Pressestimmen Dezember 2002

Überspielter Schmerz

Ihr Beruf macht sie krank: Geiger und Klavierspieler leiden oft unter Krämpfen und Skeletterkrankungen. Das Institut für Musikergesundheit hilft



Wenn um Natalie Mocke herum die 7. Symphonie von Anton Bruckner braust, letzter Satz Finale, dann denkt die Bratscherin bis zum Schluss: Bloß das Handgelenk locker lassen, die Muskeln entspannen. Das Publikum genießt verzückt, Natalie Mocke und ihre Kollegen leisten körperliche Schwerstarbeit fürs berauschende Fortissimo. Die Bratschen haben rund 60 Takte Tremolo zu spielen, fast ohne Pause. Das bedeutet: mehrere Minuten den Bogen so schnell und oft so laut wie möglich über die Saite flitzen lassen. Wer da nicht aufpasst, bekommt einen Krampf im rechten Arm. Also um jeden Preis haushalten mit der Kraft. "Wenn 30, 40 Streicher auf einmal spielen", sagt die Berufsmusikerin heute, "dann muss ich nicht drauflossägen."

Diese Gelassenheit hat sie sich schmerzhaft erarbeitet. Als das Bratschespielen zum ersten Mal wehtat in der Schulter und im verspannten Nacken, da war die Musikerin 16 Jahre alt. Doch schon damals gab es keinen Weg zurück: "Ich wollte auf jeden Fall Bratsche studieren." Heute, zwanzig Jahre und Tausende Stunden am Instrument später, spielt Natalie Mocke in einem städtischen Orchester und versucht, den Schmerz in Schach zu halten. Mit Kollegen hat sie selten über die Beschwerden gesprochen: "Sonst ist schnell der Stempel drauf: nicht belastbar, unzuverlässig." Ihren richtigen Namen will die Bratscherin deshalb lieber nicht in der Zeitung wissen.

Dabei macht der Beruf viele Musiker krank: Beim Blasen von Trompete, Klarinette oder Tuba entsteht im Brustkorb ein hoher Luftdruck, der Herz und Kreislauf belastet. Ehrgeizige Pianisten trifft schon mal der "Musikerkrampf" - fokale Dystonie, bei der einzelne Finger am Klavier streiken. Der Bach-Interpret Glenn Gould soll daran gelitten haben. Streichern schließlich, vor allem Bratschern, können Skeletterkrankungen oder Verspannungen das Leben schwer machen.

Die typische Musikerlaufbahn begünstigt den Schmerz: Zu spielen beginnen die meisten schon als Kind, damit sie später überhaupt eine Chance haben auf dem überfüllten Markt. Von Anfang an stundenlanges Üben - im Unterricht zählt die Leistung und nicht die Prävention späterer Beschwerden. Bis der Schmerz sich nicht mehr leugnen lässt. Die Geplagten gehen dann zum Orthopäden, zum Internisten oder Allgemeinmediziner - eine Odyssee meist ohne Heilungserfolg. "Da werden nur die Symptome kuriert und nicht die Ursachen", kritisiert Helmut Möller.

Der Allgemeinarzt, Psychoanalytiker und Cellist hat deshalb das Kurt-Singer-Institut für Musikergesundheit in Berlin ins Leben gerufen, das mit dem laufenden Wintersemester seinen Betrieb aufgenommen hat. Getragen wird die Einrichtung von der Hochschule für Musik Hanns Eisler und der Universität der Künste. Benannt wurde sie nach dem Berliner Arzt Kurt Singer, dem Chorleiter und späteren Vorsitzenden des jüdischen Kulturbundes in Berlin, der 1926 sein Buch "Berufskrankheiten der Musiker" veröffentlichte. Unter Möllers Leitung kümmern sich am Institut Physiotherapeuten, Entspannungslehrer und Spezialisten für die Stimme sowie Sportphysiologen um kranke Künstler und angehende Profis.
Zu tun gibt es genug: Allein in Berlin arbeiten rund 4000 Berufsmusiker, bundesweit etwa 11500, dazu kommen 25500 Musikstudenten. Bis zu 80 Prozent der Orchestermusiker, das haben verschiedene Untersuchungen ergeben, leiden an berufsbedingten Beschwerden. Eine Zahl, die Möller als "sehr problematisch" bezeichnet: "Damit stigmatisiert man eine ganze Berufsgruppe."

