|
Dokumentarfilm
< vorheriges Kapitel | nächstes Kapitel >
Fly Little Bird
oder das Aufbegehren der nächsten Generation
Rückblickend scheinen für die Regisseure des New Hollywood vor allem zwei
Einflüsse stilprägend gewesen zu sein: die Roger Corman Factory (in der fast alle
Erfolgsregisseure der siebziger und achtziger Jahre als Drehbuchautoren, Cutter, Ausstatter
oder Kameraassistenten angefangen haben) und der Dokumentarfilm in Verbindung mit
populärer Musik. Als bekanntestes Beispiel kann sicherlich Martin Scorsese (TAXI DRIVER,
1975; GOOD FELLAS, 1990) angesehen werden. Kaum ein anderer moderner Filmemacher
kann so gut mit dem Genre des Dokumentarfilms umgehen und hat diesem so viel für seine
Spielfilme abgewonnen. Scorseses erste Begegnung mit dem Medium war Michael Wadleighs
legendärer Konzertfilm WOODSTOCK (1969). Wadleigh, der später selber vom Dokumentar-
zum Spielfilm gewechselt ist (WOLFEN, 1981), wollte dem Mammutkonzert eine Ikone
schaffen, ein Dokument, das sowohl die Ereignisse auf der Bühne als auch die Stimmung unter
den Gästen einfängt. Deshalb ließ er zwei Kamerateams gleichzeitig drehen. Heraus kam eine
unglaubliche Menge an Rohmaterial. Die eigentliche Leistung des Films bestand nun darin, das
Material zu ordnen und in einem Rhythmus zu montieren, der die Atmosphäre auf dem Festival
annähernd wiedergeben sollte. Der Verdienst für diese Leistung liegt bei Martin Scorsese und
Thelma Schoonmakers, die beide als Cutter angestellt waren. WOODSTOCK erwies sich als
ausgesprochen originell montiert und nimmt einiges an Schnittechniken vorweg, was für viele
spätere Scorsese-Filme stilprägend wurde; so ist das Bild in WOODSTOCK über weite
Strecken in zwei oder mehr Abschnitte unterteilt, um das Geschehen von mehreren
Standpunkten aus zu zeigen oder unabhängige Handlungsstränge nebeneinander zu stellen. In
seinem frühen Gangsterfilm MEAN STREETS (1974) greift Scorsese auf diese Technik zurück.
In anderen Filmen, z.B. GOOD FELLAS (1990) hält er das Bild an der
entscheidenden Stelle für einen kurzen Moment an.
Einen eigenen Musik-Dokumentarfilm konnte Scorsese 1976 drehen; THE LAST WALTZ, der
das Abschiedskonzert von Bob Dylans Rockgruppe The Band aufzeichnet. Scorsese wollte das
Konzert mit filmischen Mitteln einfangen, die in ihrer Ehrlichkeit und Geradlinigkeit der Musik
von The Band entsprechen. Schnitt und Mischung gestalteten sich äußerst schwierig, so dass
der Film erst nach 18 Monaten in die Kinos kam. Trotz aller Schwierigkeiten und
Verzögerungen wurde THE LAST WALTZ als bester Musikfilm seit WOODSTOCK gefeiert.
Der Film wurde auf 35mm-Material gedreht, was für einen Dokumentarfilm damals noch recht
ungewöhnlich war, ihm jedoch eine starke optische Eindringlichkeit verleiht. Mit Hilfe eines
300 Seiten dicken Drehplans, der alle Texte und Griffwechsel auflistet, choreographiert
Scorsese seine acht Kameramänner (darunter Laszlo Kovacs, Vilmos Zsigmond und Michael
Chapman). Zum ersten Mal nahm man 24 Tonspuren auf, die dann für den Soundtrack auf vier
Dolby-Stereo-Spuren zusammengespielt wurden.
