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Dokumentarfilm
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Dokumentarfilme - Vom Dokument zum Essay

Am Anfang steht das Dokument. Ein historischer Augenblick, eine Alltagsaufnahme, ein Landschaftsbild oder ein Gespräch. Im Gegensatz zu einer Inszenierung im Theater oder im Spielfilm soll das Dokument ein möglichst authentisches Abbild der Wirklichkeit sein.

Dass diese Authentizität einen unerreichbaren Idealfall darstellt, war den meisten Filmemachern bereits frühzeitig klar. Die Diskussion darüber, ob ein Dokument die Wirklichkeit adäquat abbilden kann oder gar soll, füllt Bände. Aber es ist unmittelbar verständlich, dass z.B. ein Bosnier andere Dokumente von Bosnien-Herzegovina aufnehmen und auswerten würde als ein Franzose - ganz egal, wie objektiv beide sein möchten.

Dokumente & Dokumentarfilme

Ebenso leuchtet ein, dass ein Dokument alleine noch keinen eigenständigen Dokumentarfilm ergibt. Aus diesem Grunde zählen Dokumente und ihre nicht inhaltlich motivierte Aneinanderreihung (Wochenschauen, Nachrichten o.a.) gemeinhin nicht zu den Dokumentarfilmen.

Zu diesen mehr oder weniger sinn- und lieblos aneinandergereihten Dokumenten zählen auch viele andere nicht-fiktive Filme: Tierfilme, in denen Heinz Sielmann an irgendwelchen Wuscheltieren herumfummelt oder die in den sechziger Jahren weitverbreiteten Reisefilme (TRAUMSTRASSEN DER WELT, FLYING CLIPPER etc.), die den wiederaufbauenden Deutschen an exotischere Schauplätze als das Deutsche Eck entführen sollten. Obwohl gerade diese klischeehaften Postkartenfilme als 'Dokumentarfilme' firmierten, tendiert ihr Wirklichkeitsbezug gegen Null.

Die neckische postmoderne Variante der Reise- und Fluchtfilme in eine bessere Welt sind die diffus-esoterischen Naturfilme à la KOYANISQATSI (1984) oder BARAKA (1992), die in elegischen Dokumenten die urtümliche Natur preisen und uns mit dem Holzhammer suggerieren, dass im Getümmel der Großstädte doch irgendetwas verloren gegangen sein muss.

Ebenfalls nicht-fiktiv aber ebenfalls kein Dokumentarfilm im eigentlichen Sinne ist der Lehrfilm. Diese Art von schulischem Zeitvertreib hat wesentlich dazu beigetragen, dass der Dokumentarfilm ganz allgemein als belehrend, dröge, statisch und altmodisch gilt. Interessant ist übrigens, dass diese Meisterwerke an Sachlichkeit wie z.B. SCHAFSCHEREN IN WESTAUSTRALIEN, DIE SEGNUNGEN DER PETROCHEMIE oder DAS BEWEGENDE LEBEN DES MENDELEJEW beinahe ausschließlich im Kinder- und Jugendprogramm der Fernsehanstalten landen, sei es in der SENDUNG MIT DER MAUS, sei es im TELEKOLLEG CHEMIE. Dass der belehrende und informative Aspekt von Dokumentarfilmen bei weitem nicht der einzige und vor allem nicht der dominierende ist, verliert man beim Älterwerden leicht aus den Augen.

Eine finale Steigerung des Lehrfilms stellt dann der Industriefilm dar, der letztlich nichts anderes ist als ein auf Pseudoobjektivität getrimmter Werbefilm. Da so ziemlich jeder in seinem Leben einem Lehr- oder Industriefilm beiwohnen musste, aber nur wenige einen 'echten' Dokumentarfilm gesehen haben, verwundert es nicht, wenn viele ablehnend reagieren, wenn von Dokumentarfilmen die Rede ist.

Der beschreibende Dokumentarfilm

Im Gegensatz zum Postkarten-Reisefilm setzt sich der ethnographische Film das Ziel, das Leben 'fremder' Kulturen durch teilnehmende Beobachtung und unter Einbeziehen der Betroffenen möglichst objektiv zu dokumentieren. Dass dies ein frommer Wunsch ist, insbesondere wenn ein Europäer mit seiner Erziehung und seinem Hintergrund eine 'fremde Kultur' abbildet, soll hier nicht weiter ausgeführt werden.

