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Eine Anstrengung - überflüssig?
Porträt des Filmemachers und Publizisten Harun Farocki

Über den in Berlin lebenden Filmemacher Harun Farocki und seine Arbeit zu schreiben, fällt leicht und schwer zugleich. Ihre gedankliche Exposition und ihre Materialstruktur laden zum genauen Hinschauen ein und belohnen mit einer Fülle von Entdeckungen. Im ersten Moment des Schreibens drängen sich vor die Filme aber die Situationen, in denen ich die Filme von Harun Farocki sah, sie im Kino selbst zeigte und mit dem Regisseur öffentlich darüber sprach. Das erste Mal, als ich Farocki bei einer Diskussion erlebte - 1978 auf der Duisburger Filmwoche -, verweigerte er sich den Zuschauern, die eine interpretative Nachbesserung seines Films "Zwischen zwei Kriegen" (1978) forderten. Farocki provozierte eine gereizte Stimmung. Einige Monate später, im Essener Kino "Zelluloid", ließ sich Farocki mit den wenigen Zuschauern überaus geduldig auf jede Nachfrage zum Stoff und zu seiner politischen Interpretation ein. Ich will beide Verhaltensweisen weder gegeneinander ausspielen noch zu Konstituenten seines Charakters erheben, vielmehr als einen Erfahrungsgegensatz festhalten: wie die Vielzahl seiner Filme sind die Diskussionen mit Farocki reich an Unterschieden. Dass ich nach der Kölner Vorführung des Films "Bilder der Welt und Inschrift des Krieges" (1988) auf dem Nachhauseweg von der Diskussion von jemandem, der - um kein Missverständnis aufkommen zu lassen - weder den Film gesehen hatte noch der Diskussion gefolgt war, einen Schlag ins Gesicht bekam, gehört zu diesen Erfahrungen ebenso hinzu wie das Erlebnis eines Wochenend-Seminars im Kölner Filmhaus, zu dem ich Farocki als einen der Referenten eingeladen hatte. Farocki wollte ausdrücklich erst am Sonntagmorgen kommen, weil er am Samstag seit Jahr und Tag Fußball spiele, und das nicht für das Kölner Seminar aufzugeben gedachte. Am sehr kühlen Sonntagmorgen beschlichen mich Zweifel, ob Farocki pünktlich eintreffen werde. In der Nacht hatte es die Umstellung zur Sommerzeit gegeben, so dass er noch eine Stunde früher aufstehen und ein Flugzeug nehmen musste. Doch pünktlich wie ein Buchhalter stand Farocki um zehn Uhr Sommerzeit mit seinen Filmbüchsen vor dem Versammlungslokal und war bester Laune.

BREITES SPEKTRUM

Müsste man die Filme, die Harun Farocki (geb. 1944 in Neutitschein, damals: Sudetengau) in den letzten Jahren im Auftrag des Fernsehens (vor allem für den WDR und das ZDF) oder mit Geldern der kulturellen Filmförderungen in Hamburg und Nordrhein-Westfalen gedreht hat, klassifizieren, hätte man sie in einem groben Zugriff auf fünf Gruppen zu verteilen. Die erste versammelt dokumentarische Arbeiten, die einen einzelnen Arbeitsvorgang - etwa die Herstellung eines Fotos für den "Playboy" beispielsweise in "Ein Bild" (1983) oder die Entwicklung einer Werbekampagne in "Image und Umsatz oder Wie kann man einen Schuh herstellen" (l989) - festhalten und in einem schlüssigen Filmablauf verdichten. Eine zweite Gruppe ließe sich aus Filmen zusammenstellen. in denen Künstler und ihre Arbeitsweise porträtiert werden: "Zur Ansicht: Peter Weiss" oder "Georg K. Glaser - Schriftsteller und Schmied" (1989). Die dritte enthielte medienkritische Studien ("Der Ärger mit den Bildern", 1973) und Filmessays, die sich in historischen Exkursen des Zusammenhangs der Wahrnehmung mit der industriellen Produktion annehmen: "Bilder der Welt und Inschrift des Krieges" (1988) und "Wie man sieht" (1986). Eine vierte Gruppe enthielt jene Filme, in denen Farocki sich inszenatorischer Formen bediente: "Zwischen zwei Kriegen" und "Etwas wird sichtbar" (1983) sowie "Betrogen" (1985). Hier ist die klassifikatorische Willkür am größten. In die fünfte Gruppe kämen schließlich die kleinen Beiträge für die "Sesamstraße", "Sandmännchen" oder für die Filmredaktion des WDR. Gerecht wird man Arbeiten Harun Farockis aber nur, wenn man sie einzeln und zusammen und im historischen Kontext studiert, wie das Motiv des Vietnamkrieges in den frühen Agitationsfilmen (etwa "Nicht löschbares Feuer", 1969) in seinem Spielfilm "Etwas wird sichtbar" genauestens untersucht, also auseinandergenommen und wieder neu zusammengesetzt wird; wie die ästhetische Kargheit der Essayfilme sich gegen die von ihm kritisierte Bebilderungs- und Verlautbarungstechnik des Fernsehfeatures entwickelt hat; wie er den historischen Spuren der Arbeiterbewegung folgte, ohne diese zu glorifizieren oder zur Rechtfertigung der eigenen Praxis zu idealisieren; wie er sich neugierig auf die Verhältnisse hierzulande einließ, ohne sich von ihnen überwältigen zu lassen, und deshalb imstande war, sie gleichsam zu skelettisieren; wie er mit den Schriftstellern Peter Weiss, Heiner Müller und Georg K. Glaser spricht, um etwas von ihrer materialistischen Arbeitsweise zu erfahren und so auch - bescheiden, aber spürbar - etwas von sich selbst mitzuteilen; wie sich die 16mm-Filme (etwa "Zwischen den Kriegen") von den auf 35mm gedrehten ("Etwas wird sichtbar") unterscheiden und die ersteren wiederum von einer Videoarbeit ("Image und Umsatz"), schließlich wie Musik und Sprache eingesetzt werden und wie Farocki montiert.

