"Wir brauchen keine Reformen, wir brauchen
eine Revolution"
globale Gleichheit sprach mit dem Musiker, Liedermacher, Komponisten
und Schriftsteller Konstantin Wecker über Kapitalismus, SPD,
Kirche und Krieg.
21. Mai 2005
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gG:
Du hast Dich vor einiger Zeit in der Tageszeitung "junge Welt"
als "großer Fan der Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes"
geoutet, weil diese die Überführung von Produktionsmitteln
und Grundbesitz in Gemeineigentum erlauben. Fühlst Du Dich
darin durch die von SPD-Generalsekretär Franz Müntefering
angestoßene Kapitalismus-Debatte bestätigt? Was steckt
Deines Erachtens hinter diesen ungewohnt kritischen Tönen aus
der SPD-Zentrale?
Wecker: Es wäre ja wunderschön, wenn ich der SPD
glauben könnte. Ich glaube sogar, dass Müntefering es
ernst meint, obwohl er daraus ganz sicher keine Konsequenzen ziehen
wird. Ob das nun eine Wahlkampfstrategie war, um zum Beispiel die
WASG nicht hochkommen zu lassen, oder warum auch immer diese Debatte
jetzt angezettelt wurde, ist mir eigentlich ziemlich egal. Ich bin
vor allem froh, dass diese Debatte stattfindet, sie hätte nur
schon viel früher stattfinden müssen. Ich habe in den
letzten Tagen aufmerksam die Medien verfolgt und beobachtet, wie
sie querbeet von einem anfänglichen Hohngelächter über
Müntefering zurückstecken mussten, und wie sie diese Kritik
jetzt allmählich als Debatte ernst nehmen müssen, weil
zwei Drittel der Bevölkerung hinter Münteferings Aussagen
stehen. Das hat mich sehr gefreut und war mir eine innere Genugtuung,
dass derart arrogante Schreiber und arrogante Blätter, auch
wenn sie immer noch auf der Seite von Hundt und Westerwelle stehen,
sich gezwungen sehen, diese Debatte ernst zu nehmen. Es ist ja geradezu
unglaublich, wie dreist diese Brüder, allen voran dieser unsägliche
und sinnlose Ökonom Herr Sinn den Kapitalismus gewissermaßen
mit einem Naturgesetz gleichsetzten. Da merkt man, dass sie es in
den letzten Jahren einfach nicht gewöhnt waren, mit Kritik
konfrontiert zu werden. Und kaum wird ein bisschen an ihren Lügen
gekratzt, rasten sie geradezu aus. Am erregendsten fand ich ja den
Westerwelle, der sagte, kein Arbeitgeber habe jemals so viele Arbeitsplätze
vernichtet wie die Gewerkschaften. Da fragt man sich doch, warum
dieser Mann nicht sofort in eine Heilanstalt gesteckt wird? Man
kann doch nicht öffentlich soviel Blödsinn verzapfen,
ohne dafür in irgendeiner Weise belangt zu werden.
gG: Wenn es sich um eine Wahlkampftaktik der SPD handelt,
glaubst Du, die Wähler fallen darauf herein?
Wecker: Damit hätte die SPD früher anfangen müssen.
Vor allem hätte sie sich niemals derart dem Kapital andienen
dürfen. Möglicherweise war es nicht einmal eine Taktik.
Ich glaube schon, dass es in der SPD Leute gibt, die wirklich so
denken, vielleicht sogar ein Großteil der Mitglieder. Ich
hoffe es zumindest.
Lafontaine hat einmal von einer Art der religiösen Zugehörigkeit
zur SPD gesprochen. Ich fand das sehr treffend. Irgendwo im Grunde
meines Herzens bin ich vielleicht auch ein latenter Sozialdemokrat,
obwohl ich immer Ärger mit der SPD hatte. Ich war nie ein Kommunist,
auch wenn ich bis heute keine Berührungsängste habe mit
den Kommunisten. Ich glaube, mein Flirt mit der Sozialdemokratie
begann mit meiner Liebe zu Willy Brandt. Ich hatte Tränen in
den Augen, als er gewählt wurde, weil ich glaubte, jetzt sind
gute Menschen an der Regierung - zum ersten Mal in der Geschichte
(lacht).
gG: Wie siehst Du das heute? Wurde Dir dieses Liebäugeln
mit Brandts SPD nicht bald ausgetrieben? Ich nenne nur den Radikalenerlass,
der ja auf Brandt zurückgeht
Wecker: In der Tat, wenn ich zurückdenke, wenn ich an die
Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914, an die Niederschlagung der
Novemberrevolution und der Münchener Räterepublik denke,
dann muss ich das mit dem latenten Sozialdemokraten fast zurücknehmen.
Mir ist diese Zuneigung ausgetrieben worden - allerspätestens
mit der Regierung Schröder, mit Männern wie Clement, mit
denen ich nicht einmal eine Spur von Gemeinsamkeit entdecken kann.
gG: Sieht Du hierzulande überhaupt eine politische
Kraft, die diese Kapitalismuskritik aufnehmen und in eine glaubwürdige
Politik umsetzen könnte?
Wecker: Wenn die WASG ihre Berührungsängste überwinden
würde und klug genug wäre, wenigstens ein lockeres Bündnis
mit der PDS einzugehen, dann hätten wir nochmals die Chance
einer Partei links von der SPD. Ich würde da sehr darauf hoffen.