Aber immerhin, der ethnographische Film ist ein eigenständiger Dokumentarfilm, nicht mehr nur ein Dokument. Diese vielleicht spitzfindig erscheinende Unterscheidung wurde bereits 1923 von Dsiga Wertow in einer Theorie dokumentarischer Filmpraxis erläutert:

"Bis auf den heutigen Tag haben wir die Kamera vergewaltigt und sie gezwungen, die Arbeit unseres Auges zu kopieren. Und je besser die Kopie war, desto höher wurde die Aufnahme bewertet. Von heute an werden wir die Kamera befreien und werden sie in entgegengesetzter Richtung, weit entfernt vom Kopieren, arbeiten lassen. Alle Schwächen des menschlichen Auges an den Tag bringen!"

Die Wirklichkeit wird also nicht - wie im einfachen Dokument - durch eine simple Abbildung dargestellt, sondern zerlegt und analysiert. Das Auge schaut nicht nur, der Kopf verarbeitet die Bilder auch. Oder wie es die Theoretiker des britischen DOCUMENTARY MOVEMENT formuliert haben:

"We have to interpret creatively and in social terms the life of the people as it exists in reality."

Die 'Kreativität' der FilmemacherIn besteht in der Verwendung von filmischen Mitteln wie Montage, Bildkomposition, Auslassungen, Dramatisierung oder Gliederung. Dadurch erhält der Film ein Eigenleben und wirkt über seine Information hinaus durch einen dramatischen Zusammenhang auf die Zuschauer. Die 'Realität' ergibt sich daraus, dass der beschreibende Dokumentarfilm seinen 'Objekten' ein Forum gibt, sie vertritt und zu Wort kommen lässt. Diese Art von Dokumentarfilmen, die immer noch im wesentlichen Dokumente verwendet, diese aber inhaltlich und dramaturgisch anordnet, kann man beschreibende Dokumentarfilme nennen.

Ein Beispiel für diese Art von Filmen wäre NANOOK OF THE NORTH, einer der ersten beschreibenden Dokumentarfilme und der erste ethnographische Film. Regisseur Flaherty hat nicht wahllos schöne Aufnahmen von Eskimos aneinandergereiht, sondern seine Szenen vielmehr dramaturgisch montiert, ja den Eskimo Nanook nahezu zum Hauptdarsteller seines Filmes gemacht. Die Beschäftigung mit dem 'Dokument' seines Films und das Einbeziehen der eigenen und der abgefilmten Personen macht aus der Ansammlung von Dokumenten einen Dokumentarfilm. Auf der anderen Seite macht der dramaturgische Aufbau gerade diesen Film - aber auch viele andere beschreibende Dokumentarfilme - immer mehr zu einem Spielfilm. In einen guten beschreibenden Dokumentarfilm werden die ZuschauerInnen genauso ihre Hoffnungen, Träume und Gedanken projizieren, wie sie dies bei einem Spielfilm tun - der ungeheure Erfolg von NANOOK bei Presse und Publikum und die Art und Weise, wie der Film aufgenommen wurde, belegen dies. Dass der 'Held' des Films in seiner fotogenen exotischen Wirklichkeit erfroren ist, hat an dieser Wirkung nichts geändert.

Der beschreibende Dokumentarfilm ist aber keinesfalls auf die Vergangenheit beschränkt. Noch heute gibt es viele und auch gute Dokumentarfilme, die nichts anderes tun, als ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Entwicklung zu dokumentieren.

Der Niedergang der osteuropäischen Gerontokratien und speziell für die BRD die Wiedervereinigung hat eine ganze Reihe von Dokumentarfilmen initiiert, welche ohne essay- oder collagenhaft zu werden (zu diesen Begriffen später mehr) die Ereignisse ihrer Zeit bündeln und die Stimmungen wiedergeben (LEIPZIG IM HERBST oder DRESDEN, OKTOBER 1989 u.v.a.).

Im Gegensatz zu Frankreich und auch Westdeutschland hat der eher assoziativ-künstlerische Essay in der DDR, sprich bei der DEFA, keine Tradition gehabt. Insofern verwundert es nicht, wenn der geradlinige schnörkellose deskriptive Dokumentarfilm auch heute noch von vielen Filmemachern im Osten Deutschlands bevorzugt wird.

Der Agitpropfilm

Am Anfang dieses Textes wurde dargelegt, dass ein Dokumentarfilm die 'Realität' kaum objektiv abbilden kann, sondern sie letztlich kreativ und in ihren sozialen und kulturellen Zusammenhängen intepretiert.

Diese Erkenntnis wurde sehr bald in die Forderung umgesetzt, dass ein Dokumentarfilm, ja überhaupt jeder Film, eine Politisierung des gesellschaftlichen Bewusstseins zum Ziel haben sollte. In den zwanziger Jahren lehnten viele Filmemacher den damals inhaltlich und formal an den Bedürfnissen der bürgerlichen Hochkultur orientierten Spielfilm ab. Die Aufgaben des Mediums Film seien weder Kunst noch Unterhaltung, sondern Propaganda. Auf den Dokumentarfilm bezogen: Ein Film ist nicht nur Information und Beschreibung, sondern auch die Erzeugung einer neuen Wirklichkeit.