Im dokumentarischen Bereich hat sich Scorsese eine zweite Karriere aufgebaut. Nach seinem
eigenen STREET SCENES (1970), der Stimmungsbilder vom Straßenleben in New York
zeichnet, war er als Cutter und Koproduzent an einigen Dokumentationen beteiligt. Interessant
ist außerdem noch Scorseses Portrait seiner Eltern in ITALIANAMERICAN (1974), die
gelegentlich Kurzauftritte in seinen Spielfilmen haben. Wenn Mutter Scorsese Robert de Niro
in GOOD FELLAS begrüßt, dann begrüßen sich tatsächlich zwei alte Freunde. Detailgetreue
Milieuschilderungen vom Leben der italienischen Einwanderer in Little Italy ziehen sich wie ein
roter Faden durch die Filme von Martin Scorsese.
Ein anderes Beispiel ist der amerikanische Filme- und Mythenmacher Francis Ford
Coppola (THE GODFATHER, 1971; APOCALYPSE NOW, 1979). Coppola hatte Ende der
siebziger Jahre den Traum, eine Gemeinschaft unabhängiger Filmemacher jenseits von
Hollywood zu gründen. AMERICAN ZOETROPE nannte er seine kurzlebige
Produktionsgesellschaft, die zunächst Werbe- und Dokumentarfilme herstellte. George Lucas
(AMERICAN GRAFFITI, 1974; STAR WARS, 1977) gehörte zu Coppolas frühesten
Weggefährten und Schülern. Seine erste Arbeit für Coppola war FILMMAKER (1968), eine
Dokumentation über die Dreharbeiten zu dessen Road-Movie THE RAIN PEOPLE (1968).
Zuvor hatte Lucas bereits den Western MACKENNA'S GOLD (1967) dokumentiert. Auch
heute ist es noch üblich, dass junge Filmemacher als Starthilfe mit der Dokumentation von
Filmen bereits erfolgreicher Kollegen beauftragt werden; so durfte die Jungfilmerin Katja von
Garnier (ABGESCHMINKT, 1992) die Dokumentation zur Entstehung von Wolfgang Petersens
Thriller IN THE LINE OF FIRE (1993) drehen.
Auch zahlreiche andere Regisseure arbeiten gerne mit den Mitteln des
Dokumentarfilms. So z.B. der Brite John Schlesinger (MIDNIGHT COWBOY, 1968; THE
FALCON AND THE SNOWMAN, 1985), der selber als Dokumentarfilmer angefangen hat
(TERMINUS, 1960) und in seinen Filmen aus den siebziger Jahren gerne eine nüchterne,
unterkühlte Filmsprache verwendet, die sich mit ihrem distanzierten Blick auf das Geschehen
deutlich an den klassischen Dokumentarfilm anlehnt. Seinen Thriller MARATHON MAN
(1976) eröffnet er mit einer Parallelmontage: man sieht den im Central Park von New York
trainierenden Dustin Hoffman beim Laufen. Dazu werden kurze Aufnahmen eines farbigen
Langstreckenläufers aus Ken Ichikawas Olympia-Dokumentation TOKYO OLYMPIAD (1964)
montiert. Schlesinger führt uns also gleich zu Beginn zwei Läufer vor: einen wirklichen
Sportler und einen Schauspieler. Der Sportler schaut beim Laufen immer wieder direkt in die
ihn begleitende Kamera, deren Präsenz dem Zuschauer eher unbewusst bleibt, weil sie nur in
einem Ausschnitt (close-up) verharrt. Trotz der Bewegung des Läufers wirkt die Einstellung
sehr ruhig. Die Kamera im MARATHON MAN verhält sich wie ein Begleiter. Sie folgt Dustin
Hoffman und macht seine Bewegungen mit. Hierbei liefert sie Bilder, die hektisch und trotz
steadycam leicht verwackelt wirken. Sie entsprechen also dem, was man sich normalerweise
unter dokumentarischen Aufnahmen vorstellt. Die fiktive Szene wirkt dokumentarischer als die
Szene aus dem eigentlichen Dokumentarfilm.
Diese Kombination gibt den Rhythmus des Films vor und schafft eine eigenartig verhaltene
Spannung, die vor allem in den Suspense- und Action-Szenen zum Tragen kommt.
Inhalt:
|