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Dokumentarfilm
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Das Abenteuer Dokumentarfilm
Zum 60. Geburtstag von Klaus Wildenhahn
"Der eigenproduzierte lange
Dokumentarfilm im Fernsehen geht wahrscheinlich
seinem Ende entgegen." So
lautete die pessimistische Prognose von
Werner Filmer, stellvertretender Chefredakteur des
Programmbereichs Politik im WDR auf einem
Symposium über den "Dokumentarfilm im
Fernsehen der Bundesrepublik" im Oktober
vergangenen Jahres an der Universität
Marburg. Dass Ausnahmen diese Prognose in der
Tendenz bestätigen, mag ein schwacher Trost
sein. Aber es gibt sie immerhin noch, auch
wenn der Dokumentarfilm heute redaktionell
weitgehend heimatlos zwischen den verschiedenen
Programmbereichen der Kultur, dem
Fernsehspiel und der aktuellen Politik vagabundiert.
Der Dokumentarist Klaus Wildenhahn, der am
19. Juni seinen 60. Geburtstag feierte, ist eine
solche Ausnahmeerscheinung. Er macht seit
knapp 25 Jahren lange Dokumentarfilme fürs
Fernsehen. Etliche davon sind zu Klassikern
des Mediums geworden und ihr Autor inzwischen
zu einem respektablen "Fossil", dem
man gleichwohl noch viele produktive Jahre im
"öffentlich-rechtlichen" Fernsehmedium wünschen
möchte, das er als "gute Erbschaft unserer Besatzungsmächte"
schätzt, weil es für ihn "das nicht-komerzielle in
Arbeitsweise und Methode" ermöglicht.
SOLIDARISCH MIT DEN MENSCHEN
Es sind Filme über die Arbeit und den Alltag,
über Landarbeit, Bauarbeit, Industriearbeit;
aber auch: Stücke über die Mühen der Kunst,
die Schwierigkeiten ästhetischer Produktion.
Das klingt thematisch nach Lehrfilm und biederem
Bildungsprogramm. Doch dem ist zum
Glück nicht so, auch wenn Wildenhahn - seit
1964 als festangestellter Dokumentarfilm-Regisseur
beim NDR - derzeit in der Redaktion
"Philosophie, Geschichte, Bildung" beheimatet
ist. Seine Filme gehen stets mit voraussetzungsloser
Neugier an ihre Themen heran.
Dem Prinzip der teilnehmenden Beobachtung
verpflichtet, solidarisch mit den Menschen, die
er zeigt, machen sie den Zuschauer zum Augen- und
Ohrenzeugen von Entdeckungsreisen.
In Wildenhahns Filmen kommen Menschen zu
Wort und ins Bild, die das Fernsehen nur allzu
gern zugunsten von Expertenbefragungen und
besserwisserischem Kommentar vernachlässigt.
Sie unterscheiden sich krass von dem, was der
Fernsehprogramm-Alltag an dokumentarischen Formen
bereithält und haben nichts gemein mit den üblichen
ins 45-Minuten-Zeitschema eingepassten Fernsehfeatures.
Lange synchron gedrehte Einstellungen nehmen sich
Zeit für die Personen, die Wildenhahn mit einer
nur schwer beschreibbaren emotionalen Qualität
porträtiert. Sein sparsamer Kommentar, den
er stets selbst spricht, ist ebenso unprätentiös
wie die Filmbilder. Er informiert den Zuschauer
in knappen Stichworten über die Vorbereitung
und den Ablauf der Dreharbeiten,
macht ihn zusammen mit dem Originalton zum
Ohrenzeugen der Recherche.
REISEN DURCH LANDSCHAFTEN
Wildenhahns Filme sind auch Filme der Bewegung
durch Landschaften: topographische und
historische Entdeckungsfahrten; Reisen, deren
Routen geographisch wie historisch aus der
vorindustriell-agrarisch geprägten Provinz ("In der
Fremde", 1967; "Die Liebe zum Land", 1973/74) bis
in die ehemaligen, jetzt ausgebluteten
Metropolen der Schwerindustrie führen und
vor den Problemen der Zukunft einer
Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht, nicht den
Blick verschließen ("Stillegung", 1987; "Rheinhausen Herbst 1988").