Wenngleich viele dieser Illusionen heute nur noch im Poesiealbum der Weltrevolution stehen und sich die proletarischen Massen eher für Sportübertragungen als für ihre soziale Wirklichkeit interessieren, der Agitprop- oder Propagandafilm ist ein fester Bestandteil der Filmkultur vieler Länder geworden. Und dies nicht (nur) im negativ-manipulativen Sinne wie es das Wort 'Propaganda' suggeriert, sondern eher im Sinn einer politisch motivierten (Gegen-)Aufklärung.

Vom beschreibenden Dokumentarfilm unterscheidet sich der Agitpropfilm durch seine eindeutige Absicht, die Zuschauer aufzuklären oder vom eigenen Standpunkt zu überzeugen. Diese Absicht ist von Anfang an zu erkennen und ein guter Agitpropfilm ist damit allemal ehrlicher als ein seriös verpackter, vorgeblich objektiver Dokumentarfilm, der seinen Standpunkt verleugnet. Wesentliches Stilmittel des Propagandafilms - und gutes Unterscheidungskriterium gegen den beobachtenden Dokumentarfilm - ist die pointierte Montage der Dokumente (analog zur 'Montage der Attraktionen' im Spielfilm), die z.B. darin bestehen kann, dass zwei vollkommen gegensätzliche Dokumente so gegeneinander gestellt werden, dass die Aussage des Films offensichtlich wird. Der gesprochene Kommentar in Agitpropfilmen stellt meist eine deutlich gefärbte Meinungsäusserung dar (eine Analogie wäre die Unterscheidung Nachricht - Kommentar, die Zeitungsredaktionen zu treffen können glauben).

Vom Essayfilm hingegen unterscheidet sich der Agitproptilm dadurch, dass er immer noch mit 'konventionellen Dokumenten' arbeitet (Nachrichtenbilder, Interviews, historische Dokumente, Alltagsszenen etc.) und diese nicht assoziativ verschlüsselt montiert, sondern einer klar verständlichen, inhaltlich motivierten Dramaturgie folgt.

Der Film PAUL JACOBSs UND DIE ATOMBANDE von Saul Landau z.B. ist in dem Sinne ein Propagandafilm, dass er Gegenpropaganda ist gegen eine angeblich neutrale und staatstragende 'Wahrheit', die von (staatlichen) Medien und verschiedenen Interessengruppen beeinflusst, wenn nicht sogar definiert wird. Gerade die Problematik der Nutzung der Kernspaltung, die auch in diesem Film das Thema liefert, ist ein Paradebeispiel für permanent verfälschte Staats- und Industriepropaganda, die zu einem ganzen Wust an Filmen geführt hat, in denen nett argumentierend oder deutlich polemisierend Gegenpropaganda - oder je nach Standpunkt: (Gegen)Aufklärung - betrieben wird.

Im Zuge der vielfältigen Bürgerrechts- und Emanzipationsbewegungen sind schliesslich in den letzten zwanzig Jahren gerade auch in Deutschland eine Unmenge von Agitpropfilmen entstanden, die sich direkt an die entsprechende 'Bewegung' richten, zentrale Ereignisse dokumentieren und zu Aktionen, Protest o.a. aufrufen. Diese Bewegungsfilme, teilweise faszinierende Zeitdokumente mit politischem Anspruch, teilweise alternative Familienvideos mit Betroffenheitsappell, gab es zu jeder besseren Sitzblockade, jeder Räumung von Jugendzentren und zu vielen Bauplatzbesetzungen. Diese Filme haben in summa übrigens eine ganze Menge Menschen erreicht und den Verleih sowie die Produktion von Dokumentarfilmen kurzfristig boomen lassen. Offenbar waren diese Filme aber in ihrer Mehrzahl nicht gut genug, um dauerhaft ein grösseres Publikum halten zu können. Auch der politisch aufgeklärte Zeitgenosse scheut offenbar das Risiko 'Dokumentarfilm' und hängt seinen Gedanken lieber in neuseeländischen Klavierfilmen nach.