Bei welcher Debatte im Parlament auch immer, es fehlen sozialistische
Stimmen, es fehlen linke Stimmen.
gG: Wäre dazu aber nicht eine grundsätzliche Auseinandersetzung
mit der Geschichte und den Fehlern der Arbeiterbewegung nötig?
Eine solche findet aber weder in der PDS noch in der WASG statt.
Dazu kommt: Die PDS macht dort, wo sie mit an der Regierung ist,
nicht gerade eine linke Politik, sondern beteiligt sich faktisch
am Sozialabbau.
Wecker: Das ist schon richtig. Nötig ist aber nicht
nur eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Sozialismus,
sondern auch mit den Möglichkeiten, die Geschichte weiterzuschreiben.
Das ist etwas sehr Entscheidendes. Der Sozialismus darf ja nicht
stehenbleiben. Ein Problem der WASG ist, dass sie - wie so häufig
in der Linken - mit linksradikalen Splittergruppen zu kämpfen
hat, die sich anhängen wollen. Da gibt es Kleinstgruppen, die
sind doch tatsächlich der Meinung, sie könnten übermorgen
die Weltrevolution starten. Mit solchen Gruppen ist schon sehr schwer
auszukommen (lacht).
gG: Bleiben wir einmal bei der konkreten Politik. Du arbeitest
zusammen mit Gewerkschaftern und Mitgliedern von "Künstler
gegen den Krieg" an der Entwicklung von Ideen für Kulturaktionen
gegen die so genannte Arbeitsmarktreform Hartz IV. Für wie
wichtig hältst Du den Widerstand speziell gegen die Hartz-Reformen,
mit denen ja viele Menschen regelrecht in die Armut und ins Elend
getrieben werden?
Wecker: Widerstand dagegen ist unerlässlich. Der muss
in breitesten Schichten der Bevölkerung passieren. Es ist eine
Tragödie, dass Demonstrationen gegen Hartz IV weitgehend ausgeblieben
sind.
gG: Das hat ja offenbar sogar die SPD-Grünen-Regierung
überrascht.
Wecker: Ja, da war jeder überrascht. Wenn ich in Konzerten
sage, wir brauchen keine Reformen, sondern eine Revolution, so meine
ich das natürlich ernst, auch wenn die Leute es für lustig
halten. Die Menschen denken bei Revolutionen immer an Laternenpfähle
und an Guillotinen. Das ist aber nicht das Wesen einer Revolution,
das waren immer nur Auswüchse von Revolutionen. Die Revolution
beginnt in einem Umstrukturieren nicht nur des eigenen, sondern
auch des gesellschaftlichen Denkens. Und sie beginnt - das muss
ich immer wieder betonen - in dem Zusammenwachsen einer neuen Spiritualität
mit einer engagierten sozialen Politik. Mit Spiritualität meine
ich natürlich keine kirchlich gebundene Religiosität -
ich meine ganz bestimmt nicht Herrn Ratzinger und diese ganze erstaunliche
Papst-Hysterie, deren Zeugen wir gerade jetzt wurde. Schon die Beerdigung
von Johannes Paul II hat ja geradezu an die Beerdigung von Khomeini
erinnert, wie Eugen Drewermann treffend sagte.. Dieser Fundamentalismus,
der sich da aufmacht, ist erschreckend. Also das meine ich nicht.
Mit Spiritualität meine ich vielmehr die Chance, sich selbst
ständig zu revolutionieren, sein eigenes Denken und Sein permanent
zu hinterfragen, zu überprüfen und auch durch Stille und
Schweigen erst zu entdecken. Das bedeutet auch, sich der Betriebsamkeit
zu widersetzen, die uns mitreißt und mit der wir uns immer
wieder vom Wesentlichen ablenken.
gG: Du hast einen Roman geschrieben "Der Klang der
ungespielten Töne". Darin gehst Du unter anderem mit der
von Seichtheit, Beliebigkeit und Selbstvergötzung geprägten
Unterhaltungsbranche, aber auch mit den Medien ins Gericht. Der
Ich-Erzähler, Anselm Cavaradossi Hüttenbrenner, der nicht
zufällig autobiographische Züge trägt, scheitert
an dieser Scheinwelt, um gleichzeitig durch sein Scheitern über
diese hinauszuwachsen.
Wecker: Ganz genau.
gG: Eine wichtig Hilfestellung leistet ihm dabei sein geheimnisvoller
Lehrer Karpoff.
An einer Stelle des Buches lässt Du Karpoff sagen: "Philosophie,
aus der nicht eine Verwandlung des eigenen Wesens entsteht, ist
nichts als eine Worthülse. Denken, das keine Transformation
zur Folge hat, ist sinnlos. Klavierspielen, das nicht auch Dein
Wesen verwandelt, ist Zeitverschwendung." Wieder an anderer
Stelle kritisiert Karpoff die "Selbstherrlichkeit derer, die
nur auf den Verstand bauen" In dem Roman geißelst Du
gleichermaßen Oberflächlichkeit, Gefallsucht und Ich-Vergötzung,
kapitalistische Waren- und Marktvernarrtheit, aber auch Materialismus
und Rationalismus. Befindest Du Dich damit nicht doch in gewisser
Nähe zu Leuten wie Wojtila und Ratzinger, die ja ebenfalls
gegen Rationalismus und Materialismus predigen und eine Rückbesinnung
auf in ihrem Sinne geistige Werte fordern.