Jenseits der expliziten Inhalte bleibt ihr atmosphärisches
Gespür für die Topographie, für Bilder und Töne, die die
Lebenswelt der Protagonisten mit viel Sinn für scheinbar Beiläufiges
detailreich erfassen, im Gedächtnis: Eine Dorfstraße
in Ostfriesland abends; Arbeiter in einem Bus zur
Frühschicht unterwegs ("Emden geht nach USA", 1975/76);
der Blick aus dem Fenster einer Zechensiedlung im Ruhrgebiet,
sonntagsnachmittags ("Der Nachwelt eine Botschaft", 1979/80);
der Blick aus einem Ballettstudio auf hochsommerliche New Yorker Straßen
("498, Third Avenue", 1967). Wildenhahn
hatte schon früh den Mut zur Entdeckung der
Langsamkeit, zu Pausen und den Erzählduktus
strukturierenden Leerstellen mit Sensibilität
für das Treffende im scheinbar Peripheren.
PRAXIS UND THEORIE
Wildenhahn ist nicht nur ein Praktiker, sondern
im Lauf der Jahre auch ein Theoretiker seines
Metiers geworden. Man hat ihm vor allem nach
der Publikation seines Buches über
"Synthetischen und Dokumentarischen Film" (1972)
Dogmatismus, Abneigung gegen experimentelle
Formen und die Propagierung einer Filmästhetik,
die durch äußerste Nähe zum Objekt die
Auflösung der Autorenposition anstrebt, vorgeworfen.
Doch seine Dokumentarfilme waren
ästhetisch immer viel reicher als seine damals
vertretene theoretische Position, waren immer
auch experimentell, ohne freilich das Experimentelle
besonders zu betonen. Sie verleugneten in der Montage,
der Organisation des filmischen Materials, keineswegs
ihren Autorenstandpunkt.
Sein Filmhandwerk lernte Wildenhahn von
1961 bis 1964 als "Realisator" in der Redaktion
des zeitkritischen Magazins "Panorama" beim
NDR. Realisator sein hieß_ damals: die Stories
der Journalisten in Film. umzusetzen, Texte zu
bebildern. Das Bild spielte dabei eine
untergeordnete Rolle. Das war zu einer Zeit, als die
in den USA durch Richard Leacock, Don Allen
Pennebaker und die Gebrüder Maysles entwickelte
neue Dokumentarfilmtechnik des "Direct
Cinema" auch in Deutschland bekannt wurde.
Die "Direct Cinema"-Technik bedeutete eine
Revolution für die Ästhetik des Dokumentarfilms.
Bis dahin hatten die weitgehend unbeweglichen
35mm-Kameras wie die damaligen Möglichkeiten
der Tonaufzeichnungen weder spontane Aufnahmen
noch synchronen Originalton erlaubt. Man kam deshalb
nicht ohne eine Nachinszenierung aus. Mit den
neuen, geräuscharmen 16mm-Kameras
und der synchronen Tonaufzeichnung war der
journalistisch aktuelle Zugriff auf die Realität,
die direkte Reportage möglich geworden. Diese
neuen Kameras und Tonaufnahmegeräte, lichtstarke
Optik und hochempfindliches Filmmaterial erlaubten es,
mit minimalem technischem und
personellem Aufwand in langen Einstellungen
Abläufe aus der Situation heraus durchgängig zu
verfolgen. Mit Leacock Pennebaker und Maysles
machte Wildenhahn 1964 ein Interview
für die Sendung "Der Filmclub" des
dritten Fernsehprogramms des NDR. "Das war
die zeitlich fixierbare Initialzündung", erinnert
er sich später, "ab dann konnte ich die üblichen
Fernsehdokumentationen nicht mehr herstellen,
die ich gut drei Jahre lang mit großer Energie
und Freude gemacht hatte".
SUCHE NACH DER CHRONOLOGIE
Die Beobachtung aus der Situation heraus
prägte den Stil der Filme Wildenhahns in den
60er und 70er Jahren. Sein erster langer Film
für die NDR-Fernsehspielabteilung Egon
Monks, in die er 1967 hinüberwechselte, entstand
in dreimonatiger Drehzeit mit einer zwei
Mann-Equipe. "In der Fremde" verfolgt den
Bau eines Futtermittel-Silos in der
norddeutschen Provinz. Der dramaturgische Aufbau
dieser _Langzeitbeobachtung verdeutlicht ein
weiteres Arbeitsprinzip Wildenhahns: das Auffinden
einer Chronologie in der Alltagsbeobachtung
von Arbeitsvorgängen, einer Chronologie,
die sich nicht nur an der Aufnahmezeit
orientiert, sondern auch an den Beziehungen der
dargestellten Personen verfolgt wird. "In der
Fremde" zeigt die Arbeitsbedingungen der
Betonbauer, Zimmerleute, Eisenflechter und
Hilfsarbeiter, die rund um die Uhr in zwei
Schichten arbeiten, weit weg von Heim und
Familie.
