Pressestimmen November 2004

Back in Town

Lieben Sie Brahms?

Diese Frage würde Christian Thielemann gewiss noch im Schlaf laut und vernehmlich mit "Ja!" beantworten. Das Schwerblütige, Seelengründlerische, sich meisterlich unter Beethovens sinfonischem Schatten Hervorduckende - es spricht dem Ex-Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin und frisch inthronisierten Chef der Münchner Philharmoniker ganz einfach aus dem Herzen.
Im hellblauen Ringelshirt machte Thielemann sich nun im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie daran, diese seine Leidenschaft in einem öffentlichen Workshop an das Sinfonieorchester der Hochschule für Musik Hanns Eisler weiterzugeben. Auf dem Programm: Brahms' Erste, erster und zweiter Satz - wobei den Maestro nach der Pause leider die Lust verließ, und es so ("Sie machen das sehr schön!") beim einmaligen flüchtigen Ritt durch das Andante sostenuto blieb. Den ersten Satz hingegen wünschte Thielemann sich "lodernd wie ein Kaminfeuer", und genau so klang's nach anderthalb Stunden auch. "Bässe und Celli, das ist der halbe Brahms!", rief Thielemann emphatisch ins Mikrophon, und immer wieder:

"Breiter, breiter, weiterdenken!" Bloß keine Löcher, nichts, das gar an "zerbrochenes Holz" denken lässt. Ein schrankenloses Bekenntnis zur Agogik also - und zum disziplinierten Arbeiten. Das Fliegen indes brachte Thielemann den hochmotivierten jungen Musikern diesmal nicht bei.

Christine Lemke-Matwey_Der Tagesspiegel_12.11.2004

"Frühkritik"

Christian Thielemann ist ein körperlich unmittelbar agierender Dirigent. Er setzt eher auf Überwältigung durch Energie als intellektuelle Begründung. So gibt er dem Orchester aus Studenten der Eisler-Hochschule auch keine Einführung in das Werk, es geht gleich los. Aus dem engagierten, aber wenig geformten Klang wird langsam der Wille des Dirigenten herausgeschält. Die Partitur ist da nur Anhaltspunkt, Punkte? "Machen Sie Striche drüber!" Überhaupt wird satter, ununterbrochener Klang mit höchster Energie bis in das letzte Achtel gefordert. "Brahms am Kamin im November" wird da angesagt, starke Temposchwankungen seien zwar nicht modern, aber schön.

Das mag man alles furchtbar finden, bewundernswert ist aber doch, dass Thielemann seinen Studenten erst einmal beibringt, wie man ein langsames Tempo "aushält" ohne zu rennen, wie man verschiedene Fortissimi anlegt. Manchmal geraten Proportionen aus dem Blickfeld, aber gleich hat Thielemann seine jungen Musiker wieder "am Wickel". Und am Schluss klingt das alles ganz kohärent und aus einem Guss und gar nicht mehr so extrem wie bei den Einzelstellen. Das nennt man Charisma.

Clemens Goldberg_rbb Kulturradio_11.11.2004