Einblicke: Essay 2000

Ein Essay von Christine Lemke Matwey
geschrieben Oktober 2000

Das Mädchen in dem orangefarbenen Twinset, das Cello spielen könnte oder Harfe oder vielleicht auch Klavier, ein Fach jedenfalls, das unerhört schöne Hände erfordert, nippt vorsichtig an seinem Automatenkaffee. Und seufzt: 50 Jahre, ein halbes Jahrhundert, puh, wie das klingt. Längeres Schweigen, ein konzentrierter Blick ins Leere, auf Mandarinen- und Erdnussschalen, auf zerknüllte Papiere und halbherzig zertretene Zigarettenkippen. Stirnrunzeln. Ordentlich heiß ist das Zeug in dem braunen Plastikbecher, und schmecken tut es auch nicht gerade. Gut, dass in diesem Augenblick der Pförtner aus seinem Kabuff herüberwinkt und eine Grimasse macht, die nur das Mädchen versteht. Es lacht, vertröstet ihn, der Freddy heißt, mit einer Geste auf später.

Normalerweise gäbe jetzt wohl ein launiges, lustiges Wort das andere. Denn Freddy, der Pförtner, der Wächter über Räume und Schlüssel, schwatzt gern mit "seinen" Studenten. Aber das geht jetzt eben schlecht. Tiefes Atemholen: 50 Jahre, das klingt ja wie ein ganzes Leben. Nein: Das klingt ja wie drei Welten auf einmal. Kaum können wir richtig nachhaken, da springt sie auch schon auf, murmelt etwas von Unterricht, lächelt ein scheues Lächeln - und ist weg.

Ein orangefarbenes Twinset im winterlichen Gewusel dunkler Instrumentenkoffer und langer Schals. Ob sie wohl den Fahrstuhl benutzt, dessen Plakette sich nostalgisch zum "VEB Dresden" bekennt und der es mit rumpelnder Widerspenstigkeit immerhin bis in das fünfte von sieben Stockwerken schafft? Oder ob sie die Treppe nimmt, vorbei an Fritz Cremers Eisler-Büste und oben durch den kleinen Lichthof? Zu Hanns Eislers 100. Geburtstag am 6. Juli 1998 übrigens sollen Studenten der Hochschule ein volles Glas Sekt über seinem bronzenen Schädel ausgegossen haben. Eisler, ein ausgesprochener Pykniker, von dem es hieß, er habe sein Leben lang zu viel geraucht, zu viel getrunken und zu viele Süßigkeiten gegessen, hätte sich gewiss noch mit Wonne über die Lippen geleckt. "Was für ein Mensch!" hat Wolf Biermann, der deutsch-deutsche Liedermacher, der einst sein Schüler war, vor ein paar Jahren in einer Poetik-Vorlesung ausgerufen:
"Und was für ein behutsamer Lehrer" Musik lehren und lernen, Musik studieren (oder Dirigieren oder Opernregie oder Komposition oder Kulturmanagement) mitten im neuen Berlin. Ein heißes, ein brodelndes, ein vielfach begehrtes Pflaster. Denn die Hochschule für Musik Hanns Eisler in der Charlottenstraße markiert topografisch so etwas wie das Herz vom Herzen der deutschen Hauptstadt. Mit ihrer Stirn stößt die HfM förmlich ans Konzerthaus an, dem ehemaligen Schauspielhaus, in dem 1824 Carl Maria von Webers romantische Oper "Der Freischütz" uraufgeführt wurde und das heute dem Berliner Sinfonie-Orchester als Heimstatt dient; aus ihren Augenwinkeln wiederum blickt die HfM auf den traditionsreichen Gendarmenmarkt,

mit dem Deutschen Dom zu seiner rechten und dem Französischen Dom zu seiner linken Seite; direkt im Nebenhaus hingegen, in der Charlottenstraße 56, lockt das ebenso geschichts- wie geschichtenträchtige Berliner Weinhaus Lutter&Wegner mit gutbürgerlichen Speisen und vielen edlen Tropfen: Der Dichter E.T.A. Hoffmann wohnte hier von 1815 bis 1822 im zweiten Stock, und Jacques Offenbach, der Komponist, hat ihn, wer wüsste es nicht, mitsamt der ganzen Lokalität in seiner Oper "Hoffmanns Erzählungen" verewigt.
Die Berliner Charlottenstraße - ein Ort der Künste und des schönen elfenbeinernen Geistes? Weit gefehlt - oder sagen wir besser: beileibe nicht nur! Im Rücken der HfM nämlich, an der legendären Friedrichstraße, dem Prachtboulevard der zwanziger Jahre, beginnt mit Aplomb das "richtige Leben" des 21. Jahrhunderts. Der französische Stararchitekt Jean Nouvel etwa hat mit dem Neubau des Kaufhauses Lafayette kühn behauptet, dass Paris überall ist (warum also nicht auch in Berlin?), und auch die vielen Nobelboutiquen, Cafés, Bars und Galerien drumherum legen sich vom Design her mächtig ins Zeug.