Die Dramaturgie ergibt sich aus der Situation
vor Ort. Sie wird nicht nachträglich am Schneidetisch
entwickelt. Drehzeit und Zeit der Recherche fallen
zusammen. Die Montage, die dramaturgische Verdichtung
der Ereignisse resultiert aus der Situationslogik am
Drehort, sie findet hier quasi schon in der Kamera statt.
"In der Fremde" wurde in einem Drehverhältnis
von l:15 aufgenommen. Das war das Doppelte
der damals üblichen Fernsehnorm. Die Hauptabteilung
Fernsehspiel des NDR verfügte seinerzeit über gute
Sendeplätze. Sie konnte mehr Geld in ein solches Filmprojekt
investieren als etwa aktuelle Redaktionen. Bis beute ist
Wildenhahn als festangestellter Dokumentarfilmregisseur
privilegierter als Auftragsproduzenten, für die längere
Drehzeiten nur durch finanzielle Selbstausbeutung ermöglicht
werden.
Sein zweiteiliger Film "Die Liebe zum Land"
(1973/74), dessen ironischer Titel auf die harten
Lebens- und Arbeitsbedingungen der hier porträtierten
Bauern und Landarbeiter anspielt,
hatte bereits eine Vorführdauer von zweieinhalb
Stunden. Die Gesamtlänge des Dokumentarfilmzyklus'
"Emden geht nach USA" beträgt fünf_ Stunden. An vier
einstündige Dokumentarteile schließt ein poetisches
Porträt der Region Ostfriesland mit dem Titel "Im Norden das
Meer, im Westen der Fluss, im Süden das Moor,
im Osten Vorurteile" an. Die Dreharbeiten erstreckten
sich über einen Zeitraum von sieben Monaten.
Der Filmzyklus beginnt mit einem Porträt des
Ferdinand Dierks, IG Metall Vertrauenskörperleiter
bei VW Emden, des größten Arbeitgebers der Region
Ostfriesland. Das Porträt leitet
in die Chronologie der Ereignisse angesichts
der drohenden Produktionsverlagerung des
VW-Werkes Emden in die USA über. Die Vorbereitungen
zu einer Protestkundgebung gegen
die Pläne der Konzernspitze zeigen die
unterschiedlichen Interessen von Gewerkschaftsbasis
und der IG-Metall-Führung, die die Pläne
des VW-Aufsichtsrats offenbar mitträgt.
"Emden geht nach USA" ist ein chronologisch
erzähltes Lehrstück über innergewerkschaftliche
Machtstrukturen und den Prozess der
Willensbildung "von unten". Kommentar und
Textinserts fassen die Reportageszenen inhaltlich
zusammen, liefern zusätzliche Informationen
über den Aufbau und die Entscheidungsstrukturen
einer Gewerkschaftsorganisation.
Diese Form wirkt heute streckenweise etwas
rigide, zu sehr vom Impetus des Didaktischen
geprägt. Doch das intensive, in jeder Szene
mitschwingende persönliche Interesse an den
porträtierten Arbeitern, die atmosphärische
Qualität und Dichte der Beobachtung bebt den
Emden-Filmzyklus über die exemplarische
Innenansicht eines gewerkschaftlichen
Willensbildungsprozesses hinaus.
DER WEG IN DIE GESCHICHTE
Nach dem Filmzyklus "Emden geht nach USA"
drehte Wildenhahn im Ruhrgebiet. Sein Weg
aus der norddeutschen Provinz in die ausgeblutete
Metropole der Schwerindustrie und der Arbeiterbewegung
war auch ein Weg aus der Aktualität in die Geschichte,
ein Weg von der dokumentarischen Chronologie der
Gegenwart in die historische Spurensuche. In Mülheim an
der Ruhr lernte er den Arbeiter-Schriftsteller
Günther Westerhoff kennen. Mit ihm zusammen
machte er in den Jahren von 1979 bis 1981
drei Filme: "Der Nachwelt eine Botschaft",
"Bandonion I - Deutsche Tangos", "Bandonion II: Tango im Exil".
Diese Trilogie ist stilistisch
ganz anders als der Emden-Zyklus: nachdenklicher,
suchender, offener in der Form.
