Dokumentarfilm
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King Kongs Kinderstube
Dokumentarfilm als Abenteuer
Kameramänner scheinen schon immer wichtige Vermittler zwischen Spiel- und
Dokumentarfilm gewesen zu sein.
Ernest B. Schoedsack (1893-1979) verfolgte und filmte als Berichterstatter den ersten
Weltkrieg direkt an der Front. Er gehörte zu den damals nicht seltenen Menschen, die ihre
Abenteuerlust in extremen Situationen auslebten. Das Festland Europa bot in jener Zeit mit
seinen vielen Kriegen dazu reichlich Gelegenheit. So begegnete er 1925 in Polen einem
anderen Abenteurer: Merian C.Cooper, der dort in der Luftwaffe kämpfte. In die
Filmgeschichte sollten die beiden 1933 mit ihrem Fantasy-Klassiker KING KONG eingehen,
bei dem Schoedsack Regie führte_
Zuvor hatten Cooper und Schoedsack bereits mit zwei spektakulären Dokumentarfilmen
Aufsehen erregt: GRASS - A NATIONS STRUGGLE FOR LIFE (1925) und CHANG (1927).
Geholfen hat ihnen indirekt ihr Regiekollege Robert Flaherty. Nachdem dessen Film
NANOOK OF THE NORTH (1922) beim amerikanischen Publikum erfolgreich gewesen ist,
waren die Studios bereit, Geld in Dokumentarfilme vor exotischem Hintergrund zu investieren.
GRASS schildert die gefahrenvolle und verlustreiche Suche der Bakthiaris, einem
Nomadenvolk im Iran, nach neuem Weideland für ihre Herden. Bereits in ihrem ersten
Dokumentarfilm lassen Cooper und Schoedsack ihre Neigung zum großen Abenteuer
erkennen: das Nomadenvolk auf seiner Wanderung wird effektvoll vor den beeindruckenden
Landschaftspanoramen in Szene gesetzt. Allerdings wird auch der Tod nicht ausgespart. Wenn
der Nomadenstamm einen reißenden Strom oder einen Gletscher überquert, wirkt dies zwar
wie eine spannende Szene aus einem Tarzanfilm; die Menschen, die bei den halsbrecherischen
Unternehmungen ums Leben kommen, sind jedoch echte Todesopfer und nicht nur
austauschbare Statisten.
CHANG erzählt die Geschichte vom Kampf einer Familie im siamesischen Dschungel. Noch
deutlicher als in GRASS wird hier Coopers Hang zum Inszenieren und Konstruieren. Wenn es
die Handlung unterstützt oder zur Spannung beiträgt, werden einige Szenen (z.B. die
Elefantenstampede) sogar nachgestellt.
Mit ihren beiden Dokumentarfilm-Klassikern haben Cooper und Schoedsack nicht nur den
optischen Standard für sämtliche Tarzan- und Dschungelabenteuerfilme gesetzt, sondern auch
ihre nachfolgenden Spielfilme MOST DANGEROUS GAME (1932) und KING KONG (1933) vorweggenommen.
Die Themen und Schauplätze bleiben die gleichen (Dschungel, Überlebenskampf in feindlicher Umgebung),
nur die Sichtweise ist eine andere; einmal dokumentarisch, einmal fiktiv.
Ein anderer Regisseur und Kameraspezialist, der Gefallen an exotischen Schauplätzen
fand und den Dokumentarfilm als Abenteuer verstand, war der bereits erwähnte Robert
Flaherty. Mit NANOOK OF THE NORTH (1922) und MOANA (1926) hat er die
Dokumentation in eine neue Richtung gelenkt und sie für ein größeres Publikum überhaupt erst
interessant gemacht. Flaherty wurde später von seinem Studio (Paramount) häufig eingesetzt,
wenn es galt, andere Regisseure bei Szenen im Dschungel oder in der Wildnis künstlerisch zu
beraten. So hat er z.B. für William S. Van Dyke die Außenaufnahmen zu WHITE SHADOWS
OF THE SOUTH SEA (1928) gedreht, einem Film im Stil der FOUR FEATHERS von Schoedsack.
Enttäuscht von der romantisierenden Art dieses Films, die den dokumentarischen Aspekt
zurückdrängte, nahm er das Angebot eines realistischen Regisseurs an, mit diesem einen Film
über die Südsee zu drehen. Durch diese Zusammenarbeit entstand einer der Klassiker der
Filmgeschichte: TABU von Friedrich Wilhelm Murnau.