Berlin will - und es will hoch hinaus, gerade in seiner alten, neuen, preußischen Mitte. Zeitgeist, Flair, die Beschwörung einer ruhmreichen Vergangenheit um jeden Preis?

Zurück aber in die Charlottenstraße. Nüchtern betrachtet ist der "Kalte Krieg", die Zeit nach der Gründung zweier deutscher Staaten, an allem schuld. Denn ohne ihn hätte es in Berlin niemals zwei Musikhochschulen gegeben. Ins Leben gerufen am 1. Oktober 1950 in der Wilhelmstraße 53, verstand sich die "Deutsche Hochschule für Musik Berlin", wie sie damals hieß, von Anfang an als engagierte Antwort auf die im britischen Sektor der geteilten Stadt verbliebene Musikhochschule an der Fasanenstraße (seit 1975 UdK). Ein Institution gewordenes Widerwort, wenn man so will, ein mutiger Gang in die entgegengesetzte Richtung. Schon der erste Rektor, der international renommierte Musikwissenschaftler Georg Knepler, wollte "hochqualifizierte Musiker von einem neuen Typus" erziehen, Musiker für "Millionen" gewissermaßen.

Nicht das einzig sich selbst und seinem inneren Auftrag verpflichtete Genie sollte fortan gepflegt und gefragt sein, sondern der Künstler als Helfer und Therapeut, der Künder einer gerechteren Welt, ja durchaus auch der politische Propagandist. Spätestens damit sind wir wieder bei Hanns Eisler, dessen Namen die Hochschule allerdings erst seit 1964 trägt. Eisler, der Klassenkämpfer, Eisler, der zweimalige Emigrant (1933 aus Nazi-Deutschland, 1948 aus dem Amerika der McCarthy-ära), Eisler, der berüchtigte Komponist von "Auferstanden aus Ruinen" nach Johannes R. Becher - der späteren Nationalhymne der DDR. Eislers Zerwürfnis mit Arnold Schönberg, seinem Lehrer, ist legendär - und beruhte auf Gegenseitigkeit. So notierte Schönberg, der sich inzwischen Schoenberg schrieb, in einem Brief aus Los Angeles am 18. Dezember 1947: "Es ist wirklich zu dumm, dass erwachsene Menschen, Musiker, Künstler, die wahrhaftig Besseres zu sagen haben sollten, sich mit Weltverbesserungstheorien einlassen. (...) Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich ihn < Eisler> wie einen dummen Jungen übers Knie legen und ihm 25 heruntermessen und ihn versprechen lassen, dass er nie mehr seinen Mund aufmacht und sich aufs Notenschreiben beschränkt.

Dafür hat er Talent, und das andere soll er andern überlassen. Wenn er 'bedeutend' scheinen will, so soll er bedeutende Musik komponieren. Nicht dass Hanns Eisler gerade den letzten Rat nicht beherzigt hätte - seine Tucholsky-Lieder, die Ernsten Gesänge und vor allem die Deutsche Symphonie (uraufgeführt in Berlin 1959) legen davon hoch brisante Zeugnisse ab.Eislers späte Rückkehr zu Schönberg freilich stieß im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat auf wenig Verständnis, und die hitzig geführte ideologische Debatte um seine "Faustus"-Oper trieb ihn bald darauf in die innere Emigration. "Schmerzhaft sehe ich und voll Sorge, dass ich mit jeder Konvention, auch der modernistischen, zu brechen habe", bekennt der Komponist 1952. Musik zum "Faustus" gab es schließlich so gut wie keine. Letzte Photographien zeigen Eisler, den privilegierten Weltenwanderer, mal in Salzburg, mal in Venedig oder Florenz: ein rundes, in sich vergrabenes Männlein, die sehr ernsten Gesichtszüge unter breitkrempigen Hüten verborgen.