Sie beginnt mit einem Porträt des ehemaligen
Zechenschlossers Westerhoff. Er schreibt Gedichte und
Kurzgeschichten. Gedichte, in denen er seine Erfahrungen,
das Leben in der Zechensiedlung und am Arbeitsplatz dem
Vergessen entreissen, wieder hervorholen und weitergeben
will. Wildenhahn sieht und hört ihm zu,
zeigt seine Gedichte, liest sie vor, zeigt Westerhoff
bei einer Lesung. Gemeinsam suchen sie
die Orte auf, auf die sich die Texte beziehen. Eine Art
filmische Co-Lektüre also, ein doppeltes
Erinnern. Ein Erinnern das schwer ist. Denn
nur noch Spuren verweisen auf jene Welt, die in
Westerhoffs Texten zu Sprache kommt. Zu
Bildern kommt sie nurmehr indirekt. Die Zeche,
auf der Westerhoff gearbeitet hat, ist längst
abgerissen. Das gibt dem ersten Teil dieser
Film-Trilogie eine melancholische Grundstimmung.
Die aber wird aufgehoben durch eine
Entdeckung, die Wildenhahns Porträt in eine
Recherche ausweitet: Westerhoff spielt Bandonion.
Wildenhahn begibt sich zusammen mit Westerhoff
in "Bandonion I" und "Bandonion II"
auf eine spannende Forschungsreise in die Geschichte
dieses Musikinstruments, der Leute,
die es gespielt haben und noch spielen, und seiner Musik,
dem Tango. Was Westerhoff mit
seinen Gedichten tat, greift Wildenhahn in den
beiden Bandonion-Filmen auf: er entreißt die
Geschichte einer proletarischen Musikkultur
dem Vergessen, der kulturellen Anonymität.
Wildenhahns Entdeckerfreude findet ihren
Ausdruck in der liebevollen Genauigkeit, mit
der er in "Bandonion II" den Komponisten
Mauricio Kagel und den ehemaligen Fliesenleger
und examinierten Musiklehrer Klaus
Gutjahr, der in über 800 Stunden Arbeit selbst
ein Bandonion gebaut hat, im Gespräch miteinander
zeigt. Gutjahr erklärt Kagel seinen
"Neubau": Man sieht Handwerker unter sich,
die voneinander lernen, Hier scheint eine Utopie
geglückt, der "kulturelle Graben" zwischen
bürgerlicher Avantgarde und Arbeiterkultur
überwunden.
Die Beschäftigung mit dem Bandonion bringt
Wildenhahn ein Jahr später, im Frühjahr 1982,
auf eine Kunstproduzentin, die ganz ähnlich
wie Günther Westerhoff ihre Kunst als ästhetische
Formulierung von Lebenserfahrung begreift:
die in Wuppertal arbeitende Choreographin Pina
Bausch und ihr Tanztheater. Ihr
Stück mit dem Titel "Bandonion" hat Wildenhahn
neugierig gemacht, und diese Neugier annonciert
sein Filmtitel "Was tun Pina Bausch und ihre Tänzer
in Wuppertal?" Pina Bausch
stellt Fragen an ihr Ensemble. Die Tänzerinnen
und Tänzer bekommen konkrete Aufgaben.
Sie sollen mit Gesten Gefühle "erzählen". Dieser
Verarbeitungsprozess von gesellschaftlicher
Erfahrung in Kunstproduktion interessiert Wildenhahn.
Er betrifft auch seine Arbeit als Dokumentarist ganz
elementar. Denn er stellt in
diesem Film zwei Bereiche, die nichts miteinander zu
tun haben, als Ausdruck unserer kulturellen Situation
nebeneinander: das avantgardistische Tanztheater und die
invalide Fließbandarbeiterin Ruth Grün. Kunst und Arbeitswelt
bleiben unversöhnt. Aber: So wie Ruth
Grün in ihren Erzählungen über die Fließbandarbeit
eine eigene Sprache für diese Lebenssituation
findet, so findet sie Pina Bausch in ihren
Choreographien. Und was Bausch probiert,
probiert ebenso Wildenhahn: die Vermittlung
gesellschaftlicher Erfahrung in ästhetische
Praxis. Insofern betreibt dieser Film auch eine Art
Selbstreflexion.
Man kann darüber spekulieren, ob die Selbstreflexion,
die Suche nach Vorbildern und
die Selbstvergewisserung dokumentarischen
Handwerks für Wildenhahn in_ genau dem Moment
wichtig wurde, als er feststellen musste,
dass er mit seinen bisher gedrehten Filmen über
die Arbeiterbewegung an einem Endpunkt
angelangt war: den der ständigen Reproduktion
ihres Untergangs. Seine zwei "Yorkshire"-Filme
über den englischen Arbeiterstreik 1984
und seine letzten beiden Ruhrgebietsfilme
"Stillegung" (über das Thyssen-Stahlwerk in
Oberhausen) und "Rheinhausen Herbst 1988"
vertrauen sich nicht mehr einzelnen Protagonisten an.