Schon in seinem vorangegangenen Film OUR DAILY BREAD (1929) hatte Murnau eine
fiktive Geschichte mit einer Dokumentation über die Entstehung des Brotes
zusammengeschnitten.
Auch in TABU benutzte Murnau diese Technik, die dokumentarischen Abschnitte und die
Geschichte (die Murnau zusammen mit Flaherty ausgearbeitet hatte) sind aber enger verwoben.
Dies führte zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Murnau und Flaherty. Flaherty war als
geborener Dokumentarfilmer ausschließlich am sozialen Aspekt der Geschichte interessiert,
d.h. an den Lebensbedingungen der Eingeborenen, die als Perlentaucher von chinesischen
Händlern ausgebeutet werden. Murnau hingegen war zwar Realist, doch das bedeutete für ihn
nicht, dass er die Wirklichkeit naturalistisch abzubilden hatte. Schon bei Schoedsack zeigte sich,
dass ein Regisseur im Zweifelsfall bereit ist, für einen Effekt die Realität zu opfern. Murnau
geht in TABU einen wesentlichen Schritt weiter. Er zeigt die "glücklichen Inseln" der Südsee,
und damit eine Realität, die schon nicht mehr existierte, als er zu filmen begann. Zwar erscheint
in seinem Film auch die Zivilisation (die chinesischen Händler), doch nur als Bestandteil der
Geschichte des Films. Die bemerkenswerten Szenen, die man von diesem Film behält, sind
diejenigen, in denen die verlorene Wirklichkeit der Südsee beschworen wird: die badenden
Mädchen, die ausfahrenden Fischer, die Landschaft...
Diese Idealisierung ist für den Dokumentarfilm eigentlich untypisch (wenn man von
Kurzfilmen, Industriedokumentationen und Ähnlichem absieht).
Der Dokumentarfilm steht in enger Verbindung zum (literarischen) Realismus bzw.
Naturalismus. Dieser entstand in der Ablehnung des romantischen Idealisierens, zugunsten
einer ungeschönten Sicht der Welt, und dies war meist die Welt der Armen. Man denke an
Georg Hauptmanns DIE WEBER und sein PHANTOM (das von Murnau 1922 verfilmt
wurde). Dies zeigt sich auch in den Brecht-Verfilmungen der zwanziger Jahre, die heute als
Zeitdokumente bewertet werden. Dieser moralische Aspekt des Realismus/Naturalismus ging
in den Surrealismus ein und veranlasste Buñuel, einen Dokumentarfilm zu drehen.
Buñuel hatte sich in der Öffentlichkeit mit seinen beiden Skandalfilmen UN CHIEN
ANDALOU (1928) und L'AGE D'OR (1930) als surrealistischer Filmemacher par excellence
etabliert. In beiden Filmen überwiegt der poetische Aspekt des Surrealismus. Mit LAS
HURDES (1932) wendet sich Buñuel von dieser Art des Surrealismus ab. Es geht ihm nicht
mehr nur um Poesie, er will auch etwas mitteilen.
Mit seinem Kameramann Eli Lotar macht sich Buñuel auf in die spanische Berglandschaft der
Hurdes. Die Menschen, die dort weitab von der Zivilisation einen täglichen Kampf gegen die
Natur führen, sind kranke Menschen. Sie wissen, dass sie den Kampf verlieren werden. Ihre
Erlösung ist erst der Tod. Buñuel zeigt dieses Elend in klaren, uninszenierten Bildern. Das
macht einen Großteil ihrer grausamen, erschreckenden Wirkung aus. Indem er das poetische
Moment beinahe ganz zurücknimmt, erreicht er eine umso stärkere Wirkung. Die wenigen
Stilmittel, die Buñuel verwendet, arbeiten mit Widersprüchen: etwa der nüchterne, fast
wissenschaftliche Kommentar, mit dem die Bilder unterlegt sind, oder Brahms Vierte
Symphonie als Begleitmusik.
In den späteren Filmen von Buñuel kamen die beiden Gegensätze: Poesie und Realismus
(Moral) zu einem ausgewogeneren Verhältnis. Meistens stand die Poesie im Vordergrund. Nur
noch in LOS OLVIDADOS ist die poetische Seite ähnlich stark zurückgenommen und das
moralische Anliegen so deutlich.
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