Sein jüngster Film "Leben - BRD" (1990) wurde im Rahmen des "Internationalen Forums des jungen Films" der "Berlinale" uraufgeführt und von der Redaktion "Kleines Fernsehspiel" kurz darauf Programm des ZDF gezeigt. Derzeit ist er in den Programmkinos zu sehen. Farocki besuchte und filmte 32 Lern-, Übungs-, Therapie- und Teststunden in der ganzen Bundesrepublik Deutschland und montierte sie zu einer unkommentierten Folge von Kurzszenen - aneinandergeschnitten nach Stichworten, Oppositionen, Assoziationen, Bewegungen und Gesten. "Leben - BRD" setzt aus der Fülle der Details das Bild einer Gesellschaft zusammen, in der das Gebären und das Sterben, das Schreien und die Menschenpflege, das Straße überqueren und das Töten in staatlichen oder privaten Institutionen gelehrt und gelernt wird, ja, gelernt werden muss. Das wahre mechanische Ballett tanzen nicht die Maschinen, sondern die Menschen, die sich nach einer Musik bewegen, die sich aus schwülstigen Phrasen der Sozialpädagogik ("Magst Du, dass ich Dir helfe?"), Bürokratie ("Die Schulung zielt darauf ab, durch eine Kommunikationsaufnahme eine konkrete Zielansprache zu erreichen") und Therapeutik ("Spür in Dich hinein!") speist.

DER MENSCH: DISZIPLINIERT

Die gesammelten Szenen scheinen die Annahme zu stützen, hierzulande herrsche eine Versicherungs- und Vorsorgementalität vor, in der Glück wie Elend durch Sozialtechniken diszipliniert und von ihrem Grad der Unberechenbarkeit befreit werden sollen. Doch "Leben - BRD" erschöpft sich nicht in einer solchen Interpretation. Andere lassen sich ebenfalls denken - etwa die, dass die Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht, zu neuen spielerischen Formen der Arbeit drängt; auch solche Deutung wird vom Film unterstützt. Wichtiger noch: die Teilnehmer an den Spielen, Tests und Therapiesitzungen werden nicht zu Belegstücken irgendwelcher Thesen degradiert. Sie behalten in Abstufungen etwas von ihrer Würde.

Das hat seine Ursache in der Arbeitsweise Farockis: Farocki hat die Szenen so geschnitten, dass selbst noch der unsinnigste Vorgang sich gleichsam selbst erklärt. Und so prägt sich manches Gesicht - etwa das des Kindes mit den spillerigen Haaren zu Beginn, des Tippelbruders, der lieber Brathähnchen kaufen statt mühsam das Kochen erlernen möchte, oder einer älteren Frau, die in der Gruppentherapie zu spielen hat, sie sei ihr Herd - ebenso ein wie der Satz, den eine junge Mutter sagt: "Ich schäme mich, dass ich von diesem Mann ein Kind habe".

"Leben - BRD" hat nach der Fernsehausstrahlung in der Presse ein großes Echo gefunden. Es scheint, als sei es Farocki endlich gelungen, auch Fernsehkritiker dazu zu zwingen, in Ruhe zuzuschauen, statt sich von der sicheren Hand eines Kommentars führen zu lassen. Wie in früheren Fällen die Ablehnung seiner Arbeiten aussah, war 1988 in der Jury des Adolf-Grimme-Preises mitzuerleben, als sich eine Mehrheit gegen eine Auszeichnung seines Films "Die Schulung" (1987) bildete. Die einen waren gegen ihn, da man das, was er an Selbstdisziplinierung und Subjektentkernung zeige, ohnehin schon alles wisse. Die anderen lehnten ihn ab, weil der Film gar nichts erkläre und die Zuschauer ohne notwendige Meinung über das Gesehene zurücklasse. Ahnlich "heiter" mag es unter den Beisitzern in der Filmbewertungsstelle Wiesbaden (FBW) zugegangen sein, als sie mit dem Fußballergebnis von "3:2" dem Film "Leben - BRD" ein Prädikat absprachen. Ihre "Kennzeichnung" des Films ist es ebenso wert, zitiert zu werden ("... Dokumentarfilm/Thesenfilm/Rollenspielele/angepasstes Verhalten/langatmig/filmisch unergiebig"...) wie die gutachterlichen Verstöße gegen Grammatik und Logik: "Es wird obendrein zur überflüssigen Anstrengung: der Durcheinander- und Zusammenschnitt von verschiedenen Handlungsabläufen, als Gestaltungsprinzip ausgegeben, verlangt bei der gedanklichen Zurückordnung der Themen zusätzliche Konzentration." Wenn die Beisitzer von "sinnlichen Elementen" sprechen, dann klingt das nicht, als sprächen sie über einen Film, den man in der Tat sehen muss, um ihn zu begreifen.