So anstrengend wie Leistungssport

Eine Berufsgruppe, die medizinisch unterversorgt ist: Nur wenige Ärzte haben Erfahrung mit typischen Musikerleiden. Und herkömmliche Methoden helfen kaum. Ein Hornist mit chronischem Herpes? Die Bläschen verschwinden oft nur, wenn der Mann beim Spielen den Druck auf die Lippen reduziert. Ein Geiger, wochenlang krankgeschrieben wegen Sehnenscheidenentzündung? Dessen Finger werden steif, die Intonation wird schlechter.
Der Körper eines Berufsmusikers, da sind sich Fachleute einig, leistet genauso viel wie der eines Profisportlers. Bis zu dreißig Stunden wöchentlich spielt ein Orchestermusiker in Proben und Konzerten, dazu das Üben zu Hause - jahrzehntelang die gleichen Bewegungsabläufe am Instrument in unnatürlicher Körperhaltung. Doch den bundesweit über zwanzig sportmedizinischen Forschungseinrichtungen steht in der Musikermedizin - neben einigen Honorarprofessoren und Lehrbeauftragten - gerade mal eine ordentliche Professur gegenüber, an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Mindestens eine ordentliche Professur und mehrere hauptamtliche Mitarbeiter - das ist auch das Ziel am Berliner Kurt-Singer-Institut. Doch vorerst arbeiten, weil in Berlin das Geld fehlt, die Lehrbeauftragten dort nur stundenweise, auch der Leiter Helmut Möller.
Ihn interessiert vor allem, woher der Musikerschmerz rührt: "Die kommen mit somatischen Beschwerden, die zurückübersetzt werden müssen." Bis zu anderthalb Stunden dauert die Diagnose: Möller fragt nach den Beschwerden; er will wissen, wie der Patient sie sich selbst erklärt und was schon dagegen getan wurde. Dann muss der kranke Musiker etwas vorspielen auf seinem Instrument. Möller vermutet hinter den Beschwerden oft psychische Konflikte: "Beim ersten Besuch sagt keiner: ,Ich fühle mich überfordert.'" Dabei, so Möller, gehen Musiker "in aller Regel mit Angst auf die Bühne". Und während der Proben schiele der Pultnachbar rüber bei jedem unsauberen Ton. Jeder Kopfschmerz, jedes Unwohlsein mache sich sofort am Instrument bemerkbar. Problematisch für Perfektionisten - die unter Musikern häufig zu finden sind: Fehler korrigieren ist unmöglich am Instrument, also darf es erst gar keine falschen Töne geben.

Der Musikerarzt interessiert sich für das berufliche Umfeld: Welche Aufgaben hat der Patient im Orchester? Wer dirigiert? Wie ist die ökonomische Situation des Hauses? In Berlin etwa lässt der Sparzwang die Konkurrenz wachsen zwischen den großen Orchestern. Das erhöht den Druck unter den Kollegen. Musiker, die nicht funktionieren, fühlen sich bedroht vom reichlich vorhandenen Nachwuchs.
Die Arbeitsbedingungen im Orchestergraben können krank machen: Fast jedes Instrument bringt es auf mehr als 85 Dezibel - wie lauter Verkehrslärm. Trompeten oder Schlagzeug erreichen sogar Spitzenwerte an der Schmerzgrenze. Die Hörzellen aber machen keinen Unterschied zwischen Wagner und einem Flughafen-Rollfeld.
Mögliche Folgen des Krachs im Dienst: Tinnitus oder Schwerhörigkeit bis zur Berufsunfähigkeit. In manchen Orchestern werden mittlerweile Ohrenstöpsel verteilt, die die Frequenzen gleichmäßig abdämpfen sollen.
Zugluft, ergonomisch ungeeignete Stühle und schlechte Beleuchtung gehören ebenfalls häufig zum Orchesteralltag. Es ist außerdem eng im Graben: Die Musiker sitzen im Abstand von etwa einem Meter neben- oder hintereinander. Kein Ausweichen möglich, wenn man den Kollegen nicht riechen kann oder dessen Instrument einem ins Ohr dröhnt.

Entspannen statt anspannen

Stress also im Beruf. Doch der ist normal, sagt Möller. Wichtig fürs Wohlbefinden sei hingegen der Wechsel von Belastung und Entlastung: "Aber der funktioniert bei Musikern schlecht." Weil sie im Unterricht und auf der Bühne gelernt hätten, dass sie nie gut genug sind.
Anspannung kennen die Musiker von klein auf - die Entspannung sollen Musikstudenten am Kurt-Singer-Institut lernen. Prävention durch Alexandertechnik, die Feldenkrais- oder die Jacobson-Methode sowie Autogenes Training stehen auf dem Lehrplan. Die Studenten sollen aber auch ihren Körper und ihre Emotionen besser wahrnehmen: Wie funktionieren meine Muskeln? Welches Gefühl habe ich am Instrument? Wie fühlt sich der angespannte Muskel an, wie der entspannte? Ungewohnte Fragen für jemanden, dessen Ausbildung bis dahin aus Intonation, Ansatz oder Bogentechnik bestand.
Natalie Mocke, die Bratscherin, lässt sich gegen die Schmerzen in Schulter und Nacken mittlerweile massieren, macht Dehnungsübungen und Krankengymnastik. Doch vor allem hat sie seit einem Jahr einen neuen Lehrer. Er war der Erste überhaupt, der ihr gezeigt hat: Mit der richtigen Technik kann man sich schon während des Spiels entspannen. Und nicht erst, wenn sich die Nebenwirkungen des Berufs schmerzhaft bemerkbar machen.

Isabelle Tentrup_Die Zeit_18.12.2002