Auch OKTOBER von S. Eisenstein, der monumentale Film zur gleichnamigen Revolution, gilt vielen heute als Propagandafilm - obwohl er mit Schauspielern teilweise in Kulissen inszeniert wurde. Letztlich ist es ja auch egal, ob Matrosen den Winterpalast stürmen oder Schauspieler in Matrosenkostümen, das Ziel des Filmes bleibt das Gleiche: Preisen der Notwendigkeit und der Errungenschaften der russischen Revolution. Dieser Spielfilm wollte authentische Bilder liefern, Geschichte nachstellen, und noch heute werden die Bilder aus diesem Film in vielen ernsthaften Publikationen zur Geschichte der Oktoberrevolution (unwissentlich) als 'Dokumente' verwendet.

Ein Propagandafilm im Wortsinne dagegen ist DER EWIGE JUDE. Gerade dieser Film wurde jedoch im Dritten Reich als 'authentische Dokumentation' über das Judentum angekündigt. Dies sollte bei den durch permanente Propaganda orientierungslos gewordenen Zuschauern besondere Seriosität suggerieren. Einmal abgesehen davon, dass viele der angeblichen 'Dokumente' gestellt waren, ist der Film durch Auswahl und Zusammenstellung dieser Bilder nichts anderes als eine propagandistische Bebilderung der deutschen Rassenideologie.

Der Essayfilm

Es gibt eine grosse Anzahl von Dokumentarfilmen, die eine Fortentwicklung des rein abbildenden Dokuments und der analysierenden Beschreibung darstellen. Diese Filme wollen nicht die Wirklichkeit abbilden, sondern Bilder im Kopf der Zuschauerin entstehen lassen. Bilder wecken Gefühle und Assoziationen, die mit dem abgefilmten Sujet unmittelbar nichts mehr zu tun haben müssen.

Ein Essayfilm hat zwar meistens ein Thema und verwendet manchmal 'konventionelle' Dokumente (Filmausschnitte, Gesprächsfetzen, Landschaftsaufnahmen, Fotografien o.a.), aber er hat nicht mehr den themenorientierten Duktus eines Faktenfilms oder einer Beschreibung.

Ein Essayfilm ist subjektiv und möchte Gedanken und Gefühle visualisieren. Das Dokument wird dabei den Gedanken der Autorin untergeordnet. Viele formale Merkmale, die viele Dokumentarfilme auf den ersten Blick erkennbar machen, fehlen oder fallen nicht ins Gewicht: statische, realistisch wirkende Aufnahmen, ordnender Kommentar, lineare Abfolge zusammenhängender Dokumente. Charakteristisch für den Essayfilm ist neben der eher assoziativen Verarbeitung von Thema oder Idee ein hohes Mass an Ästhetik und Formenbewusstsein.

Als Beispiel mag hier STEP ACROSS THE BORDER von Mumbert/Penzel dienen. Das 'Objekt' des Films, der britische Musiker Fred Frith, wird dem Publikum nicht nahegebracht über informative biographische Details aus seiner Kindergartenzeit, sondern über seine Musik und seine Körpersprache. Die Musik wiederum wird nicht einfach abgespielt, sondern bebildert. Collagenhaft reiht der Film lange Kamerafahrten, experimentelle Stadtansichten und Statements aneinander und unterlegt diese Bilder mit einer Musik, die die vielfältigen Eindrücke noch weiter verschwimmen lässt. Vieles wird stilisiert und in Szene gesetzt wie in einem Spielfilm. Humbert und Penzel zeigen nicht die 'Wirklichkeit', sondern ihre Gedanken, die sie haben, wenn diese Wirklichkeit auf sie wirkt. Dies macht - wie bereits gesagt - im Prinzip jeder Dokumentarfilm, aber im Essayfilm ist dieser Prozess inhaltlich und formal zu Ende gebracht.

Man kann im Moment den Eindruck gewinnen, dass der eher linear aufgebaute und wenig verfremdete beschreibende Dokumentarfilm etwas aus der Mode gekommen ist und die meisten neueren Kino-Dokumentarfilme essayistischen Charakter haben oder mit den formalen Mitteln des Spielfilms arbeiten. Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Essayfilm eine Erfindung der 'Neuzeit' ist. Schon Dsiga Wertow ordnet seine Bilder einer These oder einem Kommentar unter. Im Prinzip handelt es sich dabei um Essay-Filme, die Tatsache, dass die Dokumente ihren eigenständigen Charakter verlieren und nur Versatzstücke eines größeren Gedankens sind, hat zur Bezeichnung synthetischer Film geführt. Solche Filme kommen zwar ohne Schauspieler und ohne gestellte Szenen aus, sind also keine Spielfilme, aber sie sind mindestens genauso weit von einer Abbildung der Wirklichkeit entfernt wie diese.

Historische Marksteine dieses synthetischen Films waren KINOGLAS von Dsiga Wertow (1923) und THE SPANISH EARTH von Joris Ivens (1937).



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