Wecker: Erstmal gilt es klar zu stellen, dass die Meinung
einer Romanfigur - auch eines Protagonisten - nicht zwingend die
Meinung des Autors sein muss. Darüber hinaus befinde ich mich
überhaupt nicht "in der Nähe" zu welchem Papst
auch immer. Allein schon die kirchliche Sexualmoral verbietet mir
jede Nähe. Die Sexualunterdrückung ist bis heute eines
der wichtigsten Instrumente gesellschaftlicher und politischer Machtausübung.
Wovon ich spreche, das ist ein Prozess, der im Individuum stattfindet
und der nie zu einem ideologischen Gebäude werden kann. Es
ist die Transformation des einzelnen, im Sinne eines Krishnamurti,
der jede Form von institutionalisierter Spiritualität ablehnt
und zum Beispiel sagt, schon zu erklären, man sei Christ, Moslem,
Buddhist oder Hindu, bedeute bereits eine Kriegserklärung.
gG: Würdest Du diese Aussage auch auf die Politik anwenden?
Schließen sich Denken und Intuition, Vernunft und Eingebung
wirklich gegenseitig aus?
Wecker: Genau das versuche ich zu verbinden: Denken und Intuition.
Sie schließen sich keineswegs aus, aber leider schließen
die Rationalisten die Intuition aus, und viele Esoteriker und sogenannte
Spirituelle die Vernunft. Ich würde das gerne noch einen Schritt
weiter erklären. Für mich ist das Mysterium des Lebens
nie und nimmer durch Denken zu ergründen, sondern ausschließlich
in dem Raum des Nicht-Wissens, im Raum der Intuition zu erfahren.
In diesem Raum, in dem, wie fast alle Wissenschaftler und Künstler
bestätigen, die wirklich innovativen Entdeckungen und Schöpfungen
zustande kamen. Ich weiß seit Kindesbeinen, dass ich meine
Melodien, dass ich meine schönsten lyrischen, poetischen Sätze
nie erdenken kann, sie fallen mir zu. Sie passieren dann, wenn ich
die Ratio nicht zum Herrscher meiner selbst mache, sondern wenn
dieses Selbst, das ich nicht kenne, das ich erforsche, das ich zu
ergründen suche im Laufe meines Lebens, wenn mein Herz, nicht
meine Emotionen, mein Herz und mein Geist, die Ratio im Griff hat.
Das Problem des Rationalismus ist in meinen Augen, dass der Rationalist
zwar viel denkt, aber dass er genau diesen Raum ausklammert. Ein
rationaler Mensch zu sein - ein Mensch also, der die Ratio nicht
zur allumfassenden Ideologie erklärt - ist hingegen notwendig.
Ebenso verhält es sich mit dem Materialismus. Das war auch
immer mein Problem mit Marx, wobei ich eingestehen muss, dass ich
kein großer Marx-Kenner bin, aber ich weiß, was Materialismus
ist. Und meine Materialismus-Kritik zielt nicht nur auf den kapitalistischen
Materialismus ab, sondern auch auf den selbst zur Ideologie gewordenen
Dialektischen Materialismus. Meines Erachtens ist deswegen die schöne
Idee des Sozialismus gescheitert, weil sie die Transzendenz nicht
zugelassen hat. Die Sehnsucht des Menschen und das Wissen des Menschen
um das Mysterium ist aber zu groß, als dass man es ausschalten
könnte. Wenn man es unterdrückt, wird es sich heimlich
in einer Nische formieren. Du kannst nicht mit der Ratio den Menschen
ein Glück überstülpen, das sie eigentlich nur in
sich selbst erfahren können, und zwar ausschließlich
in den Momenten des Nicht-Wissens und des Nicht-Denkens. Das spricht
aber keineswegs gegen das Denken, um Gottes Willen, das Denken darf
uns nur nicht beherrschen, wir müssen es als Fahrzeug benützen.
gG: Darf ich da an dieser Stelle einhaken. Du hast eben
das Beispiel des Wissenschaftlers genannt, dessen große Entdeckungen
ausschließlich auf Intuition basieren. Was wäre die Intuition
aber ohne die Vorarbeit der Ratio, ohne die Vorbereitung durch -
zugegebenermaßen - oft mühsame Vernunftarbeit?
Wecker: Natürlich, keine Frage, das ganze Leben wird
auch durch Denken vorbereitet ...
gG: Noch ein Einwand. Stimmt es denn, dass der Sozialismus
gescheitert ist, weil er das Mysterium nicht zugelassen hat? Totengräber
des Sozialismus war doch nicht die Fixierung auf die Vernunft, sondern
es waren Kräfte - die Sozialdemokratie und der Stalinismus
-, die sich mit dem Irrationalen, dem Mystischen, mit Religion und
Kirche arrangiert haben. Stalin hat zum Beispiel ausdrücklich
an die russische Volksseele appelliert.
