Lösung bietet, sondern das Hauptproblem ist. Ein Mittel,
um dies zu belegen und ein Bewusstsein für die Völkerrechtsverstöße
und die Verbrechen der Besatzungsmächte zu schaffen, sind die
internationalen Irak-Tribunale.
Da mit der Gleichsetzung des gesamten Widerstands mit Terror die
Fortsetzung der Besatzung und auch ihre Unterstützung durch
die BRD gerechtfertigt werden, sollten wir dieser Propaganda entgegentreten
und klar machen, dass nicht die Widerstand illegal und verbrecherisch
ist, sondern die US-amerikanische Besatzungspolitik. Unser Hauptziel
sollte sein, deren Unterstützung aus Deutschland zu beenden.
Interview : A. B.
* www.iraktribunal.de
© www.globale-gleichheit.de
|