Harun Farocki gehörte zu den relegierten Studenten des ersten Jahrgangs an der "Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin" (dffb). Aber, so schrieb er 1984 in einer Broschüre der Akademie, das wisse heute kaum jemand mehr: "Auch heutige dffb-Studenten nicht, große Verwunderung, wenn ich erzähle, dass Daniel Schmid da war und erst recht bei diesem Plüschtierdirektor Wolfgang Petersen (wohl der Einzige aus dem Jahrgang, der noch lange Haare hat)." In seinen Aufsätzen hat Farocki über das Zustandekommen seiner Filme mehrfach und beinahe regelmäßig Rechenschaft abgelegt: "Mit Biografie, so es eine gibt, hat das nichts zu tun. Es geht um die Schilderung von Arbeitsverhältnissen." Doch die Zeitschrift "Filmkritik", in der er über zehn Jahre publizierte und redaktionell betreute, erscheint seit 1984 nicht mehr. Farocki soll, so heißt es, noch auf einigen kompletten Jahrgängen sitzen, als wäre er ein Spekulant, der auf die Wertsteigerung seiner Ware wartet.

Um zu beschreiben, was man in den alten Heften der "Filmkritik" alles finden kann, eine letzte Geschichte um Farocki: Unter den über 200 eingereichten Produktionen der Duisburger Filmwoche 1989 war auch ein kurzer Film aus der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, der in der Flut der gewichtigen Themenfilme zu den Konflikten und Problemen der Welt unterging. Nur das Musikstück, das er verwandte, blieb einigen Mitgliedern der Auswahlkommission tagelang im Ohr. Als Komponistin wurde im Abspann die Sängerin Nico genannt. Die Versuche, das namenlose Stück in den Folgemonaten zu identifizieren und auf einer der zahlreichen Platten der Ex-Kölnerin zu entdecken, scheiterten. Von Nico waren im letzten Jahrzehnt zu viele Zusammenstellungen und Live-Aufnahmen auf Platte veröffentlicht worden, während die alten Originalplatten aus dem Handel genommen wurden.

Per Zufall stieß ich Monate später in einer Ramschkiste für Billig-CDs auf den Titel. Er wurde auf der Platte "Desertshore" veröffentlicht, die Nico 1970 gemeinsam mit ihrem Produzenten John Cale aufnahm, und heißt "Le petit chevalier". Das Cover zieren Fotos aus dem Film "La Cicatrice Interieure", den Philippe Garrel im selben Jahr mit Nico in der Hauptrolle drehte. Über den Film konnte ich nur wenige Informationen finden (etwa in Ulrich Gregors "Geschichte des Films ab 1960"). Erst jetzt entdeckte ich in einem Heft der "Filmkritik" so etwas wie eine Beschreibung: "Der Film ist kein Handlungsfilm... erst sitzt Nico auf einem Stein und klagt etwas in dem Tonfall, in dem das Gretchen im 'Faust' "Meine Mutter die Hur..." intoniert, sie gibt einen Laut und horcht in sich hinein. ... um die Biegung des Weges kommt ein Schäfer mit seinen Schafen. Nun reicht der Schäfer Nico die Geiß, die sie entgegennimmt wie der Zugabfertiger den Postpack, dann fährt die Kamera ein Stück mit dem Schäfer parallel, entlässt ihn aus der Mitfahrt und sieht ihm und der Herde nach, bis alle hinter der Wegbiegung verschwunden sind, wobei die Abblende mit dem allerletzten unschuldigen Tierchen einsetzt."

Autor dieses 1982 geschriebenen Textes ist Harun Farocki. Und sein Artikel, der mit dem Satz "Ein Film wie ein Plattencover" beginnt, ziert Vor- und Rückseite der Langspielplatte "Desertshore" von Nico. Er endet mit dem Satz: "Weil dieser Film zehn Jahre alt ist und solche Filme heute nicht mehr gemacht werden, es keine Rockpoesie mehr gibt, die sich als neue Weltsprache entwirft, kommt mir dieser Film wie aus einem vergangenen heroischen Zeitalter vor."

Der Sinn für Präzision, der sich in der Beschreibung der Filmszene ausdrückt, sowie das Pathos eines unerfüllten Wunsches der Gegenwart, der sich im Schlusssatz andeutet, gehören zum Bild des Filmemachers und Publizisten Harun Farocki. Es bleibt zu hoffen, dass seine Filme nicht in den Ramschkisten der Medienbranche verschwinden und dass sie ihr Publikum im Lauf der Jahre finden werden.



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