Wecker: Da kennst Du Dich sicher besser auf. Aber wenn ich
von Mysterium spreche, meine ich etwas anderes. Der Mystiker will
nichts undurchschaubar Mysteriöses, er will auch nicht die
Irrationalität. Er zieht das Ewige dem Vergänglichen vor,
das Nirvana dem Samsara, das Jenseits dem Diesseits. Nur dass eben
das Jenseits bereits im Diesseits erfahrbar ist, im Gegensatz zu
den theologischen Dogmen des Himmelreichs nach dem Tode. Im Tumult
des täglichen Lebens ist das Ewige zu erleben, denn Ewigkeit
bedeutet nicht einfach ein endloses Leben, sondern ist nicht in
der Zeit angesiedelt. Ewigkeit hat mit Zeit gar nichts zu tun, sie
ist außerhalb der Zeit. Die Griechen nannten das Kairos, im
Mittelalter hieß es das "Nu", das Jetzt. Der Mystiker
sucht in sich selbst die Antworten auf grundsätzliche Fragen,
die uns bei aller schönen Beschäftigung mit dem Verstande
ja doch nie in Frieden lassen: Was passiert, wenn ich sterbe? Wo
gehe ich hin? Wo komme ich her? Fragen, die, spätestens im
Fall einer Krise auf jeden einzelnen von uns zukommen. Der religiöse
Mystiker will die Antworten auf diese Fragen in sich erleben. Er
will letztlich nichts anderes, als dass Gott ihm antwortet. Aber
er will ihn nicht über einen Priester antworten lassen, oder
über eine Institution oder einen Vermittler. Er will ihn in
sich selbst entdecken. Er sucht die direkte Zwiesprache. Das geht
so weit, dass z. B. Meister Eckhard am Schluss sagt - und darum
liebe ich ihn - "Und drum bitte ich Gott, dass er mich seiner
quitt mache." Das heißt, er will, am Ende auch auf Gott
verzichten.
gG: Das klingt ja geradezu ketzerisch.
Wecker: Ja, das ist natürlich ketzerisch. Meister Eckhard
ist wahrscheinlich auch, so sagt man wenigsten, von der Inquisition
gemeuchelt worden, weil sie ihn nicht offen killen konnten.
gG: Gott wäre dann für Dich lediglich ein Vehikel,
ein Instrument zur Erlangung von Erkenntnis? So wie beispielsweise
Wittgenstein die Philosophie als Leiter beschrieb, die es nach Gebrauch
wegzuwerfen gelte?
Wecker: Ja, zur Erlangung einer Erkenntnis, die sich dann
doch sehr der des Buddhismus nähert, die also sehr mit der
Loslösung von Begrifflichkeit zu tun hat.
Wenn wir nach der Erfahrung des Faschismus in einen ganz starken
Rationalismus verfallen sind, weil wir alles Irrationale ablehnen
wollten, und auch die Kunst sich lange Zeit dem Irrationalismus
gar nicht mehr angenähert hat, so ist das völlig gerechtfertigt.
Weil Hitler und die Nazis genau diese Sehnsucht aufs Infamste ausgenützt
haben mit ihren Mysterien-Zeremonien, ihrem Blut-und-Boden-Kult
und alledem. Auch die Kirchen nützen diese Sehnsucht selbstverständlich
für ihre Zwecke aus.
gG: Befinden wir uns nicht derzeit in der großen Gefahr,
wieder in einen tiefen Irrationalismus zurückzufallen? Auch
wenn das von den Medien zum Teil sicher übertrieben wurde,
so ist es doch auffällig, in welcher Masse gerade auch junge
Menschen nach dem Tode Johannes Pauls II. bzw. der Inthronisierung
seines Nachfolgers, eines noch offenkundigeren Dogmatikers, nach
Rom gepilgert sind. Die Vernunft hat im Moment nicht gerade Hochkonjunktur.
Wecker: Das zeigt die Sehnsucht der Menschen und die Verblendung
derer, die diese Sehnsucht auf eine solche Weise ausnutzen. Viele
Kirchenmännern mögen ja durchaus ehrenwerte Motive haben,
oder sie glauben zumindest, sie hätten ganz ehrenwerte Motive.
Bei Wojtyla war ich immer hin- und hergerissen. Auf der einen Seite
war er nun einmal der Chef des ganzen Konzerns gewesen (lacht),
auf der anderen Seite hat er aber auch ein paar sehr erstaunliche
Dinge geschrieben aus seiner spirituellen Erfahrung heraus. Aber
das erlebt man ja immer wieder: Wenn sich der Mystiker nicht ganz
allein auf den Weg macht und auch alleine auf seinem Weg bleibt
- dann geht es regelmäßig in die Hose (lacht). Es kann
meines Erachtens auch keine mystische Kirche geben, daran glaube
ich nicht. Auf deren anderen Seite sollte man allerdings auch die
politische Macht des Papstes nicht überschätzen. Sie ist
vorhanden, das ist gar keine Frage, doch sie wird im Moment hochgespielt.
Während dessen sind nach wie vor die Kirchen leer, die Leute
treten aus. Wir haben nicht plötzlich ein Volk von religiösen
Kirchgängern.
gG: Bezeichnenderweise hat sich Joseph Ratzinger alias Benedikt
XVI. unmittelbar nach seiner Wahl bei den Medien für die wohlwollende
Propaganda - pardon: Berichterstattung bedankt.
Wecker: Allerdings. In den Tagen nach der Wahl habe ich
natürlich mein "Habemus Papam" wieder ausgepackt
und bei Konzerten zum Besten gegeben. Und da habe ich schon gemerkt:
das wurde schon einmal besser aufgenommen. ("Habemus Papam"
ist übrigens auf meiner Website www.wecker.de unter "Tagebuch"
nachzulesen)
gG: Sprechen wir einmal über den Künstler und die
Politik. Deutsche Künstler zumal Musiker gelten ja nicht gerade
als besonders politische Menschen. Abgesehen von SPD- bzw. regierungsnahen
Prominenten wie Marius Müller-Westernhagen oder Wolfgang Niedecken
melden sich Musiker hierzulande nur selten zu Wort. Du bist da eine
offenkundige Ausnahme. Du hast nicht nur massiv gegen die von den
USA angeführte Invasion im Irak, gegen die fortwährende
Besatzung des Landes sowie gegen die indirekte Unterstützung
dieser Politik durch die deutsche Bundesregierung protestiert. Du
hast Dich auch zugunsten der Obdachlosen engagiert, deren Projekt
Gnadenacker in München für die Bundesgartenschau geräumt
wurde.