Sie ersetzen das Prinzip der Chronologie, der Identifikation mit
den Protagonisten durch die mehrdimensionale subjektive Annäherung
von aussen.
HINWENDUNG ZU DEN PIONIEREN
Die Selbstreflexion als Gespräch über das
Handwerk und die Erinnerung an die Geschichte des
Dokumentarfilms ist explizites Thema
im 1983 gedrehten "Film für Bossak und Leacock".
Diese Reisereportage formuliert im Porträt dieser
beiden Dokumentaristen seiner
"Väter", wie Wildenhahn sie nennt, so etwas
wie sein künstlerisches Credo. Er beschreibt
darin die Lehren, die er für sich selbst aus der
Arbeit des Polen Jerzy Bossak und des Amerikaners
Richard Leacock gezogen hat.
Jerzy Bossak, den Pionier des polnischen Dokumentarfilms,
Mentor einer ganzen Generation polnischer Dokumentaristen, beobachtet
Wildenhahn während der Oberhausener Kurzfilmtage im Gespräch mit dem
polnischen Experimentalfilm-Regisseur Rybczinsky. Es gebt
um die Dialektik von Form und Inhalt beim filmischen Handwerk.
Bossak sagt zu Rybczinksy: "Du musst nachdenken, den Inhalt finden,
dann werden wir über die Form sprechen.
Wenn Du nichts zu sagen hast, wirst Du nie
einen Film schaffen." Dann Leacock, im Gespräch mit
Filmstudenten in seiner Küche, in Boston/Massachusetts:
"Entscheidend ist, wollt ihr gestalten oder wollt ihr was
entdecken?" Und zu Wildenhahn: "Fast alle meine
Studenten wollen letztendlich gestalten, sicher
sein, was passiert. Das ist langweilig."
Jerzy Bossak und Richard Leacock haben in
ihrem filmischen Handwerk eine individuelle
dokumentarische Haltung entwickelt. Das ist
bei Leacock die gleichermaßen technisch wie
journalistisch inspirierte Neugier des Entdeckers.
Für ihn gleicht dokumentarische Filmarbeit einer
Entdeckungsreise: "Wir waren wie
Diebe; abends führten wir uns vor, was wir gestohlen hatten."
So resümiert Leacock seine Art der leidenschaftlichen
Wirklichkeitsbeobachtung bei den Dreharbeiten zu "Primary".
Einer Beobachtung, die dann in der Montage
zur spannenden Chronik gesellschaftlicher und
politischer Ereignisse verdichtet wurde.
HISTORIKER UND ENTDECKER
Bossaks Autorenhaltung bestimmt sich aus der
Moralität des Historikers, der die filmisch dokumentierte
Gegenwart (für ihn als Dokumentaristen waren das die letzten
Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre im zerstörten Polen) dem
kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft aufbewahren möchte.
Eines Historikers freilich, den der Geschichtsprozess,
retrospektivisch betrachtet, stets aufs Neue zum Pessimisten
verurteilt. Er gleicht dem melancholischen "Engel der Geschichte",
den Walter Benjamin in der neunten
These seiner Abhandlung "Über den Begriff der Geschichte" beschrieb.
Jenem "Angelus Novus" des Bildes von Paul Klee, der in die Vergangenheit
blickt und den ein Sturmwind - nach Benjamin "das was wir Fortschritt nennen" -
aus dem Paradies in die Zukunft treibt, ohne dass er ihr je
ansichtig wird.
Beide Arbeitsweisen, die des Historikers wie
die des Entdeckers, der gerne auf Reisen geht,
hat Wildenhahn für sich nützlich machen können.
Ein Pessimist ist er bis heute aber nicht
geworden.
Gegenwärtig arbeitet er an einem Film über ein
Team von Bauarbeitern und Bauingenieuren, die in
Dresden historische Bauten restaurieren. Der
bisher volkseigene Betrieb wird derzeit unter
Beteiligung einer Münchner Firma in eine Kapitalgesellschaft umgewandelt.
Man darf gespannt sein auf Wildenhahns Blick in die
deutsch-deutsche Geschichte aus der Perspektive einer derzeit so
spannenden Gegenwart. Auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival soll
der Film uraufgeführt werden.
Klaus Gronenborn
Inhalt:
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