Politik und Kunst - ist das für Dich ein Gegensatz? Oder ergibt
sich Dein politisches Engagement zwingend aus Deiner Identität
als Künstler?
Wecker: Nicht aus meiner Identität als Künstler,
aber aus meinem Dasein als Mensch ergibt es sich in der Tat zwingend.
Manchmal empfinde ich das durchaus auch als einen großen Gegensatz,
weil es mich innerlich zerreißt. Es ist einfach ein Problem
des Zeitmanagements: Schaffe ich das überhaupt zeitlich alles,
was ich mir vorgenommen habe? Im Prinzip halte ich es aber mit Oskar
Maria Graf, der in einem wunderbaren Vorwort zu seinem letzten Buch,
seinen Erinnerungen "Gelächter von außen" in
etwa geschrieben hat: der Dichter müsse ein engagierter Dichter
sei, denn wer außer ihm stehe schon auf der Seite der Unterdrückten,
auf der Seite der von der Gesellschaft Ausgegrenzten. Aber selbstverständlich
kenne ich auch die Sehnsucht, mich in einen Turm zurückzuziehen
und dort ausschließlich den schönen und den schöngeistigen
Dingen zu frönen (lacht). Ich schaffe es nur einfach nicht,
ich schaffe es nicht, ich lese dann wieder etwas in der Zeitung
und errege mich. Nehmen wir das von Dir angesprochene Beispiel Gnadenacker.
Das ist ja nur eine ganz kleine Geschichte, mein Gott, das passiert
wahrscheinlich hier in Deutschland jeden Tag irgendwo. Nur, wenn
man einmal selbst dort gewesen ist, wenn man gesehen hat, was diese
Menschen sich aufgebaut haben, dann kann man das nicht mehr einfach
ignorieren. Da haben sich 30 Obdachlose in Wohnwagen liebevoll eingerichtet
- ich wäre am liebsten selbst hingezogen. Die haben zum Beispiel
auch ihr Drogenproblem selbst verwaltet, versucht, es in den Griff
zu bekommen. Das heißt, es herrscht Drogenverbot, auch an
Alkohol gibt es nur ein so genanntes Arbeitsbier, das ihnen zusteht,
wenn sie wirklich etwas geleistet haben. In einem Wohnwagen haben
sie sogar ein eigenes Rathaus eingerichtet. Und genau dieses fast
schon anarchische Streben nach Unabhängigkeit ist der Grund,
warum man sie nicht mochte. Was der Staat nun mit ihnen macht, kostet
ihn weit mehr Geld. Man ist der Meinung, es gehe nicht an, dass
sozial Geschädigte ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen,
ihre eigenen Probleme und ihre eigene Therapie selbst regeln und
ihre eigene Gesellschaft aufbauen. Nein, dass muss von oben geregelt
werden. Und jetzt will man sie in irgendwelche Wohnheime stecken,
wo sie natürlich nicht hinwollen. Kein Obdachloser will ins
Wohnheim, wenn er jemals schön in Wohnwagen leben konnte. Und
es kostet viel mehr Geld, 1.000 Euro pro Person im Monat.
gG: Meinst Du den Staat treibt die Furcht vor dem, was sich
daraus entwickeln könnte, wenn Menschen anfangen, sich unabhängig
von etablierten Strukturen zu organisieren?
Wecker: Das ist die Angst der Gesellschaft vor der Unabhängigkeit
und Selbstbestimmtheit der Bürger. Die Gesellschaft will so
etwas nicht zulassen, und vor allem eine neoliberale Gesellschaft
wie unsere. Das ist auch eine Art Symbol. Die Bundesgartenschau
muss sauber sein. Es gab ja sogar Architekten, die daran dachten,
diesen kleinen Gnadenacker mit in die Buga einzuplanen. Das wäre
doch ein wunderbares Symbol für die Welt gewesen, wenn man
demonstriert hätte: "Schaut mal, wir sind wirklich die
Weltstadt mit Herz." So hätte man es ja auch machen können.
In den 70er Jahren wäre das vielleicht noch möglich gewesen.
Da hätte die Presse auch in ganz anderer Weise darüber
berichtet als heute, wo sich die Medien für so etwa kaum noch
interessieren. Menschen wie diese Obdachlosen haben keinen Anwalt
mehr.
gG: Herbert Marcuse sprach seinerzeit von der "repressiven
Toleranz", mit der sich die spätkapitalistische Gesellschaft
alles originär Widerständische, Rebellische oder auch
nur Nichtkonforme einverleibt und seines Sprengstoffs beraubt. Kann
man angesichts der aktuellen antidemokratischen Entwicklung - ich
nenne hier nur die nach dem 11. September in aller Eile erlassenen
so genannten Antiterrorgesetze - noch von Toleranz sprechen? Oder
sind hier nicht schon totalitäre Tendenzen erkennbar?
Wecker: Ja, sicher. Das neoliberale Konzept ist ein totalitäres
Konzept. Ich habe schon vor ein paar Jahren gesagt, als man mich
wegen meines Engagements gegen den Irak-Krieg so angegriffen hat:
Es ist nicht überall Demokratie drin, wo Demokratie drauf steht.
Nun ist das im Falle des Irak heute offensichtlich. In den USA ist
der antidemokratische Prozess schon sehr weit fortgeschritten und
man muss sich fragen, was das noch mit Demokratie zu tun hat. Aber
es wird eben noch als solche etikettiert. Man kann sich nicht zurücklehnen
und sagen: Wir haben doch eine Demokratie, das kann uns nichts passieren.
Was ist das denn für eine Demokratie, wenn man nur noch die
Wahl zwischen zwei Parteien hatte, die sich wie ein Ei dem anderen
ähneln, die dritte ist marginal und spielt keine Rolle, weil
sie nicht finanziert wird. Das hat mit Demokratie meines Erachtens
nur noch wenig zu tun.
gG: Und wo das Foltern von "Staatsfeinden" offensichtlich
wieder zur Normalität wird.
Wecker: Folter wird mehr und mehr zur Normalität - erschreckend.
Doch dann gibt es immer wieder so erstaunliche Abweichungen, wie
etwa das plötzliche Urteil eines Bundesgerichts, das die Regierung
anscheinend punktuell korrigiert. Das sind Kleinigkeiten, die dazu
führen, dass man sich sagt: Es ist also doch noch ein bisschen
anders als in einem absolut totalitären System. Die Presse
muckt dann auch erstaunlicherweise auch immer mal wieder auf, was
mich einerseits richtig wundert, aber auch erfreut. Aber dass Leute
einfach weggesperrt werden können, ohne die Chance auf einen
Anwalt zu haben, alles im Rahmen der Terrorismusgesetze, die mit
dem Patriot Act in den USA eingeleitet wurden, das ist schon in
höchstem Maße erschreckend. Mein Freund Hakim, der in
meiner Band die Percussion spielt, ein Afghane, war vor einem halben
Jahr in Amerika auf Tournee. Nach seiner Rückkehr erzählte
er, dass er im ganzen Land ausschließlich als Mohammed bezeichnet
wurde. Er sagte, ich heiße Hakim. Doch überall, wo er
auch war, an der Grenze, bei staatlich-öffentlichen Stellen,
nicht bei den Leuten, wurde er nur Mohammed genannt. Er hieß
Mohammed. Punkt. Er konnte sagen, was er wollte.
gG: Das Feindbild scheint also zu greifen. Wie weit sind
wir denn hier in Deutschland noch von amerikanischen Verhältnissen
entfernt?
Wecker: Meines Erachtens haben wir es im Moment mit einer
konservativen Revolution zu tun. Die haben es komischerweise geschafft,
eine Revolution zu machen (lacht sarkastisch). Andererseits ist
es immer wieder interessant zu sehen, welches Trauma selbst für
jüngere Konservative - für die alten, die es erlebt haben
ohnehin - das Jahr 1968 ist. Die haben eine solche Angst vor dieser
rebellischen Zeit, dass sie öffentlich als Kapitalisten oder
als Gierhälse gebrandmarkt werden könnten. Das bedeutet
doch: Wir lagen damals im Prinzip schon richtig.
gG: Abgesehen von wenigen Ausnahmen wie etwa dem "Scheibenwischer"
finden Deine Lieder und Texte in Radio und Fernsehen so gut wie
nicht mehr statt. Woran glaubt Du, liegt das? Bestraft man Dich
damit möglicherweise für Dein politisches Engagement?
Oder liegt Deine Musik so quer zum Zeitgeist, dass die Musikredakteure
gar nicht erst auf die Idee kommen, sie zu spielen?
Wecker: Ich werde ja auch zum Scheibenwischer nicht mehr
eingeladen. Natürlich würde ich mich freuen, wenn ich
gelegentlich im Radio zu hören wäre. Früher lief
ja ab und zu ein Lied von mir in einer Sendung, die die Hausfrau
beim Bügeln störte. Da gab es doch den arroganten Spruch:
Wir machen Sendungen, die die Hausfrau beim Bügeln nicht stören
dürfen - das gilt bis heute. Und dann fühlten sich diese
Hörerinnen eben gestört, weil so ein Lied wenigstens ab
und zu mal zwischenrein kam, und das hat zum Teil, was ich aus Briefen
erlesen kann, ihr Leben verändert. Die haben da zum ersten
Mal gemerkt, dass es etwas ganz anderes gibt, und dass das einem
das auch etwas bedeuten kann. Es ist schon so, dass ich in bestimmten
Medienkreisen für mein politisches Engagement - nicht bestraft,
das ist vielleicht zu moralisch, aber geächtet und verlacht
werde (lacht). Das ist schon traurig. Ich habe das deutlich gemerkt
nach meiner Reise in den Irak. Da war ich in bestimmten Kreisen
unten durch.
gG: Wie haben denn andere Künstler auf Deinen Einsatz
reagiert?
Wecker: Dazu kann ich wenig sagen, ich stecke nicht in denen
drin. Aber ich weiß noch, wie ich mich damals für die
Grünen, bei der grünen Raupe, als Petra Kelly noch lebte,
engagiert habe. Ich war unglaublich im Geschäft damals, ich
war der Liebling aller. Es war ja auch eine Zeit, wo man links sein
durfte und zugleich Liebling sein konnte. Dann habe ich mich für
die Grünen engagiert, für eine Splitterpartei. Bei der
grünen Raupe ging es damals darum, dass die Partei bei den
Wahlen über die 5-Prozent-Hürde - auch so seine undemokratische
Regelung - kommt. Da passierte es von einem Tag auf den anderen,
dass ich plötzlich und dann gleich für Jahre aus bestimmten
Sendungen raus war und im Rundfunk insgesamt viel weniger gespielt
wurde. Ich habe ganz deutlich gemerkt: Ich war Persona non grata,
weil ich eine nicht etablierte Partei öffentlich unterstützt
habe. Heute ist das selbstverständlich völlig anders,
aber damals, als sie noch authentische, zum Teil radikaldemokratische
Forderungen erhoben, wollte man die Grünen draußen haben.
Da waren sie so geächtet oder wurden einfach lächerlich
gemacht, wie heute die die WASG oder die PDS, die werden von der
Presse ja regelrecht kleingeschrieben. Abgesehen von "Freitag"
und "junge Welt", zwei marginalen Zeitungen, gibt es ja
so gut wie kein Blatt, das auch nur halbwegs objektiv über
die WASG berichtet. Davon nehme ich auch den berühmten "Spiegel"
nicht aus. Der war noch nie ein linkes Blatt, noch nicht einmal
im Zweifelsfall. Das hat man fälschlicherweise immer nur gemeint.
Die einzige Chance, diese Mediengleichschaltung aufzuweichen, ist,
wenn die Medien spüren, wie jetzt im Falle Müntefering,
dass eine Mehrheit der Bevölkerung und demnach auch die eigenen
Käufer und Leser nicht die veröffentlichte Meinung teilen.
Das ist ein echtes Argument.
gG: Trotz allem kommen die Menschen nach wie vor in Deine
Konzerte. Wie sieht Dein Publikum denn heute aus?
Wecker: Es gibt nach wie vor ein Publikum für meine
Musik. Ich merke das auch immer wieder, wenn neue Leute zu meinen
Konzerten kommen, die bis dahin nichts von mir gehört haben,
dass sie sich von den Liedern und der Musik packen lassen. Also,
es gibt schon ein Potenzial, auch bei der Jugend. Es ist gar nicht
so, dass die Jugend nichts mit meiner Musik zu tun haben wollte,
weil ich z. B. keinen Hip-Hop mache. Die sind durchaus auch für
diese Art von Melodien und Texten zu gewinnen. Sie müssen Sie
nur irgendwo finden.
gG: Und wie finden Jugendliche zu Deiner Musik, wenn nicht
über die Medien?
Wecker: Durch Lehrer, durch die Eltern, und manchmal sogar
durch eigene Kreise, was mich natürlich wahnsinnig freut, gerade
bei den Jugendlichen, die sich nicht mit der Masse "der Jugend"
identifizieren wollen. Die gibt es natürlich heute wie damals,
und das freut mich. Neulich habe ich beispielsweise in Österreich
ein Pärchen aus der alternativen Dichterszene kennengelernt.
Die haben ihre ganz eigenen Kreise und scheren sich einen Dreck
um das, was im Rundfunk gespielt wird. Die suchen sich ihre CDs
auf anderen Wegen. Ich würde gerne einmal mit einer Konzerttournee
gezielt solche Kreise ansprechen, das heißt gezielt Jugendliche
ansprechen. Die haben auch Berührungsängste gegenüber
bestimmten Sälen. Da wollen sie nicht hin, weil da in der Regel
nur die Etablierten, Bürgerlichen hingehen. Aber natürlich
gibt es da auch eine finanzielle Hemmschwelle.
gG: Hast Du denn Kontakt zu jungen Musikern, Bands etc?
Wecker: Ich bin in Kontakt mit jungen Liedermachern. Einer
wird demnächst in Trier bei mir im Vorprogramm spielen. Ich
bekomme immer wieder Demo-Aufnahmen auch von jungen Musikern zugesandt,
darunter ist manches Gute, obwohl nicht unbedingt politisch. Sicher
gibt es auch interessante politische Texte, doch das ist eher die
Minderheit.
gG: Anlässlich der Proteste gegen die sogenannten 41.
Münchner Sicherheitskonferenz im Februar diese Jahres hast
Du beklagt, nach dem Abklingen der Proteste gegen den Irak-Krieg
käme man sich heute als Kriegsgegner wieder wie ein "Außenseiter"
vor. Spürst Du das auch auf Deinen Konzerten?
Wecker: Nein, auf den Konzerten nicht.
gG: Und wie bewertest Du die Drohungen der USA in Richtung
Iran und Syrien? Werden Sie hierzulande, etwa von Friedens- bzw.
Antikriegsgruppen zu wenig ernst genommen? Wie ich gestern gelesen
habe, haben die USA gerade Israel spezielle bunkerbrechende Bomben
geliefert.
Wecker: Das wird zu wenig ernst genommen. Ich halte das
für ausgesprochen dramatisch. Ich bin überzeugt davon,
dass die Bush-Regierung Iran mit auf der Agenda hat. Und dann wird
wohl das Gleiche wie im Falle des Irak passieren. Erst wenn es wirklich
akut wird, wird sich hier die Friedensbewegung wieder zu Wort melden
- und wahrscheinlich wird das wieder ein bisschen zu spät sein.
Man bekommt zur Zeit niemanden gegen den Krieg auf die Straße.
Da muss wohl erst wieder etwas passieren, wie überall heutzutage,
wie auch beim Ableben des Papstes. Eine Sache muss zum Event werden
- dann erst ist den Leuten ein Engagement zu entlocken.
gG: Woran liegt das?
Wecker: Es liegt an einer allgemeinen Verblödung, die
in den letzten dreißig Jahren in unserer auf den Konsum fixierten
Gesellschaft stattgefunden hat. Die einzige Chance bestünde
in der Verweigerung. Darum ist mir auch mein Aufruf zur Stille so
wichtig. Stille hat etwas mit Verweigerung zu tun. Wenn ich mich
für die Stille entscheide, wenigstens für einen Teil meines
Lebens, so verzichte ich damit auf bestimmte Verblödungseffekte,
die etwa durch die Medien und durch die ganze Unterhaltungsindustrie
auf mich eindringen. Der Großteil der Leute schaltet einfach
nur den Fernseher ein, lässt sich vom Geschwätz der Politiker
und vom Geschrei der Werbung in die Irre führen. In gewisser
Weise fühlen wir uns alle von den Plakaten belästigt,
die uns von jeder Straßenwand entgegenstarren. Doch wir nehmen
ihren Inhalt trotzdem auf. Es braucht schon eine starke Widerstandskraft,
um sich gegen diese Dauerberieselung zu wehren. Wie kann man das
von einem 17-jährigen erwarten?
gG: Kann Kunst dazu beitragen, diese Widerstandskraft zu
stärken?
Wecker: Ja, natürlich könnte sie das - aber mit
welcher Verbreitung?
gG: Also das alte Problem: Wie stellt man eine Gegenöffentlichkeit
her?
Wecker: Ja, nur mit dem Unterschied, dass das Problem früher
leichter zu lösen war als heute.
gG: Sieht Du Ansatzpunkte hierfür?
Wecker: Das Internet, unabhängige Radios. Es gibt ja
auch eine Welt jenseits der Medien. Die erlebt man immer wieder,
wenn man sich im erweiterten Freundeskreis bewegt. Wir müssen
es schaffen, dass wir uns mehr vernetzten und uns gegenseitig aktivieren.
gG: Du hattest vor einiger Zeit die Idee einer Pazifismuskonferenz
angesprochen. Ist das eine Sache, die Du nach wie vor verfolgst
und von der Du Dir auch eine gewisse Breitenwirkung erwartest?
Wecker: Ich hatte schon ein erstes Treffen mit verschiedenen
Wissenschaftlern. Wir haben uns natürlich gefragt: Worin unterscheidet
sich das denn von einem Friedenskongress? Mir geht es bei diesem
Kongress ausschließlich um die Rettung, Neugestaltung und
-erfindung des Begriffs Pazifismus. Es ist nicht einfach nur ein
Kongreß über Frieden, da gibt es viele und auch gute.
Ich möchte wissen und ich möchte erfahren von Wissenschaftlern,
Historikern, Psychologen und von Künstlern, von praktizierenden,
bekennenden Pazifisten, wie wir dieses Wort in dieses neue Jahrtausend
oder - seien wir einmal bescheiden - in dieses neue Jahrhundert
hinüberretten und wie wir es vor allem wieder mit Inhalt füllen
können. Dazu müssen wir es beispielsweise von dem Weichei-Image
befreien, das ihm fälschlicherweise anhaftet: Das ist Blödsinn,
denn Pazifisten sind keine Weicheier, Pazifismus ist eine radikale
und auch eine kämpferische Haltung gegen den Krieg und für
eine friedlichere Welt.
Ich stehe zu der Idee des Pazifismus auch deshalb, weil das Wort
Frieden von allen verwendet wird. Waffenhändler geben vor,
ihre Waffen zu verkaufen, um die Welt zu befrieden, Kriegsherren
ziehen in den Krieg mit der Parole des Friedens für die Welt
auf ihrem Panier, "Frieden" ist ein Wischiwaschi-Begriff
geworden. Beim Pazifismus ist klargestellt, dass er auf keinen Fall
durch Kriege Frieden schaffen will.
gG: Nun haben sich in der Vergangenheit viele erklärte
Pazifisten und bedingungslose Kriegsgegner unter veränderten
Bedingungen immer wieder in genauso bedingungslose Bellizisten verwandelt.
Nehmen wir nur die Grünen, die beim Kosovo-Krieg zu ausgesprochenen
Kriegstreibern wurden.
Wecker: Das ist in der Tat ein hervorragendes Beispiel, ganz
ohne Frage. In meinen Augen waren diese Leute, etwa Joschka Fischer,
nie wirkliche Pazifisten, auch wenn sie sich als solche ausgegeben
haben. Aber das sind alles Gründe, einen solchen Kongress durchzuführen.
Wie lebt man Pazifismus? Wie weit kann und muss diese Haltung gehen
- auch psychologisch? Muss ich Dir wirklich auch die rechte Wange
noch hinhalten, wenn Du mir auf die linke eine drauf gibst? Das
möchte ich alles erfahren. Ich möchte erfahren, wie gehen
wir um mit den Gräueln im Sudan. Ich bin mir darüber im
Klaren, wie hoffentlich jeder Pazifist, dass wir die Welt unmöglich
von heute auf morgen von Waffen und vom Militär befreien können.
Und selbstverständlich müssen wir auch die wirtschaftlichen
und politischen Interessen und Rahmenbedingungen analysieren, die
Kriege überhaupt erst möglich machen. Bert Brecht hat
einmal gesagt. Solange noch ein Mensch Geld verdient am Krieg, wird
es Krieg geben. Das ist ein sehr pragmatischer, klarer, guter Satz.
Hier müssen wir ansetzen: Lässt sich eine Welt schaffen,
in der ausschließlich mit friedlichen Projekten Geld verdient
wird? Oder noch besser: eine Welt, in der das Geld verdienen nicht
an erster Stelle steht?
Interview: A. B.
© www.globale-gleicheit